Ostdeutschland: Was nach den Demos kommen muss

Hunderttausende Menschen füllen seit Wochen republikweit die großen Plätze und Straßen ihrer Städte, um für den Schutz der Demokratie und gegen die AfD zu demonstrieren – und zwar nicht nur in Berlin, München oder Hamburg, sondern auch in den ostdeutschen Mittel- und Kleinstädten: In Grimma, Greiz, in Aschersleben und Altenburg und vielen anderen Orten finden Kundgebungen statt.

Zum ersten Mal seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 und dem damit einhergehenden Anstieg rassistischer Mobilisierung gibt es seit Jahresbeginn offenbar ein Momentum, in dem die Hegemonie der AfD insbesondere in Ostdeutschland infrage gestellt werden könnte.

Das ist in seiner Bedeutung für die ostdeutsche demokratische Kultur nicht hoch genug einzuschätzen. Denn die gut besuchten Kundgebungen und Demonstrationen in Ostdeutschland schmerzen die AfD und ihr rechtsextremes politisches Vorfeld wirklich, anders als jene in den westdeutschen Metropolen. Denn sie stellen den Hegemonieanspruch der Partei in den ostdeutschen Regionen infrage. Und zwar genau in jenen mittelgroßen ostdeutschen Städten, die die AfD aufgrund des dortigen hohen Wählerzuspruchs als ihr politisches Wohnzimmer empfindet und in denen sie die Themen und die Debattenregeln der regionalen Öffentlichkeit bestimmt.

Über Jahre hat sich in einigen dieser Städte ein antidemokratisches Grundrauschen etabliert, welches vorzugsweise montags anschwoll, als jahrelang gegen Geflüchtete, gegen die Coronapolitik und allgemein gegen „die da oben“ demonstriert wurde – wogegen es nur wenig lautstarken Widerstand gab. Und das auch aus einem ganz klaren Grund: Wer sich in einer ostdeutschen Kleinstadt offen gegen die AfD bekennt, riskiert soziale Ächtung, Bedrohung oder gar körperliche Angriffe bis in das private Umfeld hinein. In einer Kleinstadt kann niemand den Akteuren der extremen Rechten einfach aus dem Weg gehen, indem man bestimmte Stadtteile oder Straßen meidet.

Die Normalisierung der AfD in den Regionen Ostdeutschlands geht auf eine über Jahrzehnte gewachsene rechte Hegemonie im Alltag zurück: ob beim Klempner, der Bäckerin oder in der Kita. Deren Quellen, dies gilt es sich in Erinnerung zu rufen, sind die 1990er „Baseballschlägerjahre“, die rechtsextreme Jugendkultur dieser Zeit nach der deutschen Einheit und die Arbeit der NPD in den ostdeutschen Kommunen der 2010er Jahre – auf die von Seiten der Landes- und Bundespolitik regelmäßig nur mit kurzfristigem Aktivismus reagiert wurde, nicht aber mit einer kontinuierlichen Unterstützung und Stärkung demokratischer Kräfte vor Ort.[1]

Hinzu kommt: Der demografische Wandel und die Abwanderung demokratisch engagierter, gut ausgebildeter Menschen, aber auch die Strukturschwäche gesellschaftlicher Großorganisationen wie Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und manchmal sogar Sportverbände haben ein Vakuum bis weit in den vorpolitischen Raum hinein hinterlassen, das heute die extreme Rechte ausfüllt.

Die vormals Leisen werden laut

Die Kundgebungen in Ostdeutschland werden das über Jahre andauernde erfolgreiche politische Agendasetting der AfD nicht beenden – aber erstmals seit 2015 sind nun in der Öffentlichkeit andere Stimmen zu hören als jene rechter Wutbürger, denen konservative Kommunal- und Landespolitiker ihr Ohr viel zu lange mit dem Argument liehen, es handle sich um besorgte Bürger, die für eine Mehrheit sprächen.

Damit haben die Demonstrationen der vergangenen Wochen zweifelsohne den Horizont der Debatte über die AfD erheblich erweitert. Bis vor kurzem eilte die Partei von Umfragehoch zu Wahlerfolg zu Diskurserfolg, hetzte in zahllosen Talkshows gegen Migration und Klimaschutz und erfreute sich umfassender Aufmerksamkeit. Über diesen scheinbar unaufhaltsamen Höhenflug gerieten die realen Niederlagen der AfD fast aus dem Blick. Dabei haben die vergangenen Monate gezeigt, dass sich der von der AfD sicher geglaubte Sieg bei Stichwahlen zu Bürgermeister- und Landratsämtern nicht automatisch einstellt.

Zwar konnte ihr Kandidat im thüringischen Saale-Orla-Kreis in der Stichwahl Ende Januar neue Wähler hinzugewinnen, doch ein weiterer symbolträchtiger Erfolg wie im Landkreis Sonneberg im vorigen Jahr blieb der AfD verwehrt. Die Niederlage von Uwe Thrum im Wahlfinale um das Landratsamt im Saale-Orla-Kreis ist zudem eine Niederlage für den Thüringer AfD-Landeschef und rechtsextremen Vordenker Björn Höcke. Dieser hüllt sich seit Monaten in Schweigen darüber, in welchem Thüringer Wahlkreis er ein Direktmandat erringen will.

Da für die Landtagswahl im September dieses Jahres von einem hohen Anteil an Direktmandaten für die AfD ausgegangen werden muss, wäre es fahrlässig, Höcke verließe sich auf den ersten Platz der Landesliste seiner Partei, der womöglich gar nicht zum Zuge kommt, sollte die AfD viele Direktmandate erringen. Nun, da der sicher geglaubte Saale-Orla-Kreis nicht mehr sicher ist, scheidet dieser Wahlkreis für Höcke gegebenenfalls aus.

Umso harscher fielen die Reaktionen der extremen Rechten auf die Demonstrationen aus. In Sachsen und Thüringen riefen rechtsextreme Gruppen zu Gegenkundgebungen auf und schreckten selbst vor Bedrohung und Stalking im Umfeld von demokratisch engagierten Bürgern nicht zurück. Seit Beginn der bundesweiten Proteste denunziert die AfD die Kundgebungen als gelenkte, regierungsfromme Veranstaltungen, die dem Ziel dienten, die einzige Oppositionspartei mundtot zu machen.

Wie einst das letzte propagandistische Aufgebot der DDR-Führung im Herbst 1989 seien sie nichts anderes als Begleitmusik zur unaufhaltsamen Erosion des politischen Systems. Der argumentative Aufwand, den die Partei derzeit betreibt, um die Proteste zu diskreditieren, offenbart, dass die AfD in diesen mehr als nur Störgeräusche im Prozess ihres unaufhaltsamen Aufstiegs sieht. Schließlich zeigen die Kundgebungen, dass es, anders als die AfD gern suggeriert, doch keinen Automatismus ihres fortwährenden Erfolges auf allen Ebenen gibt.

Zugleich ist die Erwartung, die derzeitige Protestwelle werde überzeugte AfD-Wähler von einer Stimmabgabe für die Partei abhalten, eine Illusion. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sie politisch unentschiedene Wähler dazu ermutigt, sich gegen die AfD zu entscheiden. Vor allem aber müssen die Proteste darauf zielen, demokratische Gegenkräfte zu stärken – und zwar über den Moment hinaus.

Gegenwärtig ist der überwältigende Protest eine wichtige Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit. Doch damit er längerfristig wirkt, muss er in andere Formen politischen Engagements überführt werden: ob in eine Bürgerinitiative, eine Kandidatur für die Gemeindevertretung oder auch in Gruppen, die sich um den Erhalt des örtlichen Kinos oder Jugendclubs bemühen oder Geld für das Stadtteilfest im Sommer auftreiben. Jene, die das demokratische Engagement vor Ort tragen, waren nie weg. Aber sie waren angesichts der rechten Dauermobilisierung der vergangenen Jahre unsichtbar geworden. Es kostet viel Kraft, soziokulturelle Refugien der Begegnung, der Kultur, der politischen Bildung aufrechtzuerhalten – und noch viel mehr, sie wieder aufzubauen.

Demokraten sichtbar machen

Was die Menschen brauchen, die sich in Ostdeutschland unter nicht gerade einfachen Bedingungen engagieren, ist jene gesellschaftliche Sichtbarkeit, die in den vergangenen Jahren der AfD und ihrem Umfeld zuteil wurde. Nötig ist eine Aufmerksamkeitsspanne, die auch dann noch anhält, wenn die schnellen Erfolgsmeldungen in der Auseinandersetzung mit der AfD ausbleiben. Die stille – und tatkräftige – Unterstützung aus Berlin oder München für eine demokratische Jugendinitiative in Sachsen bringt langfristig mehr als ein Pressetermin eines Bundespolitikers unter Termindruck.

Schon jetzt ist klar, dass es mit den althergebrachten Formaten politischen Campaignings nicht gelingen wird, die AfD bei den anstehenden Wahlen in diesem Jahr einzudämmen – und dass es um weit mehr als die diesjährigen Wahlen geht. Die Partei hat sich gerade in Ostdeutschland gesellschaftliche Sprechräume erschlossen, die sich andere Parteien nicht mehr zu nutzen in der Lage zeigen. Dies betrifft insbesondere die strategische Kommunikation über Plattformen wie TikTok und Instagram – hier müssen die demokratischen Parteien dringend aktiv werden.[2]

Einiges wäre zudem gewonnen, wenn die ländlichen und kleinstädtischen Regionen Ostdeutschlands diesmal im Wahlkampf ein anderes Bild als jenes böten, welches aus den Vorjahren nur allzu bekannt ist: In ganzen Landkreisen fanden sich fast ausschließlich Plakate der AfD, während sich die demokratischen Parteien allein auf die Großstädte konzentrierten. Und das aus ganz handfesten Gründen: Den Parteien abseits der AfD fehlte es schlicht an Ressourcen und Personal, um in den Wahlkämpfen in der Fläche, wenn schon nicht anwesend, so doch zumindest sichtbar zu sein. Es wäre daher sehr hilfreich, wenn sie in diesem Jahr dafür tatkräftige Unterstützung aus allen Bundesländern bekämen.

Zudem gilt es, die durchaus vorhandenen Niederlagen und Misserfolge der AfD stärker in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken. Denn zumindest ein Teil der Anziehungskraft der AfD beruht auf ihrem auch medial immer wieder reproduzierten Erfolg. Der AfD psychologisch wirksame Niederlagen zu bereiten, ist von enormer Bedeutung, um ihr den Nimbus der Unbesiegbarkeit zu nehmen.

Hinzu kommt: Die Auseinandersetzung mit den Politikangeboten der AfD sollte sich nicht allein auf Faktenchecks beschränken, sondern muss auch auf der emotionalen Ebene geführt werden. Bei den Landtagswahlen 2019 appellierte die AfD mit dem Slogan „Vollende die Wende“ erfolgreich an die kulturelle Erinnerung der Ostdeutschen. Dieser politischen Mobilisierung des weit verbreiteten Krisenbewusstseins der Ostdeutschen von rechts und der damit verbundenen Zustimmungsbereitschaft zu rechtsextremer Politik gilt es offensiv entgegenzutreten – Zahlen und Fakten allein werden dabei nichts ausrichten.

Gelingt all dies nicht, droht die AfD im September durch die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gestaltenden Einfluss auf die Landespolitik zu gewinnen, auch ohne direkte Regierungsbeteiligung. Die AfD erhofft sich von den Wahlen eine Position, aus der heraus sie die Politik der Landesregierungen blockieren kann. Nicht ausgeschlossen ist etwa, dass die AfD in Thüringen eine Sperrminorität erreicht, sodass gegen sie kein Haushalt mehr beschlossen werden kann.

Mit einem erfolgreichen Wahlantritt der „Werteunion“ um den ehemaligen Verfassungsschutzchef Hans Georg Maaßen in Thüringen erwüchse der AfD zudem ein wirkmächtiger Multiplikator rechter Politik, der sie zwar nicht an die Regierung brächte, vielleicht aber dazu führen würde, dass sich eine CDU-geführte Minderheitsregierung von der AfD tolerieren ließe.

Die Brandmauer befestigen

Über den gebannten Blick auf den Ausgang der Landtagswahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern dürfen allerdings die schon im Mai und Juni anstehenden Kommunalwahlen nicht aus dem Blick geraten. Sie werden – so viel lässt sich jetzt schon sagen – die kommunale Verankerung der AfD stärken und der Partei weitere Landrats- und Bürgermeisterämter bescheren. Diese haben vor Ort einen vielfach unterschätzten Einfluss auf das gesellschaftliche Klima in den Kommunen oder Regionen, weil hier über konkrete Fragen des Alltags entschieden wird: ob über den öffentlichen Nahverkehr oder die Baumpflanzaktion im örtlichen Grünstreifen.

Zudem ist die Kommunalpolitik für die AfD auch ein wichtiges Erprobungsfeld für die weitere Professionalisierung der eigenen politischen Arbeit. Wer hier erfolgreich ist, Netzwerke knüpft, sich bekannt zu machen weiß und politische Kompetenzen erwirbt, empfiehlt sich für höhere Aufgaben. Noch fehlt es der AfD, von Ausnahmen abgesehen, an einer fundierten kommunalen Repräsentanz und institutionellen Verankerung. Zugleich aber ist die AfD in Thüringen, Sachsen und Brandenburg schon lange unbestrittene Schirmherrin der Aktivitäten einer diversen außerparlamentarischen extremen Rechten, zu der sie enge Verbindungen unterhält.

Die demokratischen Parteien werden in der Kommunalpolitik einen Umgang mit der AfD finden müssen, der ihrer rechten ideologischen Agenda nicht nachgibt, den Kommunen und Kreisen aber dennoch die pragmatische Handlungsfähigkeit erhält; ein Drahtseilakt, der abgewogene Einzelfallentscheidungen erfordert und Handlungsspielräume klug nutzt, ohne die AfD unabsichtlich zu stärken. Denn die vielbeschworene Brandmauer nach rechts außen bedarf zuallererst in den Kommunen, wo sie schon jetzt oft Makulatur ist, der Sanierung und Befestigung.

Das Wahljahr 2024, so lässt sich ohne Übertreibung sagen, ist für Ostdeutschland das vielleicht wichtigste seit dem demokratischen Aufbruch 1989/90. Ob die AfD ihren bisherigen Erfolg im Osten fortsetzen kann, wird sicher nicht durch die demokratischen Proteste in Metropolen wie Köln, Berlin oder Hamburg entschieden – einen Einfluss haben diese aber sehr wohl. Vor allem aber gilt es, die ostdeutsche Zivilgesellschaft in der Auseinandersetzung mit der AfD zu stärken.

Dabei kann diese konkrete Unterstützung besser gebrauchen als wiederkehrende Beschwörungen der Gefahr eines „blauen Ostens“. Fest steht: Um die AfD zurückzudrängen und die demokratische Kultur im Osten zu verteidigen, braucht es einen langen Atem, die Bündelung aller Kräfte und auch unkonventionelle Strategien und Bündnisse. Andernfalls könnten die Wahlen einen Vorschein darauf geben, was auch im Westen droht: die schleichende Aushöhlung der Demokratie von rechts.


[1] Vgl. u.a. David Begrich, „Spaziergänger“ in Ostdeutschland: Nazis als Bannerträger, in: „Blätter“, 2/2022, S. 9-12; Maximilian Pichl, Von Aufklärung keine Spur: 20 Jahre NSU-Komplex, in: „Blätter“, 1/2018, S. 110-120; Michael Lühmann, Ostdeutsche Lebenslügen, in: „Blätter“, 11/2017, S. 59-64; Annett Mängel, Ganz normal rechts, in: „Blätter“, 11/2006, S. 1295-1298.

[2] Vgl. Johannes Hillje, Social Media: Die digitale Dominanz der AfD brechen!, in: „Blätter“, 2/2024, S. 13-16.