Interview: Viel bewegt, wenig gewonnen
Der Journalist Vincent Bevins hat mithilfe zahlreicher Interviews untersucht, warum die weltweiten Protestbewegungen der 2010er Jahre gescheitert sind
In der Dekade zwischen 2010 und 2020 haben waren so viele Menschen Teil von Massenbewegungen auf den Straßen der Welt wie noch nie zuvor in der Geschichte. Einige dieser Bewegungen hatten die Kraft, Diktatoren zu stürzen und Regierungen aus den Angeln zu heben, nirgends aber haben die Protestierenden unterm Strich gewonnen. Warum das so war und welche Lehren daraus gezogen werden können, ist Thema des Buches »If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution« von Vincent Bevins, der dafür über vier Jahre lang mit mehr als 200 Personen unter anderem aus Chile, China, Brasilien, Ägypten, der Ukraine, der Türkei, Bahrain und Tunesien sprach.
Sie haben die Protestdekade zwischen 2010 und 2020 untersucht und mit über 200 Personen in zwölf Ländern Interviews geführt. Wie haben Sie die Bewegungen ausgewählt, und was waren die wesentlichen Gemeinsamkeiten?
Vincent Bevins: Ich habe Massenbewegungen in den 2010er Jahren untersucht, die groß genug wurden, um Regierungen zu stürzen oder grundlegend zu destabilisieren. Sie alle schufen zumindest das Potenzial für etwas, das über einen Protest hinausging. Inhaltlich lassen sich viele dieser Bewegungen als anti-neoliberal lesen, implizit und explizit als Antwort auf das Versagen der Regierungen nach der Finanzkrise von 2008 und als Antwort auf die Krise der Repräsentation, was bedeutet, dass Demokratien entweder geschwächt oder gar nicht vorhanden waren. Die konkreten Antworten der einzelnen Bewegungen mögen unterschiedlich gewesen sein. Gemeinsam war ihnen jedoch eine bestimmte hegemoniale Form der Mobilisierung: Ein scheinbar spontaner, führungsloser, digital koordinierter und horizontal ausgerichteter Massenprotest im öffentlichen Raum. Dabei kopierten die Aktivist*innen in ihren jeweiligen Ländern häufig etwas, das sie zuvor anderswo gesehen hatten – vor allem bei den Revolutionen in Tunesien und Ägypten.
Warum war diese Form der Mobilisierung so einflussreich geworden?
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts kam es zu einer erheblichen Schwächung der organisierten politischen Kräfte, die bis dahin auf strukturelle Ungerechtigkeiten reagiert hatten. Parteien, Gewerkschaften, Organisationen der Arbeiter*innenklasse und der Zivilgesellschaft – viele von ihnen wurden in der Ära des globalen Neoliberalismus dezimiert, in autoritären Staaten zerschlagen. Damit wurden nicht nur bestimmte Antworten auf Ungerechtigkeiten schwieriger. Noch schwieriger wurde es, sich solche überhaupt vorzustellen. Eine ganze Generation politischer Subjekte war vom Neoliberalismus geprägt aufgewachsen. Ideologisch gewannen parallel dazu einige antiautoritäre und anti-hierarchische Ansätze nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Aufkommen der Antiglobalisierungsbewegung an Einfluss. Nicht zuletzt wurde es in diesen Jahren durch die digitale Kommunikation vergleichsweise einfach, Menschen sehr schnell auf die Straße zu bringen. Während Mobilisierungen durch klassische politische Akteur*innen für die Medien wenig Nachrichtenwert hatten, galten diese digital koordinierten und unvorhersehbaren Mobilisierungen als aufregend und neu. Es waren also materielle und ideologische Faktoren, die diese Form in den 2010er Jahren nicht zur einzigen, aber zur einfachsten Möglichkeit des Protestes machten.
Trotz der großen Mobilisierungen erreichten die meisten Protestbewegungen nicht den gewünschten Erfolg. Viele Aktivist*innen äußern sich in Ihrem Buch selbstkritisch. Was berichten sie?
Die Massenproteste waren mehrfach so erfolgreich, dass tatsächlich revolutionäre Situationen entstanden. In den meisten Fällen waren die Protestbewegungen, die zeitweise nur aus Millionen von Individuen mit unterschiedlichen Vorstellungen bestanden, jedoch nicht in der Lage, diese Situationen zu nutzen und den konterrevolutionären Gegenbewegungen standzuhalten. Als der ersehnte Aufstand kam, sahen die Bewegungen mit Entsetzen, wie die Möglichkeiten, die sie geschaffen hatten, von gut organisierten und zynischen Kräften ausgenutzt wurden – manchmal von reaktionären Elementen, manchmal von nationalen Eliten, manchmal von internationalen imperialistischen Mächten. Wenn man nun ein sehr vereinfachtes Spektrum auf die Befragten anwendet, kann man sagen, dass alle in den letzten Jahren ihre Lehren gezogen haben. Alle, die ihre Meinung änderten, und das waren die meisten, bewegten sich in dieselbe Richtung.
In welche?
Sie entwickelten sich weg von Strukturlosigkeit und hin zu einer eher leninistischen Organisierungstradition – was nicht bedeutet, dass sie alle Leninist*innen geworden sind. Aber keine*r der Aktivist*innen kam mit dem Wunsch nach mehr Spontaneität aus dem Jahrzehnt hervor. Eine Schlussfolgerung war damit auch, dass man nicht alle Werkzeuge, die funktionieren, entsorgen sollte, nur weil sie in der Sowjetunion verwendet wurden.
In der Frühzeit der Sowjetunion spielte die Kommunistische Internationale eine wichtige Rolle bei der Unterstützung und Koordination revolutionärer Bewegungen. Inwiefern äußerten die Interviewten den Bedarf nach einer stärkeren internationalen Organisierung?
Der Kontext in Brasilien ist hier sehr interessant: 2013 organisierte das Movimento Passe Livre, eine Gruppe von Linken und Anarchist*innen, Proteste gegen eine Erhöhung der Busfahrpreise. Es kam zu Polizeigewalt, die – medial vermittelt – zu einer massiven Mobilisierung führte, während das Land von der Arbeiterpartei und Dilma Rousseff regiert wurde. Auf den Straßen herrschte Euphorie, doch die linken Gruppen, die die Proteste initiiert hatten, waren überfordert. Was folgte, war sehr beunruhigend. Rechte Gruppen übernahmen und bestimmten die Dynamik, und einige Jahre später wurde der extrem rechte Jair Bolsonaro Präsident. Das globale Atlas-Netzwerk, oft als die »neoliberale Komintern« bezeichnet, spielte bei diesen Entwicklungen eine wichtige Rolle: Es unterstützte eine Gruppe junger Rechter, die während der Proteste aktiv wurden. Sie erhielten nicht nur finanzielle und organisatorische Hilfe, sondern auch taktische Tipps. So konnten sie sich in der Gemengelage durchsetzen, die durch den unerwarteten Aufstand entstanden war.
Was folgt daraus?
Viele der Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind zu dem Schluss gekommen, dass auch heute eine internationale Koordination notwendig ist. Sie erkannten auch an, dass das Internet neue Möglichkeiten der Solidarität geschaffen hat. Diese Möglichkeiten können sich aber nicht darin erschöpfen, einfach Taktiken aus dem Ausland zu kopieren und bei sich anzuwenden. Es müsse zu einem echten Austausch und Wissenstransfer kommen. Aber das ist leichter gesagt als getan. Auch wenn inzwischen für viele eine international koordinierte Bewegung wünschenswert ist – es ist immer noch unglaublich schwierig, die Akteur*innen zusammenzubringen.