Nach dem Attentat in Hanau: „Wir mussten um die Aufklärung kämpfen“
Said Etris Hashemi hat bei dem rassistischen Anschlag in Hanau 2020 seinen Bruder verloren, er selbst überlebte nur knapp. Seine jetzt erschienene Autobiografie ist ein Manifest für Aufklärung und gegen das Vergessen und eine Anklageschrift gegen Behörden und Politiker. Im Interview spricht der heute 27-Jährige über sein Engagement, die Sorge vor einer starken AfD und warum die stärksten Stimmen die der Betroffenen selbst sind.
Said Etris Hashemi führt ein ganz normales Leben, verbringt Zeit mit seinen Freunden im Hanauer Stadtteil Kesselstadt, plant seine Karriere. Bis ein Rassist und Rechtsextremist am 19. Februar 2020 zehn Menschen ermordet. Sein kleiner Bruder Said Nesar Hashemi verliert mit nur 21 Jahren bei dem Anschlag sein Leben. Said Etris Hashemi selbst überlebt den Anschlag schwer verletzt, trägt bis heute Munitionssplitter in seinem Körper. Als Angehöriger, Überlebender und Aktivist setzt sich der heute 27-Jährige zusammen mit der Hanauer Initiative 19. Februar für die Aufklärung des Anschlags und gegen Rassismus und Rechtsextremismus ein.
Jetzt hat Hashemi gemeinsam mit der Journalistin Nina Sternburg ein Buch geschrieben. „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ ist eine Autobiografie über sein Aufwachsen in einer migrantischen Community in Deutschland, über den rassistischen Anschlag von Hanau und die Zeit danach.
Herr Hashemi, Sie geben in Ihrem Buch einen sehr intimen Einblick in Ihr Leben. Sie schreiben über Ihre Zeit im Krankenhaus nach dem Anschlag, über wiederkehrende Panikattacken. Wie schwer fiel es Ihnen, darüber zu schreiben?
In dem Buch ist es das erste Mal, dass ich mich öffentlich zu diesen Dingen äußere. Ich habe in all den Interviews der letzten Jahre viel über das große Ganze und nur wenig über meine eigenen Emotionen gesprochen. Als ich im Krankenhaus lag, habe ich viel Zeit mit mir selbst verbracht. Die Zeit auf der Intensivstation war für mich die Hölle auf Erden. Danach habe ich vieles verdrängt. Man schiebt alles so lange in eine Schublade im Kopf, bis die irgendwann überfüllt ist. Für das Buch habe ich mich in einer Art und Weise damit auseinandergesetzt, wie ich das vorher nie getan habe. Das war nicht einfach.
War das in gewisser Weise ein Therapieersatz?
Ja, definitiv. Ich habe gemerkt, dass ich meinen Emotionen in diesem Buch viel besser Ausdruck verleihen kann, als wenn ich einem Therapeuten davon erzähle, was ich gerade durchmache. Jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden, was ihm am besten hilft. Ich will mit dem Buch auch zeigen: Es gibt keinen Masterplan, wie man damit umgeht. Jeder macht das anders, und das ist auch in Ordnung.
Vor dem 19. Februar 2020 standen Sie nie in der Öffentlichkeit. Mittlerweile haben Sie im Bundestag und im hessischen Landtag gesprochen und unzählige Interviews gegeben. Wieso haben Sie diesen Schritt in die Öffentlichkeit gewagt?
Ich war vor dem Anschlag nie eine öffentliche Person und wollte das auch nicht sein. Ich bin eher ein introvertierter Mensch. Auch mit dem ganzen Medien-Tamtam in Hanau wollte ich anfangs nichts zu tun haben und keine Interviews geben. Am liebsten hätte ich so weitergelebt wie zuvor – was natürlich nicht ging. Ich bin erst öffentlich aufgetreten, als ich das Gefühl hatte, dass ich das tun muss, damit die Aufklärung des Anschlags vorankommt. Zu Anfang hatte ich großes Vertrauen in die Behörden: Der Generalbundesanwalt hat die Ermittlungen übernommen, Bundespräsident Steinmeier von einer Zäsur gesprochen. Ich dachte mir: Die Probleme werden jetzt angegangen, wir bekommen Aufklärung. Noch im Laufe des Jahres 2020 ist mir aber klar geworden, dass sich nichts verändert, wenn wir uns nicht selbst zu Wort melden.
Sie haben also angefangen, an die Öffentlichkeit zu gehen und Druck auf die Behörden aufzubauen?
Ja, und ich habe schnell festgestellt, dass vor allem Politiker mir tatsächlich zuhören. Das war eine neue Erfahrung für mich: Der Junge von der Straße redet auf einmal mit wichtigen Politikern und die hören ihm zu. Schließlich habe ich angefangen, auch die ersten Interviews zu geben, weil ich gemerkt habe, dass die stärksten Stimmen die der Betroffenen selbst sind.
In der Öffentlichkeit stehen Sie oft nicht allein, sondern gemeinsam mit der Initiative 19. Februar. Welche Rolle hat diese Initiative für Sie gespielt?
Die Initiative hat einen Raum geschaffen, in dem wir Angehörigen und Überlebenden zueinander finden konnten. Das war ein Schicksalstreffen: Keiner hat sich das ausgesucht, aus so einem Grund zusammen an einem Tisch zu sitzen. Aber wir hatten alle denselben Verlust und mussten alle schauen, wie es nach vorne geht. In dieser Situation haben die ehrenamtlichen Aktivistinnen und Aktivisten der Initiative gemeinsam mit den Angehörigen viele klare Forderungen aufgestellt. Das Ganze fiel außerdem in eine Zeit, in der die Corona-Pandemie alle anderen Themen verdrängte. Wir haben es trotzdem geschafft, dass Hanau ein Thema bleibt.
Was war der größte Erfolg der Initiative?
Unser größter Erfolg war es, dass wir eine neue Erinnerungskultur geschaffen haben. Nicht der Täter, sondern die Opfer und ihre Namen stehen im Vordergrund. Wir haben den Hashtag #SayTheirNames zwar nicht erfunden, aber wir haben ihn aufgegriffen und uns dafür starkgemacht, dass die Opfer in den Blick genommen werden. Das war kein einfacher Weg, aber es hat uns gezeigt: Wenn wir zusammenhalten und Druck aufbauen, dann können wir gemeinsam etwas erreichen. Wir haben auch einen langen, aber erfolgreichen Kampf dafür geführt, dass ein Hanau-Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag eingerichtet wurde – auch wenn die Arbeit des Ausschusses unsere Hoffnungen enttäuscht hat. Wir haben zusammen mit Forensic Architecture eine Ausstellung über den Anschlag von Hanau auf die Beine gestellt. Wir haben insgesamt viel für die gesellschaftliche Aufklärung getan. Aber von einer politischen Aufklärung sind wir leider noch weit entfernt.
Sehen Sie die Zäsur, von der Bundespräsident Steinmeier nach dem rassistischen Anschlag gesprochen hat?
Nein, nicht wirklich. Es waren große Worte. Steinmeier sprach davon, dass der Staat in einer Bringschuld ist, die Aufklärung voranzutreiben. Das ist leider nicht passiert. Wir mussten um Aufklärung kämpfen. Wir lernen schon im Kindergarten: Wenn wir etwas falsch gemacht haben, dann müssen wir das reflektieren, um es in Zukunft richtig zu machen. Das ist eigentlich ein einfaches Prinzip, aber die Behörden und die Landesregierung waren dazu nicht in der Lage. Uns geht es nicht darum, jemanden bloßzustellen oder irgendjemandem die Verantwortung zuzuschieben. Aber die Behörden hätten sich nach dem Anschlag die Frage stellen müssen: Welche Fehler haben wir gemacht und was können wir tun, um die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land besser zu schützen? Und sie hätten sich auch mit Rassismus in der Polizei auseinandersetzen müssen. Stattdessen wurde von „exzellenter Arbeit“ gesprochen. Der damalige hessische Innenminister Peter Beuth hat nicht einmal Kontakt zu uns aufgenommen, um uns sein Beileid auszusprechen.
Sie haben sich seit dem Anschlag auch für eine Änderung der staatlichen Entschädigung für Gewaltopfer in Deutschland eingesetzt. In diesem Jahr sind nun neue Regeln in Kraft getreten. Wie zufrieden sind Sie mit der Reform?
Das war mir ein wichtiges Anliegen. Ich habe mir irgendwann gedacht: Du hast jetzt die halbe Politik kennengelernt. Was machst du mit diesen Kontakten? Gleichzeitig habe ich im Austausch mit anderen Opferinitiativen, die zum Teil schon seit den 1980er-Jahren aktiv waren, gemerkt, dass alle die gleichen Probleme haben. Oft geht es um die Existenzsicherung, häufig sind die Opfer rassistischer Gewalt diejenigen, die ihre Familie ernährt haben. Opfer von Gewalt und Terrorismus haben ein Anrecht auf Entschädigung, aber das Opferentschädigungsgesetz war ein bürokratisches Monstrum. Die Hürden waren so hoch, dass viele die Etappen bis zur Entschädigung gar nicht erst begonnen haben. Und der ganze Prozess musste alle zwei Jahre wiederholt werden. Es ist gut, dass das jetzt reformiert wurde. Aber auch das neue Gesetz ist nicht perfekt. Meine Lobbyarbeit wird deshalb weitergehen.
In diesem Jahr werden des EU-Parlament und drei ostdeutsche Landtage gewählt. Die AfD lag in bundesweiten Umfragen zuletzt bei etwa 20 Prozent. Macht Ihnen das Angst?
Das bereitet mir große Sorgen. Und damit bin ich nicht allein. Die AfD versteckt sich gerne unter einem demokratischen Deckmantel. Aber spätestens nach den Correctiv-Recherchen ist doch klar, was das für Leute sind, was die für Fantasien haben und wohin die Politik der AfD führen würde. Das ist gefährlich und ich finde es besorgniserregend, dass diese Partei eine so hohe Zustimmung in der Bevölkerung hat. Das Gedankengut würde durch ein Verbot der AfD nicht verschwinden. Aber es macht einen Unterschied, ob man die Möglichkeit hat, so eine Partei zu wählen, oder nicht. Meiner Meinung nach ist spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen, um ein Parteiverbotsverfahren zu starten.