Covid-19 wird zur Privatsache, Durchseuchung zur Staatsdoktrin – Privatisierung des Schutzes, Sozialisierung der Gefahr
»Die Vulnerablen werden auf der Strecke bleiben«, sagte der US-Immunologe Anthony Fauci mit Blick auf kommende Sars-CoV-2-Infektionswellen. Gemeint war das nicht als Kritik am fahrlässigen Umgang mit der Erkrankung, sondern als Bekräftigung seiner These, dass Covid-19 kein gesamtgesellschaftliches Problem mehr darstelle. Sprudelte aus Fauci irrtümlich die bittere Wahrheit heraus, dass Vulnerable, Langzeitkranke, Alte, Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, also diejenigen, die für den Arbeitsmarkt nicht von großem Interesse sind, keine gesellschaftliche Relevanz besitzen? Solche Grausamkeiten willkommen zu heißen, gilt nicht länger als zynisch, sondern erscheint als womöglich ungewollter Ausdruck vorausschauender Vernunft.
Die Schutzmaßnahmen waren stets auch mit den Bedürfnissen der sogenannten Risikogruppen begründet worden. Selbst wenn diese Kategorie kurzfristig Schutz versprach, bedeutete sie zugleich eine Drohung. Nun wirkt es so, als ob das besonnene offizielle Fallenlassen der Betroffenen durch einen angesehenen Wissenschaftler noch das Beste ist, was ihnen passieren kann – bevor die Mehrheitsbevölkerung an ihnen die Frustration auslässt, die sich durch auferlegte Rücksichtnahme aufgestaut hat.
In einer Realität, in der die Mehrfachdurchseuchung seit einem Jahr beschlossene Sache ist und man sich darum bemüht, die Gräben zu den Leugnern zuzuschütten – während 29 Prozent der Deutschen Politiker für ihre Coronapolitik bestraft sehen wollen –, könnte jeder öffentliche Hinweis auf die Not der Vulnerablen diese zusätzlich gefährden. Fauci nimmt sie gleichsam aus der Schusslinie, indem er sie ins Grab schubst. Die 27,5 Millionen weltweiten Coronatoten, die der Economist schätzt, zeigen: Der den in Risikogruppen Einsortierten versprochene Schutz konnte nie gewährleistet werden. Die Übrigen können die Angst vor der Gefahr, die Covid-19 auch für sie objektiv noch darstellen kann, nun immerhin als Gleichgültigkeit gegenüber den Vulnerablen ausagieren.
Den Wahnsinn des herrschenden Zustands – ob man ihn nun als »Mehrfachdurchseuchung«, »Total Covid«, oder »Covid-Hegemonie« bezeichnet – scheinen auch Linke nicht mehr als solchen erkennen zu können. Sozialdarwinismus ist in einem Ausmaß wie seit langem nicht mehr Wirklichkeit geworden, was aber auch seinen Rückzug als artikulierte Ideologie bedeutet. Zu erklären, warum der Umstand scheußlich ist, dass Kränkere, Ältere und in dieser Gesellschaft Schwächere noch früher als gewohnt sterben, reicht nicht mehr. Erklärungsbedürftig ist auch, warum viele in der Praxis nichts gegen diesen Umstand haben.
Kein Ende in Sicht
Ist die Pandemie nun beendet oder nicht? Allein dass sie seit zwei Jahren von allerlei unzuständigen Stellen permanent und wiederholt für beendet erklärt wird, legt ihr Fortdauern nahe. Anfang Oktober sorgte ein Interview mit dem Virologen Christian Drosten in der Zeit, in dem er die Pandemie für überstanden erklärte, wieder für allgemeine Beruhigung. Zudem sorgt er für Verwirrung: Drosten erkennt keine Notwendigkeit mehr, Coronatests »für die Allgemeinbevölkerung« zu bezahlen oder verpflichtend aufzuerlegen, doch allerorten wird empfohlen, die Impfentscheidung vom zeitlichen Abstand zur letzten bestätigten Infektion abhängig zu machen.
Das Pandemieende offiziell erklären könnte die UN-Weltgesundheitsorganisation (WHO), die dies allerdings nicht tut, sondern weiter zu Schutzmaßnahmen rät und nur den »internationalen Gesundheitsnotstand« für überwunden befindet. Letzteres könnte man so übersetzen, dass von Covid-19 keine Gefahr mehr für die Wirtschaftsabläufe ausgeht und die Gesundheitssysteme nicht akut vor dem Kollaps stehen. Die langsame Verschlechterung der Gesundheitsversorgung, das Schließen ganzer Abteilungen in den Krankenhäusern oder der Pflegenotstand fallen freilich nicht in diese Kategorie.
An der durch Sars-CoV-2 verursachten akuten Erkrankung sterben nach wie vor viele Menschen. Bis Anfang November waren es in den USA zwei Monate lang bis zu 1 400 Menschen pro Woche, mittlerweile werden die Zahlen nur noch sporadisch erfasst. In Australien war 2022 Covid-19 die dritthäufigste Todesursache. In China starben Studien zufolge innerhalb der ersten zwei Monate nach Beendigung der strengen Präventionsmaßnahmen bis zu 1,9 Millionen Menschen daran. Nach wie vor werden viele, die wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt werden, danach nicht mehr ganz gesund. Von Hospitalisierung und Tod überproportional betroffen sind Menschen, die zu einer Risikogruppe gehören, unter ihnen Kinder mit schweren Vorerkrankungen oder mit Behinderungen. Sie sterben vermeidbare, zu frühe Tode.
Thomas Ebermann schrieb 2021 in seinem Buch »Störung im Betriebsablauf. Systemirrelevante Betrachtungen zur Pandemie«: »(Die Staatspolitik) wird – mutmaßlich – Momente von Skrupeln, Mitleid und erst recht der Solidarität mit den ›Risikogruppen‹ tilgen. Die Gesellschaft wird sich durch die akzeptierte Gleichzeitigkeit von Lockerungen und Übersterblichkeit brutalisieren.« Die prophezeite Brutalisierung trat genau so ein, aber als eine schleichende, mit menschlichem Antlitz: In den Altenheimen und Onkologie-Stationen kann man wieder überall in freundliche Gesichter blicken. Krankenhäuser haben sich nach Aufhebung aller Schutzmaßnahmen zu Infektionsherden entwickelt. In einem Kommentar im Guardian schrieb George Monbiot jüngst: »Für manche Menschen kann es inzwischen gefährlicher sein, ins Krankenhaus zu gehen, als unbehandelt zu Hause zu bleiben.«
Wirtschaft zuerst
All das ist noch dazu eingebettet in eine pandemische soziale Spaltung. In ärmsten Regionen in Deutschland ist dem Robert-Koch-Institut zufolge die Sterblichkeit an Covid-19 50 bis 70 Prozent höher als in den wohlhabenden Gegenden. In den USA stehen etwa ein Drittel der Corona-Tode mit fehlender Krankenversicherung in Zusammenhang. Einige Wissenschaftler und Politiker vertraten schon zu Beginn der Pandemie die Auffassung, dass solche Opfer erwünscht sind, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Beispielsweise fragten Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer oder der damalige britische Premierminister Boris Johnson seinerzeit, wieso für ohnehin bald sterbende Menschen die Wirtschaft zerstört werden sollte.
Insofern in dieser Vorstellung die Gesundheit zumindest der Mehrheitsgesellschaft angeblich eine große Rolle spielt, könnte man hier von Eugenik sprechen, wie Teile der US-amerikanischen Anthropologie oder auch der Rechtswissenschaften es durchaus tun. Doch trifft es auch noch auf die heutige Situation zu, in der die Vorstellung einer Herdenimmunität gegen Covid-19 zwar als Ideologie entlarvt wird, das zu frühe Sterben der Vulnerablen aber andauernde Realität bleibt? Der eugenische Plan wurde zwar verworfen, doch später, mit dem Wegfall der Schutzmaßnahmen, unausgesprochen umgesetzt. Somit haben wir es mit einer impliziten Eugenik, einer Eugenik der Praxis zu tun.
Der Schriftsteller Jacob Scheier erklärte 2022 im kanadischen Online-Magazin Rabble.ca die Unterschiede zwischen der eugenischen Situation zu Beginn der Pandemie und jener heute: »Regierungen auf der ganzen Welt geben nicht einmal vor, einen Ausweg aus der Pandemie zu haben, sondern erklären die Kapitulation zum Sieg und sagen der Öffentlichkeit, es sei einfach an der Zeit, ›zu lernen, mit Covid zu leben‹ – anders als bei der ›Herdenimmunität‹ dient das Opfern älterer Menschen und Behinderten keinem bestimmten Zweck, sondern ist nur Teil einer ›normalen‹ Lebensweise, die wir unkritisch zu akzeptieren lernen werden.« Die Herdenimmunität ist als Wahngebäude erkenntlich, und so kann von den Opfern, die nicht einmal mehr Opfer sind, geschwiegen werden.
Durch die Unmöglichkeit, die kapitalistische Mehrwertproduktion einzuschränken, wurde von Anfang an eine effektive Eindämmung der Seuche verhindert. Dieser Umstand verlangte nach einer Ideologie, die die Durchseuchung unter eine Art zivilisiertes Paradigma setzte. Doch die Ideologie verließ ihre materielle Basis und verselbständigte sich:
Während Ökonomen vorrechnen, dass strengerer Gesundheitsschutz selbst »die Wirtschaft« entlasten würde, werden Vorschläge, Steuergeld für die Installation von Luftfiltern zu verwenden oder eine partielle Maskenpflicht einzuführen, für Staatsterror gehalten.
Dass sich diese Eugenik der Praxis so rasch durchgesetzt hat, sie aber auch nicht begründet wird – womit einer möglichen Kritik an ihr vorgebeugt wird – bedeutet einen Paradigmenwechsel in der Vorstellung von öffentlicher Gesundheit. Jene Eugenik ist Teil einer Politik, die auch die Gesundheit aller Fitten und Starken zu verschlechtern hilft. Niemand kann vorhersagen, wie viel persönliche Gesundheit einem nach der zehnten Infektion mit einer Multisystem- und Gefäßerkrankung noch zur Verfügung stehen wird.
Ein weiterer Paradigmenwechsel liegt nun nicht darin, dass plötzlich nicht mehr das Wohlbefinden des Einzelnen im Zentrum von Gesundheitspolitik stünde. Liegt doch der Ursprung aller Sozialpolitik und Sozialmedizin auch in der Erkenntnis, dass durch Krankheit und furchtbare Lebensbedingungen gezeichnete Menschen in Produktion und Krieg weniger nützlich sind. Er liegt darin, das Interesse an der größtmöglichen persönlich empfundenen Gesundheit nicht einmal mehr in den Mittelpunkt der politischen Rhetorik stellen zu müssen. Schon die notorische Entwarnung, die Intensivstationen seien nicht überfüllt, bedeutete eine Normalisierung der Abstraktion vom einzelnen Leid.
Die inzwischen übliche Form der Pandemienachbetrachtung überprüft die Notwendigkeit der bis 2022 bestehenden Maßnahmen nicht im Hinblick darauf, wie der einzelne Beschäftigte, sondern wie die Volkswirtschaft mit noch weniger Schäden diese Zeit hätte überstehen können. Aus dieser Sicht hätte man sich die Maskenpflicht oder die eine oder andere Schulschließung sparen können. Das läuft auf eine Empfehlung an den Staat hinaus, er hätte problemlos noch mehr Menschen sterben lassen können.
Andauernde Aktualität der Übersterblichkeit
Und das Thema ist weiterhin aktuell, wie Zahlen aus Großbritannien zeigen: Verglichen mit den ersten 34 Wochen 2019 starben im gleichen Zeitraum 2023 beinahe 20 Prozent mehr Menschen in der Altersgruppe der 15- bis 44jährigen. Damit ist 2023 das tödlichste Pandemiejahr für eher junge Briten. Es ist zu befürchten, dass diese Übersterblichkeit mit den möglichen Folgeschäden von Covid-19 in Verbindung steht. Das erhöhte Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte durch geschädigte Blutgefäße, für die Neuentwicklung von Autoimmunkrankheiten und für Krebserkrankungen dürfte allgemein bekannt sein. Sars-CoV-2 kann alle Organe des menschlichen Körpers infizieren und beeinträchtigen, einschließlich des Gehirns.
Doch auch die nicht direkt tödlichen Folgeerkrankungen sind für betroffene Menschen beschwerlich. Im Fachmagazin Nature hieß es im Juli, dass Long Covid eine »unermessliche« gesellschaftliche Last bedeute. Die Zahl der Briten, die eine Behinderung aufweisen, ist seit Pandemiebeginn um 1,5 Millionen gestiegen.
Das Risiko, wegen Covid-19 hospitalisiert zu werden oder zu sterben, könnte sich mit jeder weiteren Infektion erhöhen, wie Studien nahelegen. Covid-19 lässt Arterien altern, führt zu einem höheren Diabetes-Risiko bei Kindern, zu einem höheren Alzheimer-Risiko bei Erwachsenen, kann Blutgerinnsel verursachen, lässt Gehirnzellen verschmelzen, kann die Gehirne von Kindern anschwellen lassen oder den Blutfluss im Gehirn verlangsamen.
Mittlerweile gilt als gesichert, dass Covid-19 insgesamt die Kindergesundheit schmälert. Immer noch werden die wenigen Wochen ohne Schulbesuch als Ursache für viele schlechte Entwicklungen dargestellt, obwohl die Suizidgefahr bei Kindern während der Lockdowns sank. In Finnland verdoppelte sich die Gesamtzahl aller Krankheitsdiagnosen bei Ein- bis Sechsjährigen seit dem Beginn der Pandemie, bei den unter Einjährigen haben Anämien, Störungen des Immunsystems, Erkrankungen des Verdauungssystems, angeborene Fehlbildungen, Deformationen und Chromosomenanomalien um knapp 90 Prozent zugenommen.
Wir befinden uns im dritten Jahr der Durchseuchung, und schon jetzt sind die Folgen von Übersterblichkeit, sinkender Lebenserwartung, Verschlechterung der Gesundheit von Kindern sichtbar. Das zu frühe Sterben von Kranken und Alten ließe sich beim gegenwärtigen Stand der Verrohung wohl noch als neue Normalität akzeptieren. Doch die Mehrfachdurchseuchung von Kindern mit einem Virus zu begrüßen, das das Gehirn schädigen kann, verlangt nach Ideologieproduktion auf Hochtouren.
Auch Linke beteiligten sich daran. Rob Wallace, ein US-amerikanischer marxistischer Epidemiologe, hatte durch seine Kenntnis der sich immer weiter ausdehnenden industrialisierten Landwirtschaft eine Zoonose-Pandemie vorhergesagt. Zu Pandemiebeginn waren in der Linken für kurze Zeit fast alle »Wallaceianer«. Doch bald zeigte sich ein Phänomen, dass Wallace selbst antizipiert hatte: Sich mit der materialistischen Analyse der Entstehung von Seuchen beschäftigt zu haben, wurde für manche zum Ausgangspunkt für eine Verharmlosung der Pandemie.
Wallace ließ seinen grundlegenden Einsichten eine Untersuchung der »Seuchenverbreitungsmaßnahmen«, politisches Engagement für die Eindämmung der Infektionen und Aufklärung über die Gefahren der Erkrankung folgen. Er erforscht die systemischen Ursachen von Krankheiten und beteiligt sich nicht daran, vorzurechnen, wie viele schwer Erkrankte und Verstorbene für eine Gesellschaft erträglich seien.
Aber Wallace konnte nicht verhindern, dass manche seiner Adepten nur zur Analyse der Seuchenproduktion zurückwollten – ganz so, als ob es einfacher wäre, die Pandemie rückwirkend durch einen kommunistischen Eingriff in die invasive, industrialisierte Landwirtschaft zu verhindern, als die Folgen des Ausbruchs zu lindern. Es entstand eine ideologische Linie, an deren Ende die vermeintliche Einsicht steht, dass der Kapitalismus nicht nur die Seuche verursacht habe, sondern nun auch noch mit technokratischen »Panikreaktionen« in Form von »unwirksamen« Lockdowns die Bevölkerung gängele.
Mehr Maßnahmen, mehr Verschwörungstheorien
Die allgemeine Zustimmung zur Durchseuchung wurde von einem Anstieg des Antisemitismus und des mit diesem verwandten Verschwörungsglaubens begleitet. Manchmal wurde argumentiert, dass der Hang zu Verschwörungstheorien aus der Überforderung durch das Wirrwarr der Maßnahmen und der Abwehr komplexerer Erklärungen resultiert. Die komplexe Erklärung lautete, dass ein nuanciertes Abwägen zwischen Schutz der Wirtschaftsordnung und Schutz des Menschenmaterials eine Inkonsistenz der Maßnahmen bedinge. Dabei geht unter, dass mit der Wahnoption auf die instrumentelle Wahnvernunft des pandemischen Kapitalismus reagiert wird. So werden Antisemitismus und Verschwörungsglaube zur vermeintlichen Selbstermächtigung gegenüber staatlichem gaslighting.
Wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, hat das in ein psychotisches Setting eingezwängte Sein ein Bewusstsein zur Folge, das dessen Träger eher auf den Wahn zurückgreifen lässt als auf die Propagierung eines solidarisch-sozialistischen Seuchenschutzes. Damit ist noch gar nicht der Wahnsinn gemeint, mehr als 20 Millionen Menschen sterben zu lassen, um die weltzerstörende Maschinerie am Laufen zu halten. Der konkrete politische Umgang bestand darin, eindringlich vor der Gefahr des Virus zu warnen, aber auch genug dafür zu tun, dass viele Menschen der Gefahr ausgesetzt bleiben.
Hinzu kam, dass diejenigen, die am besten geschützt werden sollten, weiterhin in die am wenigsten geschützten Situationen gebracht wurden: Ohnehin kränkere Beschäftigte in den Niedriglohnsektoren konnten nicht ins Homeoffice wechseln; Alte blieben in den Heimen, wo erst spät obligatorische Tests eingeführt wurden; Menschen mit Behinderungen wurden in den Institutionen von Pflegekräften versorgt, die sich selbst für ihre Schutzausrüstung einsetzen mussten. »Die Wissenschaft« bot ebenfalls keinen Halt. Sie war quer durch die Medizin, Soziologie oder Psychologie in solche Verharmlosungen involviert, die für eine demokratische Mehrheit akzeptabel waren.
Dank der Impfung und ihrer anfangs grandiosen Wirksamkeit, die ein »Schwamm drüber« trotz der bereits an Covid-19 Verstorbenen zu ermöglichen schien, hätten die verwirrenden Botschaften seitens der Politik der Vergangenheit angehören können. Doch mit der Impfung im Kapitalismus verhält es sich wie mit der Entwicklungshilfe. Märkte, denen zu helfen sich nicht lohnt, werden erst gar nicht abgesteckt. Für die ganze Welt rasch Zugang zur Impfung zu ermöglichen, hätte in Verbindung mit weiteren vorübergehenden Maßnahmen die Pandemie beenden können. Tatsächlich aber wurde mit privatwirtschaftlicher und staatlicher Macht alles daran gesetzt, eine Freigabe der Impfstoffpatente und damit die Versorgung ärmerer Länder zu verhindern.
Hier wird der Spielraum der Politik vorgeführt: Gegen die neoliberalen Sitten zu verstoßen, war selbstverständlich möglich. Eine Aufweichung des Rechts auf Eigentum aber kommt nicht in Frage. Der vielen Menschen verwehrte Zugang zu rechtzeitiger Impfung und die Durchseuchungspolitik in den kapitalistischen Zentren, die ebenfalls vor der Durchimpfung der eigenen Bevölkerung einsetzte, ergänzen einander – mit dem Ergebnis neuer Virusvarianten, die der Immunität immer besser ausweichen können. Das bringt Pharmaunternehmen in die Lage, beständig Impfstoff zu verkaufen, denn die stetige Entwicklung von Impfstoffadaptionen ist eine Notwendigkeit geworden.
Solche Verhältnisse sind böser, als es sich »Querdenker« ausmalen wollen. Zumal sie das Leid der durch diese Politik ungewollt Ungeimpften oder nicht vollständig Geimpften nicht erkennen können. Die Impfung ist – trotz weiterhin guter Wirksamkeit – zu einem Bestandteil des Problems geworden. Schließlich ist sie eingebettet in eine Politik, die eine relative Sicherheit durch Zugang zu den neuesten Adaptionen, Homeoffice oder geschützter Infrastruktur wie Luftfilter bei Politikempfängen für wenige garantiert, aber Variantenunheil und kollabierende Gesundheitssysteme weltweit für die vielen.
Die vaccination only-Propagandisten blicken zu Recht auf die ungeimpften „Nazis“ herab, doch in dieser Selbstzufriedenheit wurde die Eugenik der Praxis unterm Banner der Wissenschaftlichkeit eingeschleust. Sie findet mit dem Sozialdarwinismus der »Querdenker« als Gegenpart ihre perfekte Ergänzung.
Der Mist, vor dem wir nun tatsächlich stehen, ist schließlich ein wunderbarer Dünger für Verschwörungsideologien: Drei Jahre Pandemie brachten eine krassere Vermögensungleichheit als je zuvor mit sich, die Vorgehensweise der Pharmakonzerne eine tatsächlich schlechtere Gesundheit für die Abgehängten, Spaltungen nicht entlang von tatsächlichen Interessenkonflikten, mit dem Ergebnis, dass die Lohnabhängigen weltweit eine Klasse an sich bilden, die kaum weiter davon entfernt sein könnte, eine Klasse für sich zu werden. Das Bedürfnis, für all das eine Verschwörung verantwortlich zu machen, entspringt der Unerträglichkeit, dass es dafür keine Verschwörung, sondern nur das normale Funktionieren des Kapitalismus braucht.
Die beschriebenen medizinischen Fakten sind kein Geheimwissen, und so handeln die, die es sich leisten können, demgemäß. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos Anfang des Jahres galten strenge Schutzmaßnahmen: PCR-Tests für alle Beteiligten, Luftfilter, FFP2-Maskenpflicht für Taxifahrer. In den USA spezialisiert sich das Unternehmen Event Scan auf die Organisation von Covid-sicheren Veranstaltungen für Reiche. Schutzmaßnahmen werden privatisiert.
Frei verfügbare PCR-Tests, Luftfilter, gratis FFP2-Masken für den verpflichtenden Gebrauch in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Bereichen des Gesundheitswesens zu fordern, ist kein revolutionäres Programm. Die relative Sicherheit, die derlei gewährleisten könnte, wäre aber gesamtgesellschaftlich schon viel und bedeutete für manche buchstäblich den Unterschied zwischen Leben und Tod.