Der „Leipziger Kessel“ – Zusammenhalt trotz Ausweglosigkeit
Keine 15 Minuten nach dem Start der Auseinandersetzungen stürmen die Bullen von allen Seiten in die Menge und drücken einen Großteil, unter dem Einsatz von Schlagstöcken in das Gebüsch an der Ostseite des Heinrich-Schütz-Platzes. Schnell gibt es keinen Platz mehr zum Zurückweichen und es wird klar, dass die Cops wohl auch hinter uns stehen müssen. Ketten werden gebildet. Rauch steigt aus den Gebüschen. Es knistert und knackt an allen Ecken und Enden.
Auf dem Alexis-Schuhmann-Platz gegenüber rennen Truppen völlig planlos durch die Menge und versuchen den Platz zu räumen und die Nichtgekesselten auseinanderzutreiben. Zehn Wasserwerfer fahren auf. Oberbullen stapfen hinter ihren Gewaltknechten herum und beschließen nach einiger Zeit die kleinen Kessel zu einem großen zu vereinen. Ein Lautsprecherwagen rollt heran und verkündet, dass alle sich dem „schweren Landfriedensbruch“ schuldig gemacht hätten. „HALT DIE FRESSE“ tönt es zurück.
Zur gleichen Zeit gibt es Auseinandersetzungen mit den Bullen an mehreren Ecken. Einer der Behelmten löst sich aus der Kette und schreitet kampfbereit in die Menge. Als er kurz davor ist, sein Dominanzgehabe nicht nur durch Schubsen und provozierenden Gesten zu demonstrieren, ziehen ihn seine Leute zurück. Wohl wissend, dass gerade noch zu viele Augen auf sie gerichtet sind und für Misshandlungen aller Art, später, im Schutze der Dunkelheit, noch genug Zeit sein wird.
Vereinzelt bekommen Menschen Panikattacken und während Schirme als Sichtschutz aufgespannt werden und die Menge sich rücksichtsvoll umdreht, um Druck aus der Situation zu nehmen, stoßen Bullen in kleinen Gruppen in die Menge und versuchen die Ausnahmesituationen zu filmen. Eine Durchsage verspricht, Essen, Trinken und Toiletten. Gehalten wird nichts davon, überraschen tut das niemanden. Am Ende bleibt es an den Demosanitätern hängen, sich um die Verpflegung zu kümmern und das Gebüsch wird zwangsläufig zum Ort der Notdurft. Über zehn Stunden hängen hier nackte Gesäße über dem Boden und Pissrinnsale fließen wie Wurzeln kreuz und quer aus den Rändern des Gehölzes. Nach ein paar Stunden hängt der Geruch permanent in der Luft. Die Bullen kommentieren das Geschehen als „Gang zur Kloake.“
So zieht es sich Stunde um Stunde. Mit dem Einbruch der Nacht werden Flutscheinwerfer aufgefahren. Diese leuchten so penetrant und hell, dass sich einige bei den Cops über die „Foltermethoden“ beschweren. Diese lachen nur oder packen ihre Taschenlampen aus und leuchten den Menschen als Antwort direkt in ihre Gesichter. Vereinzelt knallen Böller in den Nebenstraßen, und die Menge antwortet geschlossen. Balsam für die beengten Seelen.
Immer wieder machen Berichte über stattfindende Ausschreitungen in Connewitz die Runde und da der Kessel mindestens genauso viele Bullen wie Insassen bindet, fühlt man sich hier nicht ganz nutzlos. Den Sirenen in der Ferne werden Parolen hinterhergeschickt.
Um den Support von der gegenüberliegenden Straßenseite einzuschränken, haben die Schweine zwei Reihen an Wannen auf der Straße aufgefahren und drängen den solidarischen Protest immer weiter zurück. Jeden Ein und Übergriff beantwortet der Kessel lautstark und mit solch einer Inbrunst, wie sie nur selten zu hören ist.
Langsam wird es kälter und die Demosanitäter verteilen Wärmedecken an die Zuteilen nur in Sommerklamotten Ausharrenden. Genug für alle, gibt es nicht. So wird Stunde um Stunde, Rücken an Rücken auf dem niedergetrampelten Gras verbracht. Der Herzschlag und das Zittern der Anderen wird zur gemeinsamen Erfahrung.
Immer wenn gerade etwas Ruhe und Entspannung eingekehrt, ziehen die Bullen ihre Helme und Handschuhe an. Der Kessel wird dadurch gezwungen, immer wieder aufzustehen und Ketten zu bilden, um Angriffe abzuwehren. Ein Mensch fällt aus der Reihe, knallt mit dem Kopf auf den Boden und bleibt regungslos vor den Füßen der Cops liegen. Diese reagieren nicht und schauen nur zu, wie er behandelt wird. Richten auch noch das beißende Licht ihrer Kamera auf den bewusstlosen Körper. Später streift eine Mutter durch den Kessel, auf der Suche nach ihren Kindern. Die Menge ruft die Namen und wenig später sind sie vereint.
Die Krawalle in Connewitz neigen sich dem Ende zu und langsam wird den Bullen klar, dass ihre Strategie, die Teilnehmerzahl an den Ausschreitungen zu begrenzen, nun zum logistischen Alptraum für sie geworden ist. Die Geister die sie riefen, werden sie nun nicht mehr los. Alle gehen lassen können sie nicht. Einfach aus Prinzip. Freiwillig liefert sich auch so gut wie niemand mehr den Maßnahmen aus. Man kann die Ratlosigkeit in ihren Augen sehen. Währenddessen besingen die Festgesetzen das Licht des neuen Tages „…EINES MORGENS IN ALLER FRÜHE, TRAFEN WIR AUF UNSEREN FEIND…“.
Und dieser Feind wird wenig später das bayrische USK sein. Über eine Stunde lang prügeln diese immer wieder mit Gewalt in den Kessel, um gezielt Leute herauszuholen. Nach fast 10h ist kaum mehr körperliche Kraft vorhanden, um diese Attacken abzuwehren. Die letzten Ketten zerbrechen. Schmerzensschreie an allen Rändern. Sanitäterrufe im Minutentakt. Um 05:00 Uhr ist alles vorbei. Der Kessel ist leer, die Fläche eine einzige Müllhalde. Der Rest ist bekannt. Untersuchungshaft. Gesa. Anzeigen. Platzverweise.
Siamo tutti antifascisti.