Verdrängung von Wohnungslosen – Kritik an „defensiver Architektur“ in Leipzig: Rathaus bezieht Stellung, Verbände pochen auf Barrierefreiheit

Die Stadt Leipzig bezieht Stellung zur Kritik einer Sozialarbeiterin an der „Defensiven Architektur“ in der Innenstadt, die vor allem Obdachlose vertreibe. Zumindest die jüngeren Maßnahmen zur Stadtmöblierung seien nicht abwehrend, heißt es. Die das Hinlegen verhindernden Armlehnen seien als Aufstehhilfe für Ältere zwingend erforderlich, betonen Behindertenverbände.

Leipzig. Die so genannte „defensive Architektur“ im Stadtbild bietet Diskussionsstoff – auch in Leipzig. Während eine Sozialarbeiterin sie gegenüber der LVZ als menschenfeindlich einstuft, weil sie unter anderem Obdachlosen das Liegen auf Bänken unmöglich macht, verweist das Rathaus auf jüngere Stadtmöblierung, die nicht abwehrend sei.

„Defensive Architektur“ steht für eine Gestaltung von Gebäuden, Räumen und Objekten, die längere Aufenthalte unattraktiv machen soll. Dazu gehören Sitze aus Metallflächen oder -gittern sowie eine verkürzte Fläche. Armlehnen auf der Mitte von Bänken verhindern eine Liegemöglichkeit. Wohnungslose und obdachlose Menschen, aber auch Drogenabhängige sowie Jugendliche sollen so vertrieben werden, lautet der Vorwurf.

Ansprüche wegen Barrierefreiheit

Das Stadtplanungsamt nimmt dazu Stellung: „Bei Neubauvorhaben setzen wir seit Jahren im öffentlichen Raum mehrheitlich nur noch einen Sitzbanktyp mit Lehne und Auflagen aus Holz ein. Dieser Typ ist nicht defensiv.“ Als Kriterien spielten bei der Auswahl von Bänken die Barrierefreiheit und wirtschaftliche Aspekte wie Unterhaltung und Pflege eine Rolle. „Hinsichtlich der Barrierefreiheit gibt es unterschiedliche Ansprüche an die Ausführung einer Bank, darunter zählen Armlehnen, eine leichte Neigung und eine erhöhte Sitzfläche, die zum Sitzkomfort beitragen.“

Joke Potzeldt von der Bahnhofsmission hatte unter anderem kritisiert, dass die Bänke an der Grimmaischen Straße keine Lehnen haben, leicht abschüssig sind und unterhalb der Sitzfläche keinen Raum zum Abstellen von Taschen oder Rucksäcken bieten. „Das ist auch für Ältere und Menschen mit Behinderung ein Problem.“ Das Planungsamt unterscheidet jedoch zwischen Sitzbank und Sitzgelegenheit: „Die leuchtenden Bänke am Wasserspielplatz oder vor der Moritzbastei sind eher als künstlerisch gestaltete Sitzgelegenheiten anzusehen.“

Bänke wie in den Fahrgastunterständen hingegen wurden laut Amt in Feinabstimmung mit dem Fachausschuss für Stadtentwicklung und Bau und unter Beteiligung von Blinden- und Behindertenverbänden festgelegt. Zu den Kriterien gehörten eine Verlängerung der Sitzfläche um 24 Zentimeter im Vergleich zu älteren Modellen, um mindestens drei Personen das Sitzen zu ermöglichen. Jede Bank bestehe aus Holz und habe auf einer Seite einen Bügel, um mobilitätseingeschränkten Personen das Setzen und Aufstehen zu erleichtern.

Auf diesen Aspekt weist auch die Senioren-Union in Leipzig hin. „Seniorinnen und Senioren sind oft auf Armstützen beim Aufstehen angewiesen. Das trifft auch zum Teil auf mobilitätseingeschränkte Personen zu.“ Vorstand Konrad Riedel wehrt sich dagegen, „dass diese ebenfalls berechtigten Bedürfnisse gegen Schlafplätze von Obdachlosen ausgespielt werden. Auch wir haben den Anspruch, uns in der Öffentlichkeit gleichberechtigt aufhalten und bewegen zu können.“ Gunter Jähnig, Geschäftsführer vom Behindertenverband Leipzig, stellt klar: „Für mobilitätseingeschränkte Menschen ist zwingend erforderlich, dass zum Setzen und Aufstehen Armlehnen zum Festhalten angebracht sind und die Füße unter die Bank gestellt werden können.“

„Kritik betrifft alte Maßnahmen“

Die Kritik der Sozialarbeiterin an der Stadtmöblierung, betont das Planungsamt, „betrifft alte Maßnahmen und nicht die Planungen der letzten Jahre oder laufende Projekte“. Ein Zugeständnis, dass die Einwände nicht unberechtigt sind. Zu den besonders augenfälligen Beispielen gehören die grauen Steinwürfel auf dem Burgplatz, die nicht einmal eine Sitzfläche haben. Aber, so die Stadt: „Bei einem Gesamtblick auf alle öffentlichen Sitzbänke kann man feststellen, dass die Sondersituationen nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen.“


19.01.2023 LVZ

Verdrängung von Obdachlosen – „Defensive Architektur“ in Leipzig: Wie die Stadt Menschen ausgrenzt

„Defensive Architektur“ steht für eine Gestaltung des öffentlichen Raums, um den Aufenthalt von Obdachlosen und Drogensüchtigen zu erschweren oder zu verhindern. Auch in Leipzig gibt es zahlreiche Beispiele dafür. Eine Sozialarbeitende hat eine Arbeit darüber geschrieben. Sie spricht von „Menschenfeindlichkeit“.

Leipzig. Auf den ersten Blick sieht die Camden Bench regelrecht stylisch aus. Schlichtes Design, abgerundete Kanten, weiß und glatt. Doch die Konstruktion dieser Sitzbank zielt nicht auf ästhetische Wirkung. Sie gehört zur „Defensiven Architektur“ und soll vor allem Wohnungslosen längere Aufenthalte unmöglich machen. Auch in Leipzig ist diese bauliche Form der Abweisung präsent. Eine Sozialarbeitende hat darüber eine Hausarbeit geschrieben.

„Diese Bauweise ist nicht defensiv, sondern schlichtweg menschenfeindlich, denn sie grenzt bestimmte Bevölkerungsgruppen aus. Ich finde das schockierend“, sagt Joke Potzeldt, die während ihres Studiums der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTWK) in Leipzig auf das Phänomen aufmerksam wurde. In ihrer Hausarbeit aus dem Jahr 2018 führt die 24-Jährige Beispiele und Hintergründe auf.

„Defensive Architektur“ – im Englischen auch unverhohlen „hostile architecture“, also „feindliche Architektur“, genannt – steht für die Gestaltung von Gebäuden, Räumen und Objekten, die sogenannte marginalisierte Personengruppen aus dem öffentlichen Raum verdrängen soll. Dazu zählen wohnungslose und obdachlose Menschen, aber auch Drogenabhängige sowie Jugendliche. Skateboarden beispielsweise wird durch in den Boden oder auf Flächen befestigte Metallstifte verhindert.

Vor allem die Leipziger City ist voll von Stadtmöblierung, die längere Aufenthalte verhindern soll. Sitze aus Metallflächen am Hallischen Tor, auf einem Betonrondell installiert, ermöglichen nur das aufrechte Sitzen auf kalter Fläche. An Straßenbahnhaltestellen wie am Wilhelm-Leuschner-Platz bestehen die Bänke aus Metallgittern, durch die ungehindert der Wind pfeift. Den Burgplatz verunstalten einzelne hässliche Betonwürfel, auf denen es ungemütlich ist. Armlehnen auf Bänken machen das Hinlegen unmöglich.

Bänke im Stil der Camden Bench stehen am Ende der Grimmaischen Straße nahe dem Augustusplatz. Sie haben keine Lehnen, die Fläche ist leicht abschüssig. „Das Fehlen von Fugen und Ritzen lässt keine Verstecke für Drogen zu, unterhalb der Sitzfläche gibt es keinen Raum zum Abstellen von Taschen oder Rucksäcken“, erläutert Joke Potzeldt, seit 2021 für Sozialarbeit in der Bahnhofsmission angestellt und täglich mit Obdachlosen in Kontakt.

Zur „defensiven Architektur“ gehören auch Maßnahmen wie die am Hauptbahnhof: Auf der Westseite versperren Gitter den überdachten Teil, damit Obdachlose sich dort nicht aufhalten können. Die laute klassische Musik über dem Haupteingang soll nicht nur ein akustischer Ausweis für die Kulturstadt Leipzig sein. „Damit sollen wir vertrieben werden“, sagt Julien, ein Obdachloser. Das nütze allerdings nichts. „Man wird uns nie vom Hauptbahnhof wegbekommen – dafür ist er zu zentral und ein wichtiger Angelpunkt für Wohnungslose.“

Seit Jahren immer wieder abgesperrt ist der Fußgängertunnel in Höhe des Hotels Astoria, der unter dem Ring verläuft. Nur im vergangenen Sommer war er zeitweilig geöffnet. „Damit sich keine Obdachlosen dort niederlassen können“, konstatiert Joke Potzeldt. Die Antwort der Stadtverwaltung auf eine LVZ-Nachfrage zu der geschlossenen Unterführung liest sich derweil so: „Der Tunnel wurde im Rahmen von Reinigungsmaßnahmen am 21. November 2022 gesperrt, insbesondere sollten Graffiti entfernt werden.“ Die Sperrung sei temporär, der Zeitpunkt der Öffnung „jedoch noch nicht klar“. Die Graffiti sind auch zwei Monate nach der Sperrung noch vorhanden.

„Offiziell gehört der öffentliche Raum allen“, sagt Joke Potzeldt. „Schaut man genauer hin, ist das keineswegs so. Soziale Arbeit versucht, Menschen zu integrieren und sie zu unterstützen, einen Zugang zu öffentlichen Räumen und gleichen Chancen zu bekommen. Defensive Architektur konterkariert das.“

Joke Potzeldt plädiert daher für mehr niedrigschwellige Angebote und Aufenthaltsmöglichkeiten. „Verdrängung ist der falsche Weg. Hier geht es um Menschen, die genauso Teil der Stadt sind wie alle anderen.“


Kommentar – Defensive Architektur in Leipzig: Beschämende Art der Verdrängung von Wohnungslosen

Die so genannte „defensive Architektur“ vertreibt Menschen, die man ungern im Straßenbild sieht. Das ist nicht nur obszön und beschämend, sondern auch zu kurz gedacht, findet unser Kommentator: Statt weiter zu verdrängen und zu isolieren, sollten die Ursachen bekämpft werden.

Allein der Begriff zeigt, wie eine Gesellschaft sich zu belügen versucht: „Defensive Architektur“ beschönigt bauliche Maßnahmen, um Menschen zu vertreiben und zu isolieren, die man ungern im Straßenbild sieht. Durch kalte, von Löchern durchzogene Bänke, Absperrungen oder Armlehnen, die das Hinlegen verunmöglichen. Bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2022 lag „Defensive Architektur“ übrigens auf Platz drei.

Diese Art von Stadtmöblierung gibt es schon länger. Natürlich, die Verwendung von Metall oder Stein statt Holz ist witterungsbeständiger, auch widerstandsfähiger gegen Vandalismus. Doch vor allem geht es darum, für Gruppen Jugendlicher oder Obdachloser längere Aufenthalte möglichst unbequem zu machen. Denn deren Anblick sorgt bei vielen für ein Gefühl der Bedrohung oder Belästigung. Also weg damit!

Schwächere bleiben auf der Strecke

Das ist obszön, beschämend und zu kurz gedacht. Mit meist hässlicher „defensiver Architektur“, die ja auch Ältere oder Personen mit Behinderung beeinträchtigt, löst man nicht das Problem, man drängt es nur aus dem Blickfeld. Ein Problem, das diese Gesellschaft selbst verschärft: durch wuchernde Mieten und ein Leistungsprinzip, das Schwächere auf der Strecke lässt. Die Anzahl der Obdachlosen steigt und wird weiter steigen. Noch mehr „defensive Architektur“ schaffen? Nein. Hilfe verstärken und statt der Symptome die Ursachen bekämpfen.


18.11.2022 Mark Daniel

Wohnungslosigkeit – Absperrgitter am Hauptbahnhof Leipzig: Warum Obdachlose nicht unter die Überdachung dürfen

Auf der Westseite des Leipziger Hauptbahnhofs ist der überdachte Teil durch Gitter abgesperrt, damit Obdachlose sich dort nicht aufhalten können. Die Gründe, die Sorgen – und was die Stadt tut.

Sie stehen auf Rollen, dicht an dicht: Links und rechts vom Westeingang des Leipziger Hauptbahnhofs versperren Metallgitter den Zugang zum überdachten Bereich. Der Grund: Obdachlose sollen sich dort nicht aufhalten können. Kritik daran gibt es schon länger, gerade angesichts des aktuell nassen Wetters wird die Maßnahme erneut diskutiert.

Thomas Oehme, Centermanager der Promenaden im Hauptbahnhof, begründet den Schritt: „Weil immer mehr Menschen hier in die Nischen uriniert haben, waren wir dazu gezwungen.“ In der Vergangenheit habe es dort oft unschöne Hinterlassenschaften gegeben, die das Reinigungspersonal stark herausforderten. „Hinzu kommt, dass wichtige technische Anlagen wie Lüftungs- und Wartungsschächte durch den hohen Grad an Verschmutzung in Mitleidenschaft gezogen werden.“ Die stetig wachsende Zahl von Wohnungslosen habe das Problem weiter verschärft.

„Angebots-Ausbau ist wichtiger“

Die Bahnhofsmission bedauert das Fehlen der Möglichkeit, sich an der Westseite vor Regen, Wind und Schnee zu schützen. „Man muss aber auch klar sagen, dass diese Plätze keine geeigneten Orte für obdachlose Menschen sind“, bemerkt Leiterin Sophie Wischnewski. „Viel wichtiger ist aus unserer Sicht der Ausbau von niedrigschwelligen Angeboten zum Beispiel in der Bahnhofsmission und in Tagestreffs für wohnungslose Menschen.“

Julien, ein von der LVZ regelmäßig begleiteter Obdachloser, warnt vor einer einseitigen Sicht: „In den meisten Fällen sind es nicht die Obdachlosen, die da hin pinkeln, sondern Reisende“, sagt er. „Ich und viele andere haben drauf geachtet und die Leute ermahnt, die WCs im Bahnhof zu benutzen. Aber die sind vielen zu teuer.“ Der 32-Jährige betont: „Den meisten Leuten ist nicht klar, dass viele von uns selbst für Ordnung sorgen.“

Stadt wird in der Pflicht gesehen

Julien verlangt von der Deutschen Bahn und der Stadt mehr Kooperation mit obdachlosen Menschen. „Man wird uns nie vom Hauptbahnhof wegbekommen – dafür ist er zu zentral und ein wichtiger Angelpunkt für Wohnungslose“, sagt er. Auch Centermanager Oehme sieht die Kommune in der Pflicht, bessere Bedingungen zu schaffen. „Wir fordern die Einrichtung einer bahnhofsnahen öffentlichen Toilette, die schon seit 2015 versprochen wird.“ Außerdem sei die angekündigte Notschlafstelle dringend nötig.

Nach LVZ-Anfrage teilt das Sozialamt mit, die zusätzliche Notschlafstelle in der Nähe des Bahnhofs solle nach derzeitiger Planung Ende 2024 in Betrieb gehen. Zum Thema eines öffentlichen WCs verweist das Dezernat Umwelt, Klima und Ordnung auf „die intensive Arbeit an der Erstellung des gesamtstädtischen Toilettenkonzeptes. Dies beinhaltet auch die Errichtung einer öffentlichen Anlage im Umfeld des Hauptbahnhofs“.

Zum Konzept gehört zudem die Überlegung der Stadt, weitere Toiletten möglich zu machen. Aber: „Mit einer Entscheidung und Umsetzung wird nicht vor Ende 2024 gerechnet.“ Mindestens zwei Jahre lang also werden die Gitter noch an der Westseite ins Auge fallen.


23.04.2022 LVZ

Carlo Arena im Ruhestand – Sophie Wischnewski leitet die Bahnhofsmission Leipzig – und sieht große Herausforderungen

Seit März hat das Team der Bahnhofsmission Leipzig eine neue Leitung: Sophie Wischnewski übernahm den Posten von Carlo Arena. Lange hätte sich die 31-Jährige die Verantwortung nicht vorstellen können, jetzt übernimmt sie sie gern.

Eine Weile lang war sich Sophie Wischnewski nicht sicher, ob sie am richtigen Ort angelangt war. Die Bahnhofsmission hatte die junge Frau für eine berufliche Laufbahn ursprünglich nicht auf dem Schirm gehabt. Aber kürzlich sagte ein obdachloser Gast ihr einen Satz, der die Entscheidung bestätigte: „Sollte es Gott doch geben, dann war er es, der dich hierhin geholt hat.“

Dass die 31-Jährige nur knapp drei Jahre nach ihrem Jobantritt als Sozialarbeiterin in den Räumen am westlichen Zipfel des Bahnhofareals sogar die Leitung übernehmen würde, war für sie ebenso wenig vorstellbar – aus Ehrfurcht vor der Verantwortung, die bis Ende Februar Carlo Arena 19 Jahre lang trug. Er selbst war es, der die junge Frau als Nachfolgerin ins Spiel brachte. „Ich wusste schnell, dass sie sehr geeignet dafür ist“, sagt der 65-Jährige mit mildem Lächeln.

Neuorientierung wurde nötig

Wischnewski, 1991 im niedersächsischen Damme geboren, zog 2010 zum Studium der Theologie des Christentums nach Leipzig – deutschlandweit der einzige Ort für diesen Studiengang. Dass der nach ihrem Bachelor-Abschluss auch hier abgeschafft wurde, zwang sie zur Neuorientierung. Da war der Job im Sekretariat der Caritas eher als Übergangsphase gedacht, doch „dabei kam ich oft mit Sozialarbeitenden in Kontakt und fand deren Aufgaben sehr spannend“.

Weil das Caritas-Team Engagement und Auftreten der neuen Kollegin schätzte und sie halten wollte, bot ihr Geschäftsführer Tobias Strieder das verbandseigene duale Studium der Sozialen Arbeit an, und sie willigte ein. Am Ende der dreijährigen Berufsakademie mit Praxisanteil in der Migrationsberatung war in diesem Bereich keine Stelle frei, dafür aber in der Bahnhofsmission. Nach reiflicher Überlegung sagte Sophie Wischnewski zu.

Bahnhofsmission an Rundem Tisch gerettet

Der Einstieg auf neuem Terrain lief gut, auch dank der Unterstützung und Erfahrung von Leiter Carlo Arena. Seit Anfang der 90er hat der geborene Römer, der 1991 samt Familie nach Leipzig zog, die wechselvolle Entwicklung der Einrichtung erlebt. 2011 stand die Bahnhofsmission finanziell vor dem Aus und wurde nach einem Runden Tisch mit der Stadt, Caritas und Diakonie gerettet. „In den letzten Jahren ist Gesellschaft und Politik die steigende Bedeutung der Mission als Zufluchtsort bewusster geworden“, sagt er.

Wie ein Seismograph zeichnet die Bahnhofsmission den gesellschaftlichen Kurs nach, und den findet Arena „sehr bedenklich“. Die Zahl der Obdachlosen, der Abgehängten und Hilfesuchenden wächst mit der Verteuerung von Wohnraum, mit dem ersten Zustrom Geflüchteter ab 2015 und dem aktuellen aus der Ukraine. „Wir bekommen das Auseinanderdriften zwischen Reich und Arm deutlich zu spüren.“ Die Pandemie erschwert die Arbeit zusätzlich; auch Sophie Wischnewski bekam das zu spüren. „Vor allem der erste Lockdown war hart“, bemerkt sie, „doch wir haben es trotzdem geschafft, unsere Gäste mit warmen Getränken aus dem Fenster heraus zu versorgen.“

Mit dem Schaffen neuer Stellen für Wischnewski und später für Michelle von Grzymala sowie zuletzt Katharina Potzeldt hat sich das Team in den letzten drei Jahren verjüngt, ist weiblicher geworden – und hat neue Impulse eingebracht. Zum Beispiel das direkte Zugehen auf die Klientel außerhalb der Missions-Räume. „Das war auch für mich spannend“, meint Arena. Für seinen nahenden Abschied und das Rekrutieren einer Nachfolge wandte der Italiener die Salami-Taktik an: Schritt für Schritt übertrug er Aufgaben an Wischnewski.

„Das hat er ziemlich geschickt gemacht“, sagt sie und lacht ihr fröhliches Lachen. „Irgendwann hab’ ich gemerkt: Aus der Nummer kommst du nicht mehr raus.“ Nun hat Wischnewski sie also, die Verantwortung für die Mitarbeitenden, für das Um- und Durchsetzen von Regeln, Beschaffen von Spenden, Kooperation mit anderen Einrichtungen, Zusammenarbeit mit dem Sozialamt. Und siehe da: Es läuft. Die 31-jährige hat sich eingearbeitet und weiß den jeweils benötigten Ton zwischen Empathie und Entschiedenheit zu treffen.

Gelebte Nächstenliebe

In ihrer Haltung unterscheidet sie sich nicht von ihrem Vorgänger: „Es geht hier um gelebte Nächstenliebe für Menschen, die schwierige Schicksale haben“, betont die gläubige Christin. „Dafür bekommen wir immer wieder etwas Großes zurück, nämlich Dankbarkeit und Vertrauen.“ Die Besucherinnen und Besucher wissen, dass ihre Lebensgeschichten an diesem Ort gut aufgehoben sind.

Noch immer dankbar ist die Bahnhofsmission auch für die LVZ-Spendenaktion „Licht im Advent“ im Winter 2019, bei der stolze 88 000 Euro von Leserinnen und Lesern zusammenkamen. Unter anderem wurde so der Umbau eines Kiosks in einen schnell zu erreichenden Anlaufpunkt an Gleis 18 möglich. „Das werden wir nie vergessen“, so die neue Chefin, die nun verstärkt in die Zukunft denkt, denn mit der Gästezahl wächst auch der Bedarf an größeren Räumlichkeiten.

Neues Domizil gesucht

Die Hoffnung gilt dem ehemaligen Fahrradladen nahe am Westeingang des Bahnhofs, in dem momentan Ukrainerinnen und Ukrainer versorgt werden. Lage und Größe wären aus Sicht der Leiterin perfekt. Das ist die fernere Zukunft. Schon in sehr naher Zukunft kann sie sich der Unterstützung eines neuen Ehrenamtlichen sicher sein: Carlo Arena. „Meinen Job habe ich abgegeben und mische mich nicht mehr ein“, erklärt er, „aber die Mission bekomme ich nicht aus meinem Herzen. Deshalb helfe ich weiter.“ Seine Nachfolgerin strahlt. „Dann kann doch nichts mehr schiefgehen.“

Von Mark Daniel


02.04.2022 LVZ

Serie zur Wohnungslosigkeit in Leipzig – Die LVZ begleitet Obdachlose: Wie Julien die Wohnung und eine Perspektive verlor

Wie leben Obdachlose, welche Schicksale verbinden sich mit ihnen? Ein Jahr lang begleitet die LVZ Menschen, die auf der Straße leben. Julien zum Beispiel. Was dem 31-Jährigen passiert ist und was ihn ausmacht, schildert LVZ-Redakteur Mark Daniel. Teil 1: Biografie und Verlust der Wohnung.

Das Holzschild ragt zwischen Gestrüpp und Blättern aus der Erde. „Hier ist Eden“ steht da in weißer Schnörkelschrift. An dieser Stelle hat eine Mitarbeiterin der Wohnungslosenhilfe Leipziger Oase ihren geliebten Hund Eden begraben. Für Obdachlose weist das Schild auch einen Punkt aus, der – gemessen an den wenigen Möglichkeiten – fast einem Garten Eden nahekommt: die Quelle. Hier, in der Nähe des Leipziger Hauptbahnhofs, fließt aus einer Rohröffnung sauberes Wasser, das vom Bahnhof in die Parthe gepumpt wird. Einer der wenigen Orte, an denen man sich waschen kann. „Eiskalt natürlich, erst recht jetzt im Winter“, sagt Julien, „aber da muss man durch.“

Der 31-Jährige kennt die Reviere, die jenseits der Straßen liegen. Wo man am besten schlafen kann und wo man es nicht sollte, weil die Ratten kommen. Wo man seine Ruhe hat und wo man besser einen Bogen schlägt, weil dort „die Drogenhölle“ brennt. Seit November 2020 hat Julien kein Dach mehr über dem Kopf. Es passierte Knall auf Fall: Die eigene Wohnung hatte er gekündigt, um mit der damaligen Freundin zusammenzuziehen. Doch kurz zuvor kam es zum Streit, der eskalierte. „Sie hat mich gewürgt und bedroht, aber später der Polizei erzählt, ich sei ihr an die Gurgel gegangen. Das ist eine Lüge.“ Der Gerichtsprozess dazu steht noch an, vermutlich in diesem Jahr.

Schwierige Vergangenheit

Wegen des Vorfalls hatte er plötzlich keine Bleibe mehr. Die erste Nacht verbrachte er auf einem Spielplatz am Auensee. Seitdem versucht er, eine Wohnung und einen Job zu finden, bislang erfolglos. Juliens Zukunft ist ungewiss, die Vergangenheit schwierig. Knapp zwei Jahre nach seiner Geburt am 16. Juli 1990 in Schkeuditz wurde seiner alkoholkranken Mutter das Sorgerecht wegen Kindeswohlgefährdung entzogen. Der Junge kam in ein Heim in Leipzig-Leutzsch.

Warum er mit fünf Jahren in eine Unterbringung nach Großpösna wechselte, weiß er nicht mehr. Nur noch, dass er sich in dem Alter beide Beine brach, weil er „Superman“ und „Batman“ gesehen hatte, zusammen mit seinem Teddy ebenfalls fliegen wollte und aus dem Fenster sprang. 1997 konnte Julien zu seiner damals trockenen Mutter zurück. Der Versuch scheiterte, weil sie rückfällig wurde und erneut verwahrloste. Also wieder über Jahre in ein Kinderheim, dazwischen ein missglücktes Dreivierteljahr bei einer Pflegefamilie – „ich hab mich einfach nicht wohl gefühlt“.

Als junger Erwachsener lebte Julien in einer Jugend-WG, driftete immer öfter ab, hing mit Kriminellen am S-Bahnhof Gohlis rum, trank viel, trieb Geld durch Androhung von Prügel ein, wurde bei Diebstählen sowie Fahren ohne Führerschein erwischt. Mehrmals kam er in den Knast, insgesamt über vier Jahre lang.

Allerdings gab es auch Phasen, in denen vieles funktionierte. Durch eine Langzeittherapie bekam Julien das Alkoholproblem in den Griff und einen Job bei einer Umzugsfirma. Er arbeitete später auf Montage, zuletzt im Gartenlandschaftsbau – bis zum dramatischen Crash mit seiner Freundin, der ihn nicht nur obdachlos machte, sondern auch haltlos. Und nach dem er eine Paranoia entwickelte.

Konflikte in der Mission

Inzwischen findet sich Julien in seiner neuen Situation zurecht. Dafür musste er viel lernen. Geld, Rucksack, Schlafsack und Handy wurden ihm gestohlen. Mittlerweile weiß er, wem er misstrauen und welchen Ton er anschlagen muss. Erlebt man ihn, wie er an der Bahnhofsmission angesprochen, gegrüßt oder um Rat gefragt wird, wird klar: In der Obdachlosen-Szene hat sich Julien einen Status erarbeitet, er wird respektiert. Auch weil man weiß, dass der junge Mann – wenn es sein muss – in der Lage ist, zu körperlichen Argumenten zu greifen. „Ab und zu gibt’s Konflikte in der Mission. Wenn die zu heftig werden, holt mich schon mal das Personal.“

Die Räume der Caritas hinten an der Westseite gehören zu seinen Ankerpunkten. „Hier gibt’s immer einen Kaffee und das Team ist klasse“, sagt er. Zu seinen Lieblingsorten zählen die, an denen er Weite spürt und Freiheit. Zum Beispiel das oberste Deck des Parkhauses nebenan, wo der Wind weht und der Blick über die Stadt schweifen kann. Als wir uns dort zum Gespräch treffen, hält sich im Treppenhaus ein Mann gerade eine Spritze an die Vene. „Passiert hier regelmäßig“, sagt Julien. Später bemerkt er: „Das sind Sachen, die kriegt ihr normalen Menschen nicht mit.“

Ein Satz, der wertfrei rüberkommt. Von einem Mann, dem man sein als unnormal geltendes Leben nicht ansieht. „Mir ist wichtig, dass ich gepflegt aussehe“, betont er, „ich habe keine Lust, in Schubladen gesteckt zu werden. Die meisten von euch ignorieren uns und denken, wir sind alle mit Drogen vollgepumpt. Aber das ist falsch.“ Er selbst bezeichnet sich als Teilzeitkonsument von diversem Zeug, trinkt Bier, aber nicht im Übermaß.

Raubein mit sozialer Intelligenz

Julien ist ein sehr eigener Typ. Raubein mit sozialer Intelligenz. Macht gelegentlich auf dicke Hose, ist aber gleichzeitig aufmerksam und feinsinnig, freundlich auf die rustikale Art. „Hinter seiner harten Schale ist Julien ein Lieber“, bestätigt Michelle von Grzymalla, Sozialarbeiterin in der Bahnhofsmission.

Momentan lebt der 31-Jährige, der Hartz IV bezieht, mit zwei anderen in einem verlassenen Gebäude in Möckern. Auch wenn der Frühling ein Intermezzo gegeben hat, ist es nachts noch empfindlich kalt. Um trotzdem Innentemperaturen im zweistelligen Bereich zu haben, nutzen die Drei eine Tontopf-Heizung: Mehrere Teelichter werden unter einen umgedrehten Tontopf gestellt und geben so Wärme an den Raum ab. Wasser kochen sie mit einem alten Holzvergaser. „Das funktioniert ganz gut“, sagt Julien, „trotzdem sind wir alle froh, wenn’s mit den Temperaturen endlich dauerhaft aufwärtsgeht.“

Wenn sich Julien bei warmer Sonne an der Quelle waschen kann, dann ist Eden noch ein bisschen mehr wie Eden.

Von Mark Daniel


03.04.2022

Die LVZ begleitet Obdachlose: Warum sich Bea und Matze für ein Leben auf der Straße entschieden haben

Wie leben Obdachlose, welche Schicksale verbinden sich mit ihnen? Ein Jahr lang begleitet die LVZ Menschen, die auf der Straße leben. Bea und Matze zum Beispiel. LVZ-Autorin Regina Katzer hat das Paar kennengelernt. Es spricht über sein ehemals bürgerliches Leben, den bewussten Ausstieg und ihre 20 Jahre alte gemeinsame Tochter.

Die jüngste Bleibe ist eine ehemalige Autowerkstatt in Zentrumsnähe. Zuvor wohnten Bea und Matthias in der Güterstraße hinter dem Leipziger Hauptbahnhof. Ohne fließend Wasser, Strom und Heizung – bis der Eigentümer das Objekt räumen ließ. Auch der neue Ort „ist eigentlich nicht bewohnbar“, sagen die beiden und sprechen über Schimmel, ein undichtes Dach, ausschließlich kaltes Wasser. Doch in ihrer Situation verliert das „Eigentlich“ an Kraft.

Die Besonderheit bei dem Paar: Das Leben auf der Straße ist bewusst gewählt. Matthias traf die Entscheidung schon als 15-Jähriger. „Ich hatte gelernt, mit wenigen Dingen klarzukommen. Einfach ist es natürlich nicht. Es ist ein alltäglicher Kampf, auch Betteln gehört dazu“, sagt er und fügt an: „Aber ich fühle mich frei.“

Auf die schiefe Bahn geraten

Aufgewachsen ist er in der Oberpfalz. „Meine Eltern trennten sich, als ich anderthalb Jahre alt war“, erzählt der 39-Jährige. Die Mutter arbeitete als Altenpflegerin und kümmerte sich allein um den Sohn. Bereits mit zehn Jahren begann Matthias’ „Jugendhilfe-Karriere“. Oft verschwand er, schlief bei Freunden, ließ seine Mutter im Ungewissen. „Plötzlich kümmerten sich Kinderpsychologen und Sozialarbeiter um mich.“ Dabei träumte er nur von einer funktionierenden Familie.

Zwei Jahre lang lebte der Heranwachsende bei seinem Vater in Kassel, mit zwei älteren Stiefbrüdern und der Stiefmutter unter einem Dach. „Das ging alles nach hinten los. Und auch ich habe viele Fehler gemacht“, sinniert er. Ab dem zwölften Lebensjahr lebte Matze in mehreren Jugendheimen, wechselte oft die Schule. „Ich kam aus dem Ghetto und sollte mit Kindern aus einer Eigenheimsiedlung lernen. Das konnte nicht funktionieren.“

Er geriet auf die schiefe Bahn. Ein Gericht verurteilte ihn wegen Diebstahls und Prügelei zu einer sechsmonatigen Maßnahme der Jugendhilfe im Ausland – mit dem Ziel, den Teenager für Verhaltens- und Lebensänderungen zu ertüchtigen. „Ich war ein orientierungsloser Bengel, der in einem spanischen Hippie-Dorf leben lernte“, schildert er. Mit Dreadlocks und Hippie-Latschen kehrte er zurück – und entdeckte mit 15 in Rosenheim die Punkszene. Damals entschied er sich, auf der Straße ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Matthias’ Freundin Beatrice wuchs in einem Nest im Thüringer Wald auf. Mit vier Jahren reiste sie das erste Mal mit ihrer Mutter nach Berlin. „Auf dem Alexanderplatz habe ich die ersten Punks kennengelernt“, erinnert sie sich. Acht Jahre später schnitt sie sich den ersten Irokesenschnitt mit einer Nagelschere. Beas Eltern gingen getrennte Wege, als sie mitten in der Pubertät steckte. Sie sei eine gute Schülerin gewesen, habe beim Wettbewerb „Jugend forscht“ Vorträge gehalten und später in Bayern den Realschulabschluss gemacht. Am Stadtbrunnen von Bayreuth traf sie eines Tages Matthias. „Das war romantisch und auch lustig“, verrät Matze.

2001 kam die gemeinsame Tochter Zora zur Welt. Wegen des Kindes entschieden sie sich für ein Leben in einer Wohnung in der bayrischen Kleinstadt. „Nach der Babypause bin ich auf eine Berufsoberschule gegangen, um das Fachabitur nachzuholen“, berichtet Bea stolz. 2010 zog es die junge Familie nach Leipzig, das sie als „spannende, lebendige Stadt“ schätzen.

Studium abgebrochen

Bea begann an der Pleiße sogar ein Geschichtsstudium – zwei Semester lang. „Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich es absichtlich verkackt habe“, gesteht sie. Zu der Zeit wohnte sie mit Mann und Tochter in einer 56-Quadratmeter-Wohnung in Lindenau. „Wenn es draußen richtig kalt wurde, kamen unsere Freunde von der Straße rein, um sich aufzuwärmen. Oft stapelten sie sich in unserem Wohnzimmer.“

Nach Zoras 16. Geburtstag kehrten Bea und Matze dem normalen Leben, das ihnen zu eng wurde, wieder den Rücken. Sie überließen der Halbwüchsigen die Wohnung und gingen zurück auf die Straße. Die nun 20-jährige Tochter, die seit drei Jahren ebenfalls Mutter ist, lebt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Leipzig-Schönefeld.

Und heute? Bea und Matze schmieden Pläne für die Zukunft, wünschen sich mit den anderen Obdachlosen aus der Wohngemeinschaft eine Bleibe mit Warmwasser und ein bisschen Gemütlichkeit. Eine Mietwohnung kommt in Matzes Träumen dennoch nicht vor. Dafür aber ein funktionierendes Badezimmer, das es in der abgewrackten Werkstatt nicht gibt.

Von Regina Katzer