Die belächelten Reichsbürger aus dem Erzgebirge
In Olbernhau wird dieser Tage gemauert. Nachdem am Morgen des 7. Dezember die Polizei angerückt war, die Immobilien von vier Menschen in der Stadt durchsuchte und zwei davon festnahm, möchte kaum jemand offen über die Beschuldigten sprechen. Stadträte von der CDU bis zur Linken verweigern jede Aussage, dabei waren beide Festgenommenen selbst frühere Stadträte. Die wenigen, die doch sprechen wollen, äußern sich überrascht.
Denn Olbernhau, diese 10.000-Einwohner-Gemeinde im sächsischen Erzgebirge, ist plötzlich Teil einer deutschlandweiten Verschwörung. In ihr wohnen mutmaßliche Mitglieder einer Reichsbürger-Gruppe, die einen Umsturz in der Bundesrepublik herbeiführen wollte. Dem Netzwerk sollen 52 Menschen angehören. Sie planten neben einem Putsch auch Anschläge und hatten bereits ein Schattenkabinett für die künftige Regierung aufgestellt. Am vergangenen Mittwoch durchsuchten Ermittler mehr als 130 Häuser und Wohnungen in ganz Deutschland, 25 Personen wurden festgenommen.
Unter ihnen: die Olbernhauer Christian W., Inhaber eines Landschaftspflegeunternehmens und ehemaliger AfD-Stadtrat, und Frank R., Inhaber einer Autowerkstatt und ehemaliger Stadtrat der CDU. Sie wurden nach Karlsruhe gebracht und einem Ermittlungsrichter vorgeführt.
Im militärischen Führungsstab der Reichsbürger
Die Bundesanwaltschaft ordnet W. dem Kern der Vereinigung zu. Er soll Teil des Führungsstabs eines „militärischen Arms“ gewesen sein, der unter anderem für die Beschaffung von Waffen, die Rekrutierung neuer Mitglieder und für Schießübungen verantwortlich gewesen sei. R. wird vorgeworfen, dass er diesen Arm unterstützte.
Nach Olbernhau war W. vor knapp zehn Jahren gekommen, er zog aus Thüringen in die Stadt an der tschechischen Grenze. Zuvor war der Naturschutz W.s Mission, er engagierte sich als stellvertretender Vorsitzender beim Naturschutzbund (NABU) im Saale-Holzlandkreis, kümmerte sich um Orchideen und bedrohte Tiere, die in Kirchtürmen nisteten. Politisch sei W. früher nie gewesen, sagt ein damaliger Vereinskollege. Höflich und zuvorkommend war er wohl, lediglich als „nicht so charakterfest“ wird er beschrieben.
Im Erzgebirge habe W. eine Firma übernommen, erzählt sein früherer NABU-Kollege. Der heute 44-Jährige sei wegen seiner Frau in die Region gezogen. In Olbernhau übernahm W. 2019 den Vorstand des örtlichen Schützenvereins. Um auch mit halbautomatischen Lang- und Kurzwaffen und unter anderem mit Pump Guns schießen zu können, gründete W. gemeinsam mit einigen Schützenkollegen einen neuen Verein, die Schießleistungsgruppe Erzgebirge.
Widerstand gegen Corona-Politik
2019 ging W. schließlich in die Politik. Er kandidierte sowohl für den Kreistag als auch für den Olbernhauer Stadtrat und errang beide Mandate – für die AfD. In Olbernhau trat W. als einziger Kandidat der Partei an. Die AfD erhielt dennoch 14,9 Prozent, zwei Sitze neben ihm blieben leer. W. betätigte sich in Ausschüssen und war durchaus aktiv – anders als viele seiner Parteikollegen in anderen erzgebirgischen Kommunalparlamenten.
Trotz seiner Bekanntheit habe W. nie viele Leute zusammenbekommen, erzählt ein Olbernhauer, der sich seit vielen Jahren in der Stadtgesellschaft engagiert. Er sei ein „kleines Männl“ und „ein bissel schüchtern“ gewesen, wenn man ihn ansprach. Wilde Forderungen habe er im Stadtrat aufgestellt, sei dort aber nie extrem in Erscheinung getreten. Die Stadt habe nie Probleme mit der extremen Rechten gehabt. Tatsächlich waren es immer andere Orte aus dem Erzgebirge, die in den Schlagzeilen waren. Das sei ein Grund, warum jetzt so viele überrascht seien.
Als die Corona-Pandemie kam, war es Christian W., der zusammen mit einem ortsansässigen Unternehmer die Initiative ergriff und bereits am 4. Mai 2020 die erste „Wanderung“ organisierte, wie er es nannte. Das war der Beginn der unangemeldeten sogenannten Corona-Spaziergänge, bei denen sich besonders im Erzgebirge immer wieder Teilnehmer Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. In Olbernhau soll es dazu nie gekommen sein, W. war eine enge Absprache mit der Polizei besonders wichtig.
Was tun, „wenn es knallt“?
Spricht man heute mit Menschen aus Olbernhau, nennen sie diese Versammlungen wiederholt als Ort der Radikalisierung. Auf einem Video von der ersten Wanderung sind neben einem Landtagsmitglied der AfD auch mehrere Mitglieder von W.s Schützenverein zu sehen. Mittendrin steht ein junger Mann, der ebenfalls von den Durchsuchungen am Mittwoch betroffen gewesen sein soll. Beschuldigt ist er nicht. Warum die Polizei bei ihm war, erfährt man nicht. Ein Gespräch mit der Presse verweigert er.
Christian W. radikalisierte sich weiter. Ein Nachbar erzählt, W. sei wutentbrannt von einer Gartenfeier gegangen, als er erfuhr, dass sein Nachbar mit Geflüchteten Fußball gespielt hatte. Auch Kreistagsabgeordnete berichten, wie W. nach einem Antrag zur Aufnahme von Geflüchteten erbost aufgesprungen sei, um sich vor dem Redner aufzubauen. W.s Nachbar erzählt, er sei Prepper gewesen und habe seinen Keller voller Lebensmittel für den Ernstfall gestapelt. Manchmal sei er für längere Zeit „verschwunden“, sagt der Nachbar. W. war umtriebig und gut bekannt in der Stadt. Wie man sich auf den Umsturz vorbereite, was man tun wolle, „wenn es knallt“, soll eine gängige Frage gewesen sein, die W. den Menschen in der Stadt gestellt habe, erzählt ein junger Olbernhauer.
Wenn es nach W. geht, dann war er allerdings vor allem Opfer, nicht Täter. Im Oktober 2020 legte er sein Stadtratsmandat nieder. Als Grund dafür gab er das „hohe Risiko für seine Gesundheit“ an. Angriffe und Sachbeschädigungen habe es gegeben, am Ende sogar einen Drohanruf. Andere zweifeln das an. An einem Container habe es wohl mal einen „Nazis raus“-Schriftzug gegeben. Dass W. wirklich bedroht wurde, will sich kaum jemand vorstellen: „Es ist schwer nachvollziehbar, dass ausgerechnet ihn jemand bedroht haben soll. Alle haben nur Witze über ihn und seine Theorien gemacht“, sagt der junge Mann aus Olbernhau. Doch wirklich ernst genommen habe ihn niemand.
Das Umfeld gibt sich bedeckt
Thomas Dietz, der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Erzgebirgskreis und Mitglied des Bundestags, behauptet, W. sei „irgendwann falsch abgebogen“. Nach seinem Rückzug aus dem Stadtrat sei er aus der Partei ausgetreten. 2022 verließ er auch den Kreistag. Dort sei er schon länger nicht mehr erschienen. Auch zu Fraktionssitzungen sei er nicht mehr gekommen, „weil man da geimpft sein und mit Maske kommen muss“, so Dietz. Er verurteile die Umsturzplanungen W.s, der sich vom Parteiprogramm der AfD entfernt habe. Andere Aktive aus der erzgebirgischen AfD scheinen das anders zu sehen. Ein Mann, der regelmäßig im Wahlkampf für die Partei im Landkreis unterwegs ist, hält die Vorwürfe für unglaubwürdig. „So plump war nicht einmal die Propaganda in der DDR“, schreibt er unter einem Medienbericht.
Dass niemand W.s krude Theorien für voll nahm, änderte sich kaum, als W.s Haus am Rande der Stadt im April 2022 zum ersten Mal von der Polizei durchsucht wurde. Hintergrund waren Ermittlungen gegen die terroristische Gruppe Vereinte Patrioten, die unter anderem geplant haben soll, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu entführen. Die Polizei fand Waffen in seinem Haus, die nicht korrekt verschlossen waren. W. verlor seine waffenrechtliche Erlaubnis. Die Schützenvereine reagierten, W. wurde von seinen Vorstandsposten abgewählt und verließ die Schützengesellschaft.
Heute geben sich die eng verwobenen Vereine bedeckt. Nach mehrmaligen Anfragen wird behauptet, man habe eine Pressemitteilung verschickt, doch ZEIT ONLINE will man diese nicht zukommen lassen. Der Herr am Telefon wird unwirsch, seinen Namen will er nicht sagen. Die Nähe der Vereinsmitglieder zur AfD ist unübersehbar. Nicht nur zeigen mehrere Mitglieder auf Facebook ihre Sympathien für die Partei – ihr Pressesprecher sitzt für die AfD im Kreistag. Ein anderes Vereinsmitglied ist die bisher einzige nachweisbare Verbindung zwischen Christian W. und dem zweiten Beschuldigten, Frank R.
R. ist in der Stadt vor allem für seine Kfz-Werkstatt bekannt. Im vergangenen Jahr baute er sich ein zweites Standbein als Heilpraktiker auf, zur gleichen Zeit, als die heute beschuldigte Gruppe mit ihren Bestrebungen begonnen haben soll. Auf seinem Facebook-Profil zeigt sich R. als Anhänger von Verschwörungsideologien. Seine Beiträge aus dem vergangenen Jahr sind gespickt von Hass auf die Grünen und Videos von Querdenker-Demonstrationen.
Dennoch zeigen von den wenigen, die bereit sind, über Frank R. zu sprechen, fast alle überrascht über die Vorwürfe. „Ein liebenswerter Mensch“ sei R. gewesen, berichtet ein Nachbar – Negatives könne er nicht über ihn berichten. Ein anderer spricht gar von einem „Doppelleben“. Auch die Mitarbeiter der Autowerkstatt und sogar seine Frau hätten nichts von seiner radikalen Gesinnung gewusst.
Das sehen aber nicht alle so: „Offen rechts“ sollen sowohl W. als auch R. gewesen sein, berichtet eine Verkäuferin aus der Stadt. Immer, wenn die beiden ihren extrem rechten Ansichten freien Lauf ließen, habe man gelacht – zumindest bis jetzt, als die Gesinnung der beiden Olbernhauer in eine Festnahme mündete.