Steht Sachsen vor einer neuen Flüchtlingskrise?
Die Flüchtlingszahlen steigen von Woche zu Woche.
Bislang sind allein über eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Außerdem kommen wieder verstärkt Asylbewerber über die längst wiederbelebte Balkanroute.
Doch immer mehr Kommunen stoßen jetzt an die Grenzen ihrer Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten. Auch der Flüchtlingsgipfel am Dienstag in Berlin brachte kaum Ergebnisse.
Wiederholt sich jetzt die Flüchtlingskrise aus dem Jahr 2015?
Monat für Monat kommen mehr Flüchtlinge an
„In diesem Jahr hat der Freistaat bislang insgesamt 82.780 Geflüchtete aufgenommen – 26.162 Asylbewerber und 56.618 Schutzsuchende aus der Ukraine“, sagt Silvaine Reiche (48), Sprecherin des sächsischen Innenministeriums. „Damit sind die Zahlen fast so hoch wie im Jahr 2015. Doch das Jahr ist noch nicht zu Ende.“
Asylbewerber kommen in die drei Erstaufnahmeeinrichtungen der Landesdirektion Sachsen, werden von dort nach einer Verteilquote den Städten und Landkreisen zugewiesen.
„Derzeit sind die insgesamt 7808 Plätze in unseren Aufnahmeeinrichtungen mit 4646 Asylbewerbern und 119 vorübergehend untergebrachten ukrainischen Geflüchteten belegt“, sagt Jürgen Herrmann, Vize-Sprecher der Landesdirektion Sachsen.
Dresden verhandelt derzeit mit privaten Eigentümern
Doch Monat für Monat kommen mehr Flüchtlinge an – inzwischen wieder verstärkt über die Balkanroute. Sie stammen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch aus Russland, wo sie vor der Mobilmachung im Ukrainekrieg flüchten.
Anders als 2015 stehen die Kommunen heute finanziell mit dem Rücken zur Wand. Manche wissen schon nicht, wie sie die Heizkosten für Kitas, Schulen und Schwimmbäder aufbringen sollen. Inflation und hohe Energiekosten lassen Stadtkämmerer verzweifeln. Zudem ist der Immobilienmarkt angespannt.
So verhandelt die Stadt Dresden gerade mit privaten Eigentümern, richtet städtische und angemietete Objekte (z. B. in der Wendel-Hipler-Straße) für die Aufnahme von Flüchtlingen her. Auch Hotels werden wieder mit einbezogen.
Leipzig baut an weiteren Notunterkünften
Zudem wird die Messe als Notunterkunft ab November vorbereitet – bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Messebetriebs. „Sporthallen sollen aber möglichst für den Schul- und Vereinssport erhalten bleiben“, sagt Sprecherin Anke Hoffmann.
Nahm die Stadt Chemnitz im März noch 6088 Asylbewerber (plus 1500 Ukrainer) auf, waren es im Juni bereits 6117 (plus 3350 Ukrainer) und im September 6261 (plus 4550 Ukrainer). „Die fünf Gemeinschaftsunterkünfte der Stadt sind derzeit zu etwa 70 Prozent ausgelastet“, sagt eine Stadtsprecherin.
„Leipzig beherbergt aktuell rund 16.000 Flüchtlinge, davon rund 11.000 aus der Ukraine. Die Gemeinschaftsunterkünfte der Stadt sind momentan zu rund 95 Prozent belegt“, sagt Stadtsprecher Matthias Hasberg (52).
Schuster will „Zulauf nicht ukrainischer Asylbewerber“ bremsen
Zur Unterbringung wurde unter anderem am Deutschen Platz eine neue Zeltstadt mit 312 Plätzen errichtet, drei weitere Notunterkünfte sind im Aufbau.
Hasberg schätzt: „Bis zum Jahresende werden alle unsere Einrichtungen voll belegt sein.“ Und das, obwohl Leipzig seit der Flüchtlingskrise 2015 kräftig Kapazitäten aufgestockt hat.
Sachsens Innenminister Armin Schuster (61, CDU) empfiehlt: „Um vor allen Dingen den Zuzug ukrainischer Staatsangehöriger weiter uneingeschränkt gewährleisten zu können, muss der Zulauf nicht ukrainischer Asylbewerber deutlich gebremst werden.“
Zudem müsse „aufgrund des enormen Migrationsdrucks die im Berliner Koalitionsvertrag vereinbarte Rückführungsoffensive in sichere Herkunftsländer endlich gestartet werden“.
Verstärkte Kontrollen in den Zügen aus Prag
Viele Flüchtlinge kommen aktuell in Zügen aus Tschechien. „Haben wir im Juli bei Schleierfahndungen über 500 illegal Eingereiste festgestellt, waren es im August schon über 1 200. Im September hat sich die Zahl auf über 2 400 mehr als verdoppelt – so viele wie im gesamten Jahr 2021“, sagt Polizeihauptkommissar Holger Uhlitzsch (42), Sprecher der Bundespolizeiinspektion Dresden.
Jetzt ist Verstärkung im Einsatz: „Unsere knapp 200 Mitarbeiter im operativen Dienst werden seit Ende August von wöchentlich wechselnden Einsatzhundertschaften der Bundesbereitschaftspolizei aus Ratzeburg in Schleswig-Holstein, Berlin und Bad Düben unterstützt.“
90 Prozent der Flüchtlinge seien Syrer, andere kommen aus dem Irak, Iran und Afghanistan oder sind Türken kurdischer Volkszugehörigkeit. „Manche waren monatelang zu Fuß unterwegs.“ Die Flüchtlinge werden in Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht, unbegleitete Minderjährige übernimmt das Jugendamt.
Uhlitzsch: „Meine Kollegen stellen sich eher auf einen Marathon als einen Sprint ein.“ Und das, obwohl die Fallzahlen in den letzten Tagen fielen – offenbar wegen verstärkter Kontrollen an den Grenzen in Österreich und zwischen Tschechien und der Slowakei.
Noch ist unklar, mit wie viel Geld der Bund jetzt hilft
Am Dienstag versprach Bundesinnenministerin Nancy Faeser (52, SPD) auf dem Flüchtlingsgipfel in Berlin, den Ländern 56 Immobilien mit rund 4000 dauerhaften Unterkunftsplätzen zur Verfügung zu stellen. „Das Angebot ist grundsätzlich hilfreich – in der Hoffnung, dass sich dabei auch Gebäude in Sachsen befinden“, kommentiert Innenminister Armin Schuster.
„Die Herausforderung ist jetzt noch größer, als die der Fluchtbewegung des Jahres 2015“, warnt Bert Wendsche (58, parteilos), Präsident des Sächsischen Städte- und Gemeindetages und Oberbürgermeister von Radebeul. Doch finanzielle Zusagen machte Faeser nicht. Wie sich der Bund an den Flüchtlingskosten beteiligen will, soll in einer Bund-Länder-Runde Anfang November geklärt werden.
Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (64, SPD) macht Druck: „Die Lage ist aktuell sehr ernst. Denn in vielen Städten sind alle Aufnahmeeinrichtungen voll belegt und das schon vor dem Winter.“