Sachsens Verfassungsschutz-Chef: Proteste sind Hilferufe der Menschen auf der Straße

Energiepreis-Proteste, Russlandfreundlichkeit, Demokratieferne: Sachsens Verfassungsschutz-Chef Dirk-Martin Christian gibt sich im LVZ-Interview ungewohnt politisch – und er zeigt auch Verständnis für die „Spaziergänger“. Seine Forderung unter anderem an Parteien und Kirchen lautet: Kümmert euch endlich.

Sachsens Verfassungsschutz-Chef Dirk-Martin Christian warnt vor Vorverurteilungen von „Spaziergängern“ – und fordert, dass die demokratischen Kräfte sich endlich um die Menschen kümmern, die sich sorgen. Im LVZ-Interview spricht Christian auch von einem russischen Propagandakrieg, der mit Hilfe der rechtsextremen Freien Sachsen geführt wird, und einer mangelnden demokratischen Festigkeit in Ostdeutschland.

Herr Christian, aktuell gehen immer mehr Menschen auf die Straße, die vor allem den Freien Sachsen folgen, die von Ihnen als rechtsextremistisch eingestuft werden. Werden wir den Wut-Herbst erleben, wie er angekündigt wird?

Die Menschen protestieren, weil sie einen begründeten Anlass haben: Sie sorgen sich, wovon sie die Miete, die Energierechnung und die Lebensmittel bezahlen sollen. Das sind existenzielle Fragen. Auf der Straße werden diese Ängste jetzt verstärkt artikuliert – leider mithilfe von Rechtsextremisten. Wenn Menschen mit den Freien Sachsen laufen, sollte man sie dafür nicht gleich verurteilen, denn gleichzeitig unterbreiten die demokratischen Kräfte in unserer Gesellschaft diesen Menschen momentan keine politische Plattform. Rechtsextremisten nutzen dieses Vakuum für sich aus – im Winter vielleicht sogar mit Suppenküchen, Kleiderkammern oder Wärmestuben. Was sollen die Menschen machen, wenn man sie mit ihren Sorgen allein lässt?

„Es ist mir zu einfach, die Proteste nur zu kritisieren“

Das bedeutet, Sie finden es nicht so schlimm?

Das habe ich nicht gesagt. Natürlich ist es schlimm, wenn sich die Menschen mit Rechtsextremisten gemein machen. Doch die Tatsache, dass die Mobilisierung von genau dieser Seite jetzt zum wiederholten Mal passiert, zeigt auch, dass unsere bisherigen Warnungen nicht gefruchtet haben. Es ist mir zu einfach, die Proteste nur zu kritisieren und für verfassungsfeindlich zu erklären, wenn die Zivilgesellschaft gleichzeitig in einer gewissen Passivität verharrt. Statt von Protestwoche zu Protestwoche wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren, sollte man sich besser überlegen, wie man das Feld nicht wieder den Extremisten überlässt.

Welchen Weg schlagen Sie vor?

Als Lösung sehe ich jedenfalls nicht irgendwelche zentralen Großveranstaltungen mit Symbolcharakter. Jetzt kommt es auf die Parteien, die Verbände, Gewerkschaften und auch die Kirchen vor Ort an. Alle müssen sich kümmern, um den Hilferufen der Menschen auf der Straße zu begegnen.

Rechnen Sie damit, dass die Proteste zunehmen werden, wenn die Krise sich weiter verschärft und im Portemonnaie immer weniger ist?

Das können wir als Verfassungsschutz nicht ausschließen. Wir müssen uns auf dieses Szenario einstellen. Die Menschen gehen auf die Straße, wenn sie das Gefühl haben, dass sie damit etwas verändern oder zumindest bewirken können. Doch ich warne vor zu kurzgefassten Erklärungen. Die Abwendung nicht weniger Menschen von der Demokratie ist in Sachsen schon seit Längerem ein Problem, nicht erst dieser Tage, wo es ums Geld und Frieren geht. Es besteht die reale Gefahr, dass immer mehr Menschen in das falsche Lager – also in den Rechtsextremismus – abdriften.

„Die Abwendung nicht weniger Menschen von der Demokratie ist in Sachsen schon seit Längerem ein Problem“

Von staatlicher Seite ist ein neues Entlastungspaket angekündigt worden. Folgt man Ihrer Argumentation, wird das keinesfalls ausreichen, um die Sorgen vieler Menschen zu reduzieren.

Wir hatten zuletzt etwa 20.000 Menschen auf den sächsischen Straßen. Wichtig ist, dass die Menschen, die Hilfe brauchen, tatsächlich unterstützt werden. Die Menschen – vor allem hier im Osten – haben die Erwartung, dass der Staat ihnen unter die Arme greift. Aufgrund der geringeren Einkommens- und Vermögensverhältnisse müsste die Unterstützung im Osten deutlich stärker ausfallen als im Westen. Doch das ist nur die eine Seite – die andere ist, dass viel besser erklärt werden müsste, worum es in der aktuellen Situation geht: Auch wir befinden uns mit Russland in einer Art Kriegszustand. Dieser spielt sich in erster Linie in den sozialen Medien ab.

Mit anderen Worten: Es gibt eine Desinformationskampagne, die von Russland ausgeht?

Ja, eindeutig. Es werden ganz gezielt Falschinformationen etwa zu Gasknappheit und Preissteigerungen in den sozialen Medien verbreitet. Das sind die berühmten Blasen, in denen vermeintliche Informationen abgerufen und diskutiert werden, um die eigene Weltsicht bestätigt zu bekommen. Die russischen Staatsmedien unterlassen nichts, um die Meinungsbildung auch bei uns in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten: Russland hat sich zum Ziel gesetzt, die westliche Gesellschaft zu spalten – und dabei sind sie gerade.

„Vor allem werden die Menschen mit Informationen gefüttert, die in die russische Propaganda passen“

Können Sie ein Beispiel nennen?

Gern wird folgender Irrglaube bedient: Wir nehmen die Sanktionen zurück, öffnen die Pipeline Nordstream 2 und dann wären alle Probleme gelöst. Doch der Krieg Russlands gegen die Ukraine richtet sich auch gegen die Art, wie wir leben, gegen unsere demokratischen und freiheitlichen Werte. Wenn wir so tun, als ginge uns das nichts an, hieße das: Einem Gewaltherrscher freien Lauf lassen, nur damit wir keine wirtschaftlichen Nachteile erleiden.

Inwieweit hat die russische Einflussnahme, von der Sie sprechen, seit Kriegsbeginn im Februar zugenommen?

Ich kann hier nicht ins Detail gehen. Unsere Nachrichtendienste beobachten schon seit geraumer Zeit – und nicht erst seit Kriegsbeginn – verstärkt Aktivitäten russischer Nachrichtendienste bei uns in Deutschland. Vor allem werden die Menschen mit Informationen gefüttert, die in die russische Propaganda passen. Das ist wiederum Teil der psychologischen Kriegsführung Russlands.

„Das politische System der Bundesrepublik Deutschland ist offenbar in vielen Köpfen noch nicht angekommen“

Können Sie das Agieren von russischen Trollen, von denen Sie berichten, plastischer beschreiben?

Es werden Ereignisse, die sich objektiv zugetragen haben, einfach ins Gegenteil verkehrt. Ganz klar: Das ist ein Propagandakrieg, und diese russische Propaganda wird insbesondere von Rechtsextremisten, etwa den Freien Sachsen, aufgegriffen. Der Grund liegt in einer ‚Russophilie’, die in Sachsen und in ganz Ostdeutschland recht verbreitet ist: Durch diese Russlandfreundlichkeit wird eine solche Propaganda aufgenommen und oftmals nicht hinterfragt. Die Freien Sachsen nutzen das und schmücken sich beispielsweise mit Putins Konterfei und russischen Fahnen – doch hier werden Ursache und Wirkung ins Gegenteil verkehrt.

Im neuen Sachsen-Monitor hat immerhin ein Drittel der Befragten angegeben, sich eine einzige Partei und eine starke Führerschaft zu wünschen.

Genau solche Ergebnisse treiben mich als Verfassungsschutz-Präsident um. Diese Werte zeigen, wie es um die innere Verfasstheit unseres Bundeslandes bestellt ist. Hierzulande wird berechtigte oder unberechtigte Kritik an politischen Entscheidungen sehr schnell mit der Systemfrage verbunden, die Demokratie leichtfertig als Ganzes zur Disposition gestellt. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland ist offenbar in vielen Köpfen noch nicht angekommen. Es werden einfache Botschaften, einfache Wahrheiten und einfache Lösungen verlangt – doch so einfach ist es eben nicht in einer Demokratie.

„Wenn weiterhin in Passivität verharrt wird, werden Extremisten noch stärkeren Zulauf bekommen als sie ihn heute schon haben“

Bekommen Sie es eigentlich mit der Angst zu tun, wenn Sie sich die Berichte Ihres Nachrichtendienstes durchlesen?

Nein, im Prinzip reicht dafür schon der aktuelle Sachsen-Monitor: 69 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sich Politiker nicht oder zu wenig um die Menschen kümmern. Das ist ein Offenbarungseid für unsere repräsentative Demokratie! Darum mache ich mir Sorgen. Jeder Abgeordnete im Europaparlament, im Bundestag und im Landtag sollte dies als Warnung verstehen. Wenn weiterhin in Passivität verharrt wird, werden Extremisten noch stärkeren Zulauf bekommen als sie ihn heute schon haben. Die Freien Sachsen dienen hier sozusagen als Mobilisierungsmaschine. Die eigentliche Gefahr besteht aber darin, dass rechtsextremistisches Gedankengut immer mehr in unsere Gesellschaft einsickert und als „normal“ empfunden wird.

Die Freien Sachsen haben Zulauf – wie sieht es mit weiteren, neuen rechtsextremistischen Tendenzen in Sachsen aus?

Wir können beobachten, dass sich die Freien Sachsen zusehends konsolidieren und mittlerweile auch über Vermögen und Spender verfügen. Die Finanzierung des Rechtsextremismus ist ein wichtiger Schlüssel für dessen Wirkungsmacht und deshalb eine sehr wichtige Komponente bei unserer Aufklärungsarbeit. Inzwischen gibt es bei den Freien Sachsen sogar eine Freie Jugend, die sehr aktiv ist: Mit dieser Organisation sollen ganz gezielt Jugendliche angesprochen werden. Ich sehe darin eine sehr gefährliche Entwicklung. Dagegen ist die NPD momentan kaum wahrnehmbar. Sie nähert sich zusehends den Freien Sachsen an. Im Erzgebirge gibt es seit neuestem eine ‚Liaison’ zwischen den Freien Sachsen und der AfD.

„Das bürgerlich-demokratische Spektrum sollte, insbesondere in Krisenzeiten, deutlich aktiver werden“

Heißt das für Sie auch, dass die durchaus begründeten Proteste letztlich nur Mittel zum Zweck sind?

Genau das will ich damit sagen. Die berechtigten Sorgen und Nöte der Bürger dienen den Rechtsextremisten nur als Vehikel für ihre verfassungsfeindliche Agenda. Ihnen geht es jedenfalls nicht um greifbare Lösungen und Hilfen für die Anliegen der Menschen. Die meisten Rechtsextremisten wollen auch keine Revolte anzetteln. Ihr Ziel ist es, immer tiefer in die Mitte der Gesellschaft einzudringen, die Bevölkerung für sich zu vereinnahmen und letztlich in die Parlamente vorzudringen. Ich denke, die historischen Parallelen dürften jedem klar sein. Deshalb sollte das bürgerlich-demokratische Spektrum, insbesondere in Krisenzeiten, deutlich aktiver werden.

Über die AfD dürfen Sie aus rechtlichen Gründen nicht sprechen. Vielleicht könnten Sie aber einschätzen, welche Signale momentan vom sächsischen Landesverband kommen – und inwieweit die Einladung des als Rechtsextremisten eingestuften Andreas Kalbitz dafür steht?

Ich finde es erschreckend, wie wenig dies im öffentlichen Raum debattiert wird. Diese Lethargie halte ich für gefährlich.

„Die polizeilichen Maßnahmen und auch der Prozess gegen Lina E. zeigen Wirkung“

Kommen wir zum Linksextremismus. Stellen Sie nach der Festnahme der mutmaßlichen Extremistin Lina E. und den kürzlichen Aussagen eines Kronzeugen Veränderungen in der Szene fest?

Das alles hat etwas mit der linksextremistischen Szene gemacht: Die polizeilichen Maßnahmen und auch der Prozess zeigen Wirkung. Letzterer trägt dazu bei, die relevanten Strukturen offenzulegen.

In der linken Szene wird die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen stark angezweifelt. Sind Sie sicher, dass er tatsächlich der Richtige ist, um die Strukturen zu erhellen?

Es gehört zur Jobbeschreibung eines Strafverteidigers, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen infrage zu stellen. Ich denke, dass das Gericht auf einem guten Weg ist, einen fundierten Sachverhalt zu erhalten, der auf beweiskräftigen Fakten basiert.

„Der Rechtsextremismus ist und bleibt die größte Herausforderung für unsere Demokratie“

In der rechtsextremistischen Szene haben Sie keinen mit Lina E. vergleichbaren Fall hinbekommen. Der Vorwurf an die sächsischen Sicherheitsbehörden lautet häufig, auf dem rechten Auge blind zu sein. Was läuft also schief?

Ich mache das jetzt seit zwei Jahren und kann guten Gewissens sagen: Wir sind auf dem rechten Auge ganz sicher nicht blind. Es stimmt zwar, dass wir derzeit keinen vergleichbar populären und medienrelevanten Fall bei Rechtsextremisten haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir untätig wären.

In der Öffentlichkeit machen Sie allerdings einen Unterschied zwischen Rechts- und Linksextremisten – spiegelt sich auch im Schwerpunkt Ihres Hauses wider?

Der Rechtsextremismus ist und bleibt die größte Herausforderung für unsere Demokratie und damit auch der wichtigste Arbeitsschwerpunkt des sächsischen Verfassungsschutzes. Angesichts neuer Beobachtungsobjekte und der Entwicklungen in diesem Bereich könnten wir allerdings deutlich mehr Personal gebrauchen. An dieser Stelle soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die Gewaltbereitschaft und die Militanz in der autonomen Szene Leipzig für uns eine besondere Herausforderung darstellen. Letztlich darf der Verfassungsschutz auf keinem Auge blind sein. Und seien Sie gewiss: Das ist er auch nicht!

Zur Person

Dirk-Martin Christian (60) ist seit Juli 2020 der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Sachsen. Der gebürtige Bonner hat Rechtswissenschaften studiert und kam 1993 nach Sachsen. Im damaligen Regierungspräsidium Dresden war Christian zunächst Referatsleiter für Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht.

Danach war er meist in der Kommunalaufsicht tätig. Von 2007 bis 2011 arbeitete er im Verfassungsschutz als Leiter der Zentralabteilung, ab 2019 hatte der Jurist im Innenministerium die Fachaufsicht für den Nachrichtendienst inne.