Prozess gegen Lina E. in Dresden: So wurde ein Linksradikaler zum Kronzeugen
Johannes D. hat mit der linken Szene gebrochen und kooperiert nun mit den Behörden. Im Prozess gegen Lina E. spricht er über seine Wandlung vom Neonazijäger zum Verräter.
Eines Tages stand der Verfassungsschutz vor dem Kindergarten. Johannes D. war von Berlin nach Warschau gezogen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Doch sein altes Leben holte den linksradikalen Erzieher in Polen wieder ein.
Im März 2022, so sagt er, sprachen ihn Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz an, als er den Kindergarten in Warschau, wo er als Erzieher arbeitete, gerade verlassen hatte. Sie würden sich gerne einmal mit ihm unterhalten. Er habe zunächst abgewunken, sich dann aber doch auf einen Spaziergang eingelassen. Nach zwei Tagen Bedenkzeit habe er sich dann entschieden, mit Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten.
Nun ist Johannes D., 30 Jahre alt, der Kronzeuge im Prozess gegen Lina E. und drei Mitangeklagte vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden. Die 27-Jährige soll mit ihrem untergetauchten Verlobten, Johann G., eine Vereinigung angeführt haben, die in den Jahren 2018 bis 2020 in Leipzig, Wurzen und Eisenach Neonazis brutal verprügelt hat. Ihnen wird unter anderem die Bildung einer linksextremen kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Der Prozess begann im September 2021, im Juni 2022 wurde bekannt, dass Johannes D. über die militante Antifa-Szene auspackt. Dem Verfassungsschutz war es gelungen, aus dem mutmaßlichen Linksextremisten einen Zeugen zu machen, der seine Freundinnen und Freunde verrät.
Leicht sei ihm dieser Schritt nicht gefallen, sagt Johannes D. am Donnerstag vor Gericht: »Für mich war da wirklich eine sehr große Hemmschwelle.«
In der linksradikalen Szene in Ungnade gefallen
Der Verfassungsschutz kennt dieses Phänomen als »Verräterkomplex«. Ein Beamter des Thüringer Verfassungsschutzes hatte einst im NSU-Prozess in München davon berichtet, dass vor allem Linksextremisten darunter litten: »Die müssen sich erst daran gewöhnen, dass sie mit dem Staat zusammenarbeiten, den sie eigentlich bekämpfen.« Entsprechenden Seltenheitswert hat ein Kronzeuge wie Johannes D. Was also hat dazu geführt, dass er zum Verräter wurde?
Johannes D. war in der linksradikalen Szene in Ungnade gefallen. Seine Ex-Freundin hatte ihn im Oktober 2021 öffentlich der Vergewaltigung bezichtigt. Die Szene verstieß ihn – und der Verfassungsschutz erkannte seine Chance. »Natürlich haben die das mitbekommen«, sagt Johannes D.
Der Geheimdienst habe nicht versucht, ihn als V-Mann anzuwerben. »Darum ging es nie.« Der Verfassungsschutz versprach sich vielmehr Hinweise auf den Aufenthaltsort von Johann G., den untergetauchten Verlobten von Lina E., er gilt den Behörden neben Lina E. als Drahtzieher hinter den Angriffen auf Neonazis. Doch Johannes D. sagt, er kenne dessen Versteck nicht.
Es habe mehrere Gespräche mit dem Verfassungsschutz gegeben. »In Polen«, sagt der Richter. Es klingt mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage. Johannes D.s Antwort – »unter anderem« – scheint der Richter zu überhören. Wo denn noch? Das fragt er nicht. Vom Verfassungsschutz sei er dann an das Landeskriminalamt Sachsen vermittelt worden, um in diesem Verfahren als Zeuge auszusagen, sagt Johannes D.
»Mein Punkt war nie Rache.« Worum es ihm stattdessen ging, lässt er im Vagen. Der Vorsitzende Richter fragt wieder und wieder, was er sich von der Zusammenarbeit mit den Behörden versprochen hat oder – andersherum – was ihm versprochen wurde. Es geht um die Motivation des Kronzeugen und damit um die Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Er habe mit seiner Vergangenheit brechen, »einfach einen Schlussstrich ziehen« wollen, sagt Johannes D. Dem Richter reicht das nicht. Er will Konkreteres hören. Als der Richter keine Antwort bekommt, schlägt er selbst Antworten vor.
Finanzielle Starthilfe für ein neues Leben? Unterstützung bei der Job- und Wohnungssuche? Neue Identität? Johannes D. will über Derartiges nicht sprechen. Dass er – offensichtlich – im Zeugenschutzprogramm ist, räumt er ein. Acht speziell geschulte Polizisten bewachen ihn im Saal.»Keine Absprache, keine Deals«
Doch der Richter lässt nicht locker, fragt weiter nach etwaigen Versprechungen, die ihm gemacht wurden. Schließlich sagt der Zeuge: »Es gibt keine Absprache, keine Deals.« Auch keine finanziellen Anreize. Er erhalte heute so viel Geld, wie er zuvor als Erzieher in Warschau verdient habe, 1500 Euro netto. Ihm seien auch keine Versprechungen hinsichtlich Strafverfahren gemacht worden, die gegen ihn selbst noch laufen. Dass das Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung Anfang März eingestellt wurde, habe nichts mit seiner Kooperation mit den Behörden zu tun.
Seit nunmehr sechs Tagen spricht er vor Gericht über Interna der linksradikalen Szene . Johannes D. sagt an diesem Donnerstag, dass sie die Angriffe auf Neonazis »Projekte« nannten. Es habe einen »Pool an Leuten« gegeben, aus denen Mittäter rekrutiert wurden. Johann G. und Lina E. seien diejenigen gewesen, »die immer wieder Ideen oder Ziele herausgearbeitet haben«. Es ist Johannes D.s komplizierte Art zu reden. Johannes D. neigt dazu, mit sehr vielen Worten wenig zu sagen – und erst auf deutliche Nachfrage Klartext zu reden. Vielleicht, weil der Verräterkomplex noch immer greift.
Lina E. und Johann G. seien nach seiner Wahrnehmung diejenigen gewesen, die »den Hut aufhatten«. Er habe sie als gleichberechtigtes Paar erlebt. Johann G. sei ein impulsiver Typ, auch ein wenig schusselig, Lina E. hingegen »die Ruhe in Person«. Der Vorsitzende Richter hält ihm seine Aussage bei der Polizei vor: »Ich könnte nicht sagen, wer von den beiden wen radikalisiert hat.« Johannes D. bestätigt seine frühere Aussage. Er würde das heute noch genau so sagen.
Zu dem inneren Kreis – er nennt ihn »Kreis 1« – um Lina E. und Johann G. zählt er, wenn auch zögerlich, die Mitangeklagten Lennart A. und Jannis R. Er selbst und der dritte Mann auf der Anklagebank, Philipp M., zählt er zum »Kreis 2«. Sie alle hätten sich als »etwas Besseres, als besonders« innerhalb der Szene betrachtet. »Man gehört jetzt zu den Krassen«, so habe es Philipp M. einmal formuliert.
Dieser kann irgendwann an diesem Tag nicht mehr an sich halten. »Du laberst so einen Müll«, fährt Philipp M. den Kronzeugen von der Anklagebank aus an. Seine Verteidigerin und sein Verteidiger bedeuten ihm, ruhig zu bleiben.
Dann erzählt Johannes D., dass sich Johann G., der Verlobte von Lina E., eine »129« auf den Arm tätowieren lassen hat. Die Zahl ist ein Verweis auf § 129 des Strafgesetzbuches, in dem es um kriminelle Vereinigungen geht.