Zeltplatz vor Leipziger Obdachlosenhilfe „Oase“ geräumt: „Wo sollen wir denn hin?“
Das Camp in der Nürnberger Straße ist am Donnerstag durch das Ordnungsamt geräumt worden – unter Protest einiger Obdachloser. Die Räumung sei alternativlos gewesen, heißt es aus dem Rathaus. Kritik am Vorgehen kommt vom Oase-Leiter und aus dem Stadtrat.
Am Donnerstag hat die Stadtverwaltung den Zeltplatz vor der Wohnungslosenhilfe „Oase“ im Zentrum-Südost geräumt. Die Fläche vor dem Tagestreff der Diakonie diente obdachlosen Menschen als nächtlicher Rückzugsort.
Gegen 9.30 Uhr sind bei eisigen Temperaturen die meisten Zelte bereits verschwunden. Menschen stopfen Kleidung und Decken in Plastiktüten, ziehen Heringe aus der Erde und bringen ihr Hab und Gut vorerst in Räumen der Oase unter. Später soll ein Hilfebus alle, die wollen, in Notschlafstellen bringen.
Leipzig: Vormittags beginnt die Räumung
Kurz vor zehn Uhr stehen dann Mitarbeitende des Ordnungsamts, zwei Polizeibeamte und zwei Beschäftigte der Stadtreinigung auf der kleinen Wiese an der Nürnberger Straße. Sie beginnen mit der Räumung. Die Ordnungsamtsmitarbeiter sprechen die Betroffenen ruhig an und nehmen Personalien auf, um, wie es heißt, Hilfsangebote vermitteln zu können.
Nicht alle kooperieren. Die Stimmung ist angespannt. Einige Obdachlose packen schweigend zusammen, andere protestieren laut. „Wo sollen wir denn hin?“, ruft einer und wirkt wütend wie verzweifelt. Für ihn verlagert die Räumung das Problem nur.
Erste Räumung vor der Oase überhaupt
Benjamin Müller, Leiter des Tagestreffs „Oase“, sagt, die Wiese in städtischem Eigentum vor der Einrichtung wurde seit rund zwei Jahren vermehrt als Schlafplatz genutzt. Das sei bislang geduldet worden. Eine Räumung habe es dort noch nie gegeben.
Für die Stadt und die Anwohnenden sei das Vorgehen nachvollziehbar, doch für die Betroffenen nicht nachhaltig. „Es braucht langfristige Lösungen“, fordert Müller.
Er beobachtet seit Jahren, wie Rückzugsorte im Stadtbild verschwinden, etwa am Wilhelm-Leuschner-Platz oder am Bayerischen Bahnhof. Das treibe verdeckte Obdachlosigkeit an die Oberfläche.
Sozialarbeiter fordert differenzierte Angebote
Notschlafstellen in Leipzig gebe es, doch viele würden aus unterschiedlichen Gründen nicht genutzt. Müller zeigt Verständnis für seine Klienten. Viele Angebote lägen zu weit entfernt von der Lebensrealität der Betroffenen – auch geografisch. Denn Zentrumsnähe ist für die meisten ein entscheidender Faktor.
Der Oase-Leiter fordert daher differenziertere Ansätze: ausgewiesene Flächen, auf denen Campen erlaubt ist und die von Sozialarbeit und medizinischer Infrastruktur begleitet werden, oder temporäre Nachtunterkünfte wie Turnhallen oder S-Bahn-Stationen, wie sie andere Großstädte bereitstellen. Zudem brauche es sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten, wie Teilzeit-Jobs, um Menschen Struktur und Halt zu geben.
„Leipzig wächst rasant“
Für ihn ist die Räumung eine logische Konsequenz der Stadtentwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte. „Leipzig wächst rasant, Freiflächen verschwinden, Wohnungen werden teurer, die Verdichtung nimmt zu.“ Lösungen für obdachlose Menschen fehlen. Der Platz vor der Kontaktstube sei eine der letzten zentral gelegenen Flächen gewesen, auf der Campen geduldet wurde – bis heute.
Nach Angaben von Sprecher Matthias Hasberg reagiert die Stadt mit der Räumung auf zahlreiche Beschwerden aus der Nachbarschaft über Müll, Lärm und Gewalt. Zuletzt sorgte ein Messerangriff zwischen zwei Gästen der Oase für Aufmerksamkeit.
Stadt Leipzig reagiert auf Beschwerden
Eine Räumung sei jedoch stets das letzte Mittel, betont Hasberg. Zuvor hätten Sozialarbeit und Streetwork versucht, die Betroffenen in Hilfsangebote wie Notschlafstellen zu vermitteln. Viele nähmen diese an, einige lehnten sie ab – aus diversen Gründen, wie Angst vor Übergriffen, wegen verbotenen Alkoholkonsums oder weil Hunde nicht erlaubt sind. Die rund dreihundert Plätze in Leipzigs Notschlafstellen seien im Winter gut ausgelastet, so Hasberg.
Neben Beschwerden aus der Nachbarschaft hätten auch Mitarbeitende der Oase um Unterstützung gebeten, weil sich Gäste zuletzt von Camp-Bewohnern bedroht gefühlt hätten.
An der Räumung beteiligt seien Polizei, Ordnungsamt, Sozialamt sowie Mitarbeitende der Übernachtungshäuser. Weitere Räumungen anderer Zeltlager seien aktuell nicht geplant, heißt es aus dem Rathaus.
Bei der Räumung ist auch Grünen-Stadträtin Katharina Krefft vor Ort. Sie sagt, die Situation sei für die Nachbarschaft nicht mehr tragbar gewesen. Dennoch hält sie die Räumung für den falschen Weg. Kontakte zu Streetwork-Teams brächen nun ab, die Obdachlosen verstreuen sich. Ein zusätzliches, individuelles Angebot sei dringend nötig.
Grüne fordern Öffnung des Astoriatunnels im Zentrum
Ihre Fraktion schlägt vor, kurzfristig den für den Fußgängerverkehr gesperrten Astoriatunnel nahe dem Hauptbahnhof als Notunterkunft zu öffnen. Eine entsprechende Beschlussvorlage liegt seit dem 4. Dezember im Rathaus. Vorgesehen sind Faltbetten, Isomatten, eine Toilettenanlage, regelmäßige Streetwork-Präsenz sowie gesicherte Ordnung.
Leipzig solle den Tunnel für mindestens ein halbes Jahr öffnen, als Zeichen der Solidarität und bis zur Eröffnung der neuen Notschlafstelle in der Kurt-Schumacher-Straße. Denn die Obdachlosigkeit in Leipzig wächst.
Menschen wollen bleiben
Zahlen bestätigen diesen Eindruck. „Die Oase dient vielen wohnungslosen Menschen als Postadresse. Vor sieben Jahren waren bei uns 300 Personen registriert“, sagt Oase-Leiter Müller. „2024 waren es mehr als 1100“. Fast eine Vervierfachung. Für dieses Jahr erwartet er einen weiteren Anstieg.
Am späten Vormittag hat sich die Lage vor der Oase dann beruhigt. Fabian (Name geändert), einer der obdachlosen Männer, sagt: „So wie jetzt geht es hier nicht weiter“, doch es fehlen ihm echte Alternativen und Angebote.
Mitarbeitende des Ordnungsamtes schlagen ihm vor, in eine der Notschlafstellen zu gehen. Fabian schüttelt vehement den Kopf: „Auf gar keinen Fall möchte ich dahin.“
Nicht wenige sagen, dass sie nun für ein paar Tage woanders schlafen, und dann zur Oase zurückkehren. Sie wollen sich nicht vertreiben lassen.