„Es hat mich kälter gemacht“: Wie eine Leipzigerin ihren Vergewaltiger überführte

Als Maja an einem Sommermorgen erwacht, kann sie sich an die vergangene Nacht nicht erinnern. Aber einiges ist seltsam. Mithilfe ihres Handys begibt sie sich auf Spurensuche – und macht eine ungeheuerliche Entdeckung.

Leipzig. Die Stunden aus der Nacht vor zwei Jahren sind weg, sagt Maja. Wie gelöscht. „Wie ein Filmriss, nur krasser.“ Keine kurzen Aussetzer – sondern eine durchgängige Erinnerungslücke. Beim Aufwachen war da nur noch dieses eine Bild: „Ich hatte eine Szene aus dieser Nacht im Kopf: Ich war in einem Hotelzimmer. Eine Gestalt stand in der Ecke.“

Maja, die eigentlich anders heißt, hat auch zwei Jahre später nicht mehr Erinnerungen als diese. Aber sie hat Beweise. Dank ihrer Handydaten und der Aufnahmen einer Überwachungskamera konnte sie die Nacht rekonstruieren.

Sie konnte aufdecken, was ein fremder Mann ihr antat – und diesen schließlich vor Gericht bringen. Rückblickend sagt Maja: „Mir ist es eigentlich gut ergangen.“ Dabei findet sie die Wortwahl, wie sie sagt, bescheuert: Zu glauben, sie habe Glück gehabt, sei falsch. Immerhin wurde sie vergewaltigt.

Laut Polizeistatistiken wächst die Gewalt gegen Frauen seit Jahren. Jede dritte Frau in der EU hat Drohungen, sexuelle oder körperliche Gewalt erlebt. Auch in Leipzig haben sich die Fälle sexueller Gewalt seit 2020 nahezu verdreifacht. Waren es in 2023 noch 48 Fälle, einer von ihnen Majas, folgten im vergangenen Jahr 99 erfasste Taten. Bundesweit nahmen Sexualstraftaten um mehr als 9 Prozent zu.

Maja ist gefasst, wenn sie heute von damals erzählt. Aber weil sie das selten tut und weil die Nacht bald zwei Jahre zurückliegt, springt sie oft zwischen den Erinnerungen. Und, natürlich: Weil ihr bis heute immer noch Antworten auf die entscheidenden Fragen fehlen.

Die Nacht

Sie ist in einen Park mitten in Leipzig gekommen, um ihre Geschichte zu erzählen. Der Abend beginnt in ihrer Erinnerung warm und schwerelos. Sie wollte einfach mit einer Freundin in einer Bar etwas trinken gehen, wie an vielen Wochenenden. Vielleicht später noch tanzen.

Maja, damals 32 Jahre, war lebensfroh und immer viel unterwegs. Sie ahnte nicht, dass diese Nacht ihr Leben für immer in ein Davor und Danach teilen würde.

Sie will, sagt sie, dass ihre Geschichte auf eine Bedrohung aufmerksam macht, die sich täglich gegen Frauen richtet – sexuelle Gewalt nach Einsatz von K.-o.-Tropfen, auch als Liquid Ecstasy bekannt. Ein bekanntes Schema, das schwer zu verfolgen ist: Die Nachweisbarkeit der Substanz ist kurz, Betroffene erinnern sich meist kaum.

Maja wachte morgens zu Hause auf. „Ich hatte meine Klamotten vom Vorabend im Bett an – das mache ich nie“, sagt sie. „Und ich war falsch angezogen.“ Die Leggins waren nach außen gedreht. Sie war sich sofort sicher, dass etwas nicht stimmte und vertraute sich ihrem Partner an. Den beiden kam eine Idee: Für den Fall, dass ihr Handy verloren geht, hat Maja dauerhaft die Ortungsdienste des Smartphones aktiviert. Ein Zufall, ohne den Majas Geschichte heute wohl eine andere wäre.

Anhand der Handydaten rekonstruieren sie Majas letzte Nacht, die in der Bar beginnt: Irgendwann verlässt sie die Kneipe, zieht weiter in einen bekannten Leipziger Club. Erinnern kann sie sich daran schon nicht mehr. Und kurz darauf gerät das Handy wieder in Bewegung. Ziel ist ein Hotel in der Leipziger Innenstadt.

Später wird Maja erfahren, dass sie der Täter in einem Taxi dorthin brachte. Und nach einigen Stunden an ihrem Wohnhaus absetzte.

Als sie die Ortungsdaten sieht, ist sie sich sicher, dass ihr etwas ins Glas gemischt wurde. „Ich habe angefangen zu heulen“, erzählt Maja. Aber sie hat keinerlei Erinnerungen. Da ist nur ein Gefühl. „Der Körper sagt dir das, irgendwie – auch wenn da oben alles schwarz ist“, sagt Maja und deutet auf ihren Kopf.

Majas Ermittlungen

Mit ihrem Partner fährt sie zuerst in die Notaufnahme. „Alles war erschlagend“, erinnert sie sich. „Ich konnte gar nicht denken.“ Sie wird sofort behandelt. Bei Taten, die mit K.-o.-Tropfen begangen werden, kommt es auf jede Minute an, denn die Drogen sind im Körper nicht lange nachweisbar: Im Blut bis zu sechs Stunden nach der Einnahme, im Urin bis zu zwölf. Die Blutuntersuchung auf K.-o.-Tropfen muss Maja selbst bezahlen.

Und sie muss noch eine Entscheidung treffen: Bevor sie gynäkologisch untersucht wird, soll Maja angeben, ob sie Anzeige erstatten will. Sie denkt zurück an diesen Moment: „Ich wusste ja gar nicht, was passiert war. Aber ich wusste: Was auch immer da war, es war nicht einvernehmlich.“

Maja entscheidet sich für die Anzeige. Nach der Klinik fährt Maja also auf die Polizeiwache. Sie übergibt den Beamten auch ihr Handy. Dank der GPS-Verläufe können die Ermittler die Aufnahmen der Überwachungskameras jenes Hotels sichern, zu dem Maja in der Nacht gebracht wurde.

Maja weiß noch, wie seltsam leer plötzlich alles war. Nachdem sie von der Polizei vernommen wurde, geht sie nach Hause. Sie hat alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Mehr kann sie nicht tun. Und weil sie es in der Wohnung nicht aushält, trifft sie sich mit Freunden im Rosental zum Klassik-Open-Air und versucht so gut es geht, die alte, lebenslustige Maja zu sein.

Sie erfährt nicht, dass währenddessen die Bilder der Überwachungskameras ausgewertet werden. Auf den Bildern, die später im Gericht gezeigt werden, ist Maja zu sehen. Sie kann kaum geradeaus laufen. Ein gedrungener Mann mit dunklen Haaren stützt sie. Führt sie vorbei an der Hotelrezeption, in den Aufzug.

Maja weiß davon lange nichts. Und, für sie noch schlimmer: Sie erfährt nicht, ob ihr Blut und die Abstriche einen Befund ergeben.

„Ich bin nie davon ausgegangen, dass ich meine Untersuchungsergebnisse nicht bekomme“, sagt sie. „Das war für mich total absurd: Das ist doch mein Blut, meine Gewebeproben, mein Eigentum.“

Doch ihr Blut, die Kamera-Aufnahmen, die GPS-Daten und Majas Aussagen: Das alles zählt nun als Beweismittel und bleibt unter Verschluss. Majas Nacht, ihr Körper, ihre Erfahrung und ihre Erinnerung sind inzwischen Teil eines Strafverfahrens, über das sie nicht mehr die volle Kontrolle hat.

Also engagiert Maja eine Rechtsanwältin und wird Nebenklägerin. Die Anwältin, eine erfahrene Nebenklagevertreterin bei Sexualdelikten, bleibt zum Schutz von Majas Identität anonym. Sie erklärt: „Betroffene können auch ohne Anwalt Akteneinsicht erhalten.“ Möglich ist die Einsichtnahme in der Geschäftsstelle des Gerichts, auf Antrag. Ungefragt erhalte man zu medizinischen Befunden keine Mitteilung.

Rechtsbeistand, wie ihn Maja hatte, sei aber ratsam. Bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung trägt der Staat die Kosten.

Mehr als zwei Monate nach dem Vorfall kann Maja über ihre Anwältin Akteneinsicht erlangen. Sie erfährt, dass Sperma eines fremden Mannes an ihr nachgewiesen wurde. Endlich bestätigt sich, was Majas Körper ihr schon die ganze Zeit gesagt hat.
Für Maja kommt der Alltag zurück. Doch die Tat hinterlässt Spuren. „Ich habe mich total zurückgezogen“, berichtet die junge Frau. Oft übermannt sie die Traurigkeit, manchmal kommen ihr Suizidgedanken.

Der Prozess

Erst Monate später wird Maja vom Gericht als Zeugin geladen. Dank der Videoaufnahmen des Hotel-Check-ins und den bei der Untersuchung gesicherten DNA-Spuren konnten die Ermittler den Täter inzwischen ausfindig machen.

Und dann sitzt sie in einem Raum mit ihm. Anfang 2024 beginnt der Prozess im Amtsgericht Leipzig. Sie erkennt ihn nicht wieder. Seinen Namen sagt sie auch heute nicht, warum auch: Sie spricht von „ihm“, viel Platz in ihrer Erzählung und ihrer Erinnerung möchte sie diesem Unbekannten nicht einräumen. Dreimal sieht sie ihn. „Er hat mir im Prozess kein einziges Mal ins Gesicht geschaut“, erinnert sie sich.

Was im Verfahren auf sie zukommen würde, sei ihr nicht ganz klar gewesen: „Im Prozess geht es darum, Leute von sich zu überzeugen. Das war mir im Vorfeld nicht so bewusst“, sagt sie. Sie hofft im Gericht zu erfahren, was ihr untergemischt wurde – und wie.
Denn Maja zweifelt an sich.

„Man hinterfragt sich selbst extrem“, sagt sie. Ständig ging sie die Nacht im Kopf durch. „Ich war nie unvorsichtig. Ich habe auch meine Getränke nie irgendwo stehen lassen. Ich würde so gerne wissen, was passiert ist, um diesen Fehler nicht noch einmal zu machen. Ich werde nie wissen, wo ich nicht vorsichtig genug war.“ Dass sie an dem Vorfall keine Schuld trägt, weiß Maja. „Ich will nur, dass es mir nicht nochmal passiert.“

Aber sie weiß bis heute nicht, wie sie betäubt wurde. Ihre Blutprobe ergab keinen Befund. Dass es so war, steht trotzdem fest: Der sachverständige Gutachter berechnet die Alkoholmengen, analysiert ihre Bewegungen auf dem Video. „Allein durch Alkohol sind diese Ausfallerscheinungen nicht zu erklären“, sagt er im Gericht.

Ein Satz, der sich bei Maja eingebrannt hat. „Das war sehr erleichternd. Endlich mal gesagt zu bekommen, dass ich mir das nicht eingebildet habe – sondern, dass das, was mein Körper mir gesagt hat, so war.“

Im letzten Jahr wurden in Sachsen 99 Menschen, meistens Frauen, Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit K.-o.-Tropfen. Experten gehen von einer großen Dunkelziffer aus. Viele wissen nicht, wie oder dass sie unter Drogen gesetzt wurden. Während Teststreifen zum K.-o.-Tropfen-Nachweis für viele Frauen mittlerweile beim Clubbesuch zum Sicherheitsstandard gehören, ist eine andere Verabreichungsform, das sogenannte „Needle-Spiking“, auf dem Vormarsch. Dabei bekommen die Frauen die Droge injiziert – ein kurzer Augenblick, unbemerkt, dann wird alles schwarz.

Der Mann, der Maja im Gericht nicht ansieht, wird schließlich verurteilt. „Ich war unfassbar erleichtert“, sagt sie. Doch die Freude währt nur zehn Minuten. „Dann wurde mir gesagt, dass er in Berufung gehen wird.“ Maja bereitet sich darauf vor, noch einmal mit dem Täter in einem Raum sitzen zu müssen. Noch einmal für ihre Version der Geschichte zu kämpfen. Doch dann gesteht der Täter überraschend im zweiten Prozess.
Die Zeit danach

Die Tage im Gericht seien schwer gewesen, sagt Maja. Aber sie hätten ihr auch Verarbeiten geholfen. Und Maja schafft, was vielen betroffenen Frauen verwehrt bleibt: Sie bringt den Mann, der ihr das angetan hat, letztlich hinter Gitter – für drei Jahre.

Sein Geständnis aber hat für Maja wenig Bedeutung. „Mir war klar, dass er nur für sich und die strafmildernde Bewertung gestanden hat – und nicht für mich.“ Mit K.-o.-Tropfen will der Täter nichts zu tun gehabt haben. Vor Gericht behauptet er, Maja bereits unter Einfluss der Drogen angetroffen und diesen Zustand bloß ausgenutzt zu haben. Die Staatsanwaltschaft kann das Gegenteil nicht beweisen. Aber: Bereits in einem vorherigen Fall hatte der Mann zwei junge Frauen betäubt und vergewaltigt.

„Mein Leben ist weitergegangen“, sagt Maja. „Ich glaube nicht, dass ich das geschafft hätte, wäre mein Umfeld nicht da gewesen.“ Ihr Partner, ihre beste Freundin und ihr bester Freund waren eingeweiht, hielten zu ihr. Telefonierten mit ihr, wenn sie wieder einmal abends auf dem Nachhauseweg weinte.

Sie sagt auch: „Es hat mich kälter gemacht.“

Heute denkt Maja über eine Traumatherapie nach. Die Wartelisten sind lang. Und die Krankenkasse übernimmt die Leistung nur auf Antrag – trotz Gerichtsurteil. Um die Kosten erstattet zu bekommen, muss sie den Therapiebedarf zusätzlich von einem Therapeuten bestätigen lassen.

„Ich gehe im Moment nicht wirklich damit um“, sagt sie. Sie hat Sorge, erzählt Maja, „dass da etwas in mir ist, was mich von innen vergiftet, auf lange Zeit.“

Und der Täter? Von seiner dreijährigen Haftstrafe hat er zwei Drittel verbüßt. „Ich hoffe einfach, er macht es nie wieder“, sagt Maja. Sie denkt an den Hefter, der seit einer Weile unbeschriftet und lose bei ihr zu Hause herumliegt – darin das Urteil. Es steht für unzählige Momente des Kopfzerbrechens, Monate der Vorbereitung, vielleicht ein ganzes Kapitel ihres Lebens. Ein Sieg vor Gericht, aber kaum ein Trost.

Sie weiß nicht, wo sie das Urteil einsortieren soll. Darin steht nicht nur ihr Name – sondern auch die Namen all jener Frauen, die den Täter vor ihr angezeigt haben.

Ab 2026 kommt er frei. Bis dahin will Maja umgezogen sein. Er weiß, wo sie wohnt. „Ich hätte dann auch gerne einen anderen Nachnamen, vielleicht heirate ich ja“, sagt sie.
Maja weiß nicht, ob es das Urteil jemals aus diesem Hefter in einen ihrer Ordner schafft. Wo sie es einsortieren soll. Ob sie es überhaupt behalten oder ob sie es entsorgen soll – begleiten wird sie das Erlebte immer.

• Wenn Sie sich selbst in einer ähnlichen Situation befinden oder jemanden kennen, der unter sexualisierter Gewalt leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800 1110111 und 0800 1110222. Die Online-Seelsorge (Beratung per Chat oder Mail) ist erreichbar unter online.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.