Sechs Jahre nach Neonazi-Gewalt in Chemnitz: Neues Verfahren gegen vier Angeklagte

Mehr als ein halbes Jahrzehnt nach den brutalen Übergriffen auf Gegendemonstrant*innen im Kontext der rechten Aufmärsche in Chemnitz 2018 begann am heutigen Dienstag ein weiteres Verfahren am Landgericht Chemnitz. Vier rechte Täter – zur Tatzeit noch Jugendliche bzw. Heranwachsende – müssen sich nun in einem separaten Jugendverfahren verantworten. Zu den Angeklagten zählt auch der bundesweit bekannte Neonazi und Kampfsportler Lasse R. Ihm und den drei Mitangeklagten wird unter anderem gefährliche Körperverletzung und schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen.

Die Vorwürfe wiegen schwer: Am 1. September 2018 sollen sie Teil einer organisierten Neonazi-Gruppe gewesen sein, die am Rande eines sogenannten Trauermarsches in Chemnitz gezielt Jagd auf politische Gegner*innen machte. Nach der gemeinsamen Demonstration von AfD, Pegida, „Pro Chemnitz“ sowie weiteren extrem rechten Akteuren aus ganz Deutschland soll die Gruppe mehr als ein Dutzend antirassistischer Demonstrant*innen attackiert haben – laut Anklage schlugen, traten, demütigten und bedrohten sie ihre Opfer. Die Täter agierten koordiniert, viele von ihnen sind der rechten Szene und dem Kampfsportmilieu zuzurechnen.

Anders als im ersten Prozess wird das aktuelle Verfahren vor der Jugendkammer verhandelt – die vier Angeklagten waren zum Tatzeitpunkt zwischen 17 und 20 Jahre alt. Heute sind sie zwischen 24 und 27 Jahre alt. Jugendverfahren sollen vor allem erzieherisch wirken, indem sie junge Täter*innen durch ein milderes Strafmaß und individuelle Förderung von weiteren Straftaten abhalten sollen. Doch mindestens im Fall von Lasse R., der sich auch nach der Tat weiter in der rechten Szene radikalisiert und erneut Gewalt ausgeübt hat, erscheint dieser Ansatz fehlgeschlagen.
Szenebekannte Neonazis

Die Angeklagten gelten teils als gut vernetzt in der rechten Szene: R., Neonazi aus Braunschweig, der sich in der rechten Szene durch Kampfsport und Gewaltbereitschaft hervor getan hat. Gemeinsam mit Pierre B. gründete er die rechtsextreme Kampfsportgruppe „Adrenalin Braunschweig“ (ABS 381), die für gewalttätige Übergriffe und Drohungen gegen Antifaschist*innen verantwortlich sei. Neben R. sind drei weitere Personen angeklagt: Kevin M. J., Marvin C. und Robby S. Alle vier nahmen in der Vergangenheit an einschlägigen rechten Aufmärschen teil.

Einige der Angeklagten werden dabei von szenebekannten Anwält*innen vertreten. So übernimmt etwa Katja Reichel, die als „Pegida-Anwältin“ bekannt wurde, die Verteidigung von Kevin M. J. – sie hat in der Vergangenheit mehrfach Pegida-Gründer Lutz Bachmann vor Gericht vertreten.

Sexistische Sprüche und gezielte Gewalt: Erste Einblicke in die Anklage

Der erste Prozesstag begann mit erheblicher Verzögerung – sowohl eine Schöffin als auch der Angeklagte Lasse R. erschienen verspätet am Landgericht. Die Sitzung dauerte schließlich nur knapp eine Stunde. In dieser Zeit wurde die Anklage verlesen, die allen vier Angeklagten schweren Landfriedensbruch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vorwirft. Besonders detailliert schildert die Anklage die Taten von Marvin C. und Lasse R.: Marvin C. soll einem Mann so heftig ins Gesicht geschlagen haben, dass dessen Brille zerbrach und sein Augenlid viermal genäht werden musste. R. wird zitiert mit den Worten „Du willst wohl Schläge von einem Nazi?“, bevor er einem Betroffenen ins Gesicht schlug. Gegenüber einer jungen Frau soll er geäußert haben, dass er „normalerweise keine Frauen schlägt“, bevor er sie beschimpfte – sexistische Beleidigungen und gezielte Einschüchterungen ziehen sich durch die Vorwürfe gegen ihn.

Auch abgesehen von dessen 40-minütiger Verspätung fiel Lasse R. negativ vor Gericht auf. Zu Beginn der Verhandlung trug er Kopfhörer und musste von der Richterin aufgefordert werden, das Handy beiseitezulegen. Beim Verlassen des Saals beschwerte er sich lautstark über den aus seiner Sicht nur kurzen Verhandlungstag.

Bereits vor Prozessbeginn waren in zwei Erörterungsterminen die Verfahren gegen drei weitere Angeklagte gegen die Zahlung von je 300 Euro eingestellt worden. Vor Gericht wurde wiederholt betont, dass reuevolle Einlassungen auch in diesem Verfahren zu einer Verständigung führen könnten. Trotz des Angebots der Staatsanwaltschaft äußerte sich keiner der Angeklagten – einzig die Verteidigerin von Marvin C. stellte in Aussicht, dass sich ihr Mandant möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt einlassen werde.

Verschleppte Gerechtigkeit in drei Akten

Der heutige Prozess ist Teil eines insgesamt langwierigen und zähen juristischen Verfahrenskomplexes. Nach Anzeigen leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen 27 Tatverdächtige ein – mutmaßlich allesamt dem rechten Spektrum zuzuordnen. Die Verfahren wurden später in drei Teile mit jeweils neun Beschuldigten aufgespalten. Im ersten Prozess, der im Dezember 2023 begann, erschienen zum Auftakt lediglich fünf der neun Angeklagten. Die Verfahren gegen die übrigen vier wurden gegen Geldauflagen eingestellt. Auffällig dabei: Auch der nun angeklagte Pierre B., einschlägig vorbestrafter Neonazi aus Braunschweig und Weggefährte von Lasse R., „entzog“ sich dem ersten Prozessauftakt durch einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik – das Verfahren gegen ihn ist derzeit ausgesetzt.

Onur Özata, der zwei Nebenkläger*innen im Verfahren vertritt, äußerte sich zum bisherigen Verlauf des Verfahrens: „Der Prozess wird zeigen, ob rechte Gewalt tatsächlich in unserem Land ernst genommen wird. Die schleppenden Ermittlungen sprechen bislang nicht dafür.“

Die Verhandlung soll am Mittwoch mit Zeugenaussagen von Polizeibeamt*innen fortgesetzt werden – insgesamt sind mindestens zehn Prozesstage angesetzt.