„Diese Männer sind nicht zu Ende geboren“
Wir leben in einer undenkbaren Zeit, sagt der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit. Soldatische Körper, leere Sprache, dreiste Lügen: Da entsteht eine neue Wirklichkeit.
Sein Buch „Männerphantasien“ war ein Ereignis: Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit hat 1977 als einer der Ersten den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Gewalt auch psychoanalytisch untersucht und damit den Diskurs bis heute geprägt. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat er sich kaum öffentlich geäußert. Jetzt empfängt uns Theweleit in seinem Haus in Freiburg zum Gespräch. Es wird um Trump und Putin gehen, um die Rückkehr der soldatischen Männlichkeit, um Incels – und die Frage, ob man diese Gegenwart überhaupt verstehen kann.
ZEIT ONLINE: Herr Theweleit, wir hätten Sie für dieses Interview gern fotografiert. Sie wollten das nicht. Warum?
Theweleit: Es ist gerade nicht die Zeit für solche Personenunterstreichungen. Vor ein paar Wochen war in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Herfried Münkler, auf dem Foto ist er mit denkerischer Stirn zu sehen. In dem Gespräch trifft er lauter Voraussagen, was man von Putin erwarten kann, von Europa, von Trump. Willkürliche Einschätzungen, von denen die allermeisten wahrscheinlich nie eintreffen. Die Schrecken des Krieges, die fürchterliche Wirklichkeit, die zerfetzten Körper, die zerstörten Leben, die durch den Krieg zerstörten Gesellschaften kommen in dieser kühlen strategischen Rede nicht vor. Es ist so völlig unangemessen. Real ist an dieser Rede nur die maßlose Überschätzung der Eigenbedeutung des Redners. Das gilt genauso für die Fotos und die Äußerungen von Jürgen Habermas in derselben Zeitung ein paar Tage später.
ZEIT ONLINE: Sie stören sich an der Inszenierung und an der Selbstgewissheit?
Theweleit: Absolut. Am gesamten Sprachgestus, nicht nur bei Münkler und Habermas. In einem Zeitungskommentar schrieb ein Journalist neulich, „Putin spielt auf Zeit“. Was sind das für irre Wörter? Wie zu einem Fußballspiel. Oder wie aus einem Politikseminar: Wir hören deutsche Politikerinnen, die in jedem Land der Erde verbreitet haben, dass zu Putins Krieg immer das Adjektiv „völkerrechtswidrig“ gehört. Das ist das Bodenloseste überhaupt: Das Völkerrecht ist Gerede. Daran können sich Leute halten, die einmal der Menschenrechtscharta zugestimmt haben, die anderen aber interessiert das null, Putin, Trump oder Netanjahu. Die politischen Reden geschehen mit großer Selbstverständlichkeit im Irrealen. Und die sogenannten Experten reden ihnen hinterher, als hätten ihre Stimmen Weltbedeutung.
ZEIT ONLINE: Wie ginge es anders, wie könnten wir anders über die Welt reden?
Theweleit: In Claude Lanzmanns Filmen zur Schoah kommt der polnische Offizier Jan Karski vor. Dem war es während des Zweiten Weltkriegs gelungen, sich in eines der Vernichtungslager der Nazis in Polen einzuschleusen. Er sah, was die Nazis dort anrichteten, und berichtete an die polnische Exilregierung in London. 1943 bekam er Audienzen, auch bei Franklin D. Roosevelt in Washington. Roosevelt leitete ihn weiter an einen seiner Berater, Felix Frankfurter, einen der obersten Richter der USA, einen in Wien geborenen Juden. Als Karski fertig war mit seinem Bericht aus den Vernichtungslagern, stand der Richter auf und sagte: „Junger Mann, ich glaube Ihnen nicht.“ Denn: Er kenne die Menschheit, das menschliche Gehirn. Er sage nicht, dass Karski lüge, „ich sage, dass ich ihm nicht glaube“. Als Karski Jahrzehnte später im Film Lanzmann davon erzählt, fügt er dem hinzu, wie zur Entschuldigung Frankfurters, dass er es selbst immer noch nicht glaube, obwohl er es gesehen habe. Niemand auf der ganzen Welt habe das glauben können.
ZEIT ONLINE: Wir kommen nicht ganz mit. Warum erzählen Sie uns diese Geschichte?
Theweleit: Wegen des Schlusses, den Claude Lanzmann mit Karskis Hilfe daraus gezogen hat. Die Reaktion des Richters Frankfurter ist ihnen der Beleg dafür, dass es den Nazis tatsächlich gelungen war, jenen „neuen Typ Mensch“ zu schaffen, von dem sie dauernd redeten. Mit den Nazis sei ein neues Denken und Handeln in die Welt gekommen, das man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Es war zu unfasslich. Es legte das Handeln lahm und ließ das eigene Hirn daran zweifeln, was die Augen gesehen hatten. Mir scheint im Moment in der Welt etwas Ähnliches zu passieren. Was Trump und Putin und andere Potentaten tun, wie die reden – ich zum Beispiel habe das nicht für möglich gehalten.
“Daraus folgt, dass wir nicht so tun sollten, als könnten wir das alles, was um uns herum abläuft, verstehen und erklären wie den Lauf von Billardkugeln.”
– Klaus Theweleit
ZEIT ONLINE: Und was folgt daraus?
Theweleit: Daraus folgt, dass wir nicht so tun sollten, als könnten wir das alles, was um uns herum abläuft, verstehen und erklären wie den Lauf von Billardkugeln. Ich habe am Abend vor Putins Überfall auf die Ukraine in einer Diskussion in einem Buchladen hier in Freiburg gesagt: Das macht er nicht, das ist ausgeschlossen. Und morgens um sieben sagt mir meine Frau, ich solle Radio hören. An meiner Einschätzung stimmte nichts. Das sagt doch etwas aus über die Mängel der eigenen Wahrnehmung.
ZEIT ONLINE: Sie haben sich deshalb seitdem drei Jahre lang kaum öffentlich geäußert. Jetzt aber geben Sie uns dieses Interview. Warum?
Theweleit: Ich möchte zumindest die Frage stellen, ob sich mit der Spezies Mensch nicht gerade wieder etwas vollzieht, wie in der Geschichte von Karski, das unsere Auffassungsmöglichkeit übersteigt. Und ob die floskelhafte und bescheidwisserische Sprache, in der öffentlich gesprochen wird, uns nicht eher im Weg steht. Politiker und andere tun so, als wüssten sie, wovon sie reden. Sie wissen es meist nicht.
ZEIT ONLINE: Wir haben eigentlich den Eindruck, dass das, was Sie vor fast 50 Jahren in Ihrem Buch Männerphantasien geschrieben haben, auch verstehen hilft, was heute passiert. Besonders das erneute Auftrumpfen einer bestimmten Form von gewalttätiger Männlichkeit. Wir haben Ihnen ein Bild mitgebracht, das Elon Musk gepostet hat.
Das erinnert uns sehr an die „Panzermenschen“, die Sie in Männerphantasien gezeigt und beschrieben haben.
Theweleit: Ja, das ist sehr ähnlich. Ohne massive Gewaltanwendung könne man auch nicht friedlich sein, sagt Mr. Musk. So wie der Körpertyp, um den es hier geht, immer behauptet, aus Notwehr zu handeln – weil der Rest der Welt ihm den Platz zum Leben nimmt und seine Körperlichkeit zu zerstören droht. Sein Körper droht ständig zu fragmentieren. Wogegen er sich zu panzern versucht. Seine Daseinsweise ist Gewalt.
ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit fragmentierendem Körper?
Theweleit: Diese Männer sind, wie ich das nenne, „nicht zu Ende geboren“.
„Das ist das angstbesetzte Männlichkeitsprinzip“
ZEIT ONLINE: Wir Menschen kommen alle unfertig auf die Welt.
Theweleit: Aber wie man sich dann entwickelt, ist bei jedem verschieden. Ein Babykörper, der freundlich behandelt wird, entwickelt das, was die Psychoanalyse die libidinöse Besetzung der Haut nennt, der eigenen Außengrenze; durch Berührung, durchs Gehaltenwerden, durchs Füttern. Diese Erfahrungen ermöglichen es kleinen Kindern, sich aus der Symbiose mit der Mutter herauszuentwickeln. Das Kind lernt, sich als ein von der Umwelt und anderen Menschen unterschiedliches Selbst wahrzunehmen. Es entwickelt ein Gefühl für die eigenen Grenzen. Es wird ein Ich. Wenn man geprügelt wird, kaltgelassen, nicht regelmäßig gefüttert oder anders abgelehnt wird, gelingt das nicht.
ZEIT ONLINE: Was passiert dann?
Theweleit: Dann flüchtet man vor diesen intensiven und negativen Reizen nach Innen. Der Körper füllt sich mit Ängsten, die nicht nach außen abführbar sind. Das ist das angstbesetzte Männlichkeitsprinzip, das ich beschrieben habe. Deshalb versuchen sich diese Männer, einen Panzer zu bauen, und deshalb sprechen diese Männer immer in Notwehr. Ihr Hauptmittel der „Kommunikation“ wird Gewalt. Die Selbstpanzerung ersetzt ihr Ich.
ZEIT ONLINE: Auch bei Politikern.
Theweleit: Hitler redete nur in behaupteter Notwehr. Die ganzen Dreißigerjahre hindurch sagte er, Deutschland sei zerschnitten worden. Elsass-Lothringen, Saarland und Nordschleswig weg, Oberschlesien weg und polnischer Korridor. Das sollte alles wieder dran sein, eine Körperganzheit werden. Die Nazis haben ihre Deutschlandkarten mit dicken Rändern gezeichnet: Deutschland ausgeschnitten aus der Welt. Dann fügten sie einen Teil nach dem anderen wieder an: Saarland, Nordschleswig, polnischer Korridor, Oberschlesien, Münchner Abkommen. Und als er so weit war, griff Hitler Polen an. „Make Germany Great Again“ war das Programm. Mit Österreich dran war der Körper dann komplett, „heil“. Was Trump jetzt erzählt, mit der Bay of America, Grönland, Gaza oder Panama, ist etwas sehr Ähnliches.
“Männer weltweit sind nach wie vor eine Spezies, die Leute hervorbringt, die Lust am Töten haben.”
– Klaus Theweleit
ZEIT ONLINE: Sie skizzieren in Männerphantasien das, was Sie „soldatische
Männlichkeit“ nennen. Beobachten Sie seit dem Überfall Putins auf die Ukraine und der Aufrüstung in Europa eine Rückkehr dieser Form von Männlichkeit?
Theweleit: Natürlich, das ist leicht zu sehen und läuft schon seit spätestens dem jugoslawischen Zerfallskrieg in den 1990er-Jahren. An den Befunden ist nicht viel zu ändern: Die Töter töten, die Vergewaltigungen geschehen, Opfer sind überwiegend Zivilisten. Die Zahl der Femizide steigt. Männer weltweit sind nach wie vor eine Spezies, die Leute hervorbringt, die Lust am Töten haben. Auch der Terror der Hamas fügt dem nichts hinzu, was wir nicht schon an anderer Stelle gesehen hätten. Wer all dies kennen will, kennt das. Wechselnd ist die Intensität, mit der der Horror abläuft in den verschiedenen Weltteilen. Über Krieg habe ich dabei nie geschrieben. Sondern über Gewalt von bestimmten Männern. Über die Lust an der Gewalt und die Lust am Töten. Die ist nicht an den Krieg gebunden.
ZEIT ONLINE: Was macht diese Lust aus, warum ist gerade das Militär so attraktiv für die Sorte gewalttätiger Männer, die Sie beschreiben?
Theweleit: Vielen dieser Männer mit den angsterfüllten Körpern hilft das Militär. Sie genossen und genießen seine Zwangsstruktur. In Deutschland bis 1945 galt das Militär als Stätte männlicher Neugeburt. Es half, aus der als negativ empfundenen Verbindung mit dem Prinzip Weiblichkeit herauszukommen. Der Typ, der sich panzert, wandelt die körperlichen Symbiosen in Hierarchien um. Das ist der Grundprozess des sogenannten faschistischen Handelns. Alles, was mal symbiotisch war, alles was in Beziehungen wurzelte, wird in ein abgestuftes, hierarchisches Gesellschaftsprinzip umgewandelt. Das geht, wie wir jetzt lernen, auch ohne Militär.
“Wir haben es aber zu tun mit Menschen, die sozusagen körperlich antidemokratisch sind.”
– Klaus Theweleit
ZEIT ONLINE: Die klaren Hierarchien ersparen mühsame Beziehungsarbeit.
Theweleit: Die ja eine Arbeit unter Gleichen sein sollte. Wir haben es aber zu tun mit Menschen, die sozusagen körperlich antidemokratisch sind. So viel kann man sagen. Sie bauen zwanghaft ihr Leben lang an der Unverletzlichkeit ihrer Körpergrenzen. Ihr Panzer wird brüchig, sobald komplizierte Situationen an den Körper herankommen. Dazu gehören Forderungen von Frauen, dazu gehört auch die Erotik. Jede differenzierte Wirklichkeit bedroht sie sofort, alles um sie herum soll genau so funktionieren, wie sie sich das zwanghaft vorstellen. Deshalb kommt dann bei den Incels raus: Keine Frau genügt meinen Ansprüchen.
ZEIT ONLINE: Ausgangspunkt ihrer Analyse in Männerphantasien waren die Aufzeichnungen von Freikorpskämpfern in den 1910er- und 1920er-Jahren. Das ist nun hundert Jahre her. Seitdem hat sich doch einiges verändert, Jungs werden anders erzogen, einfühlsamer, liebevoller.
Theweleit: Natürlich, da hat sich ungeheuer viel verändert! Mein Vater sagte noch: Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie. Das stehe in der Bibel. Das war der einzige Satz, den er je aus der Bibel zitierte. Meine Generation musste aber nicht mehr zum Militär. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren haben wir als Jugendliche einen spezifischen Blick entwickelt. In der Stadt flanierend, von Flipperhalle zu Flipperhalle, sagten wir: „Sieh mal den da drüben. In welchem KZ der wohl Wächter war.“ Das war unser Blick auf „die Alten“. Dann kamen in den Sechzigern und Siebzigern politisch der Antikolonialismus dazu, der Feminismus und die Ökos. Durch all das ist der Giftpegel, wie ich das nenne, bei uns deutlich gesunken.
ZEIT ONLINE: Aber jetzt steigt er wieder.
Theweleit: Ja, jetzt steigt der Giftpegel wieder.
ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich das?
„Rechts aus Verlassenheit“
Theweleit: Erklären wäre zu viel gesagt. Aber es könnte die Reaktion auf ein Vakuum sein. Es passiert ja nicht zum ersten Mal. Thomas Heise hat in den Neunzigern den Dokumentarfilm Stau gemacht, über rechte Jugendliche in der Ex-DDR, in Halle-Neustadt. Die liefen durch die Straßen und grölten rassistische Parolen. Viele waren Kinder alleinerziehender Mütter, die mit der sogenannten Wende die Strukturen verloren, die sie sich in der DDR aufgebaut hatten. Diese Jungen kamen nicht aus dem Militär, hatten nicht die prügelnden Väter erlebt wie die Freikorpsleute. Einige waren arbeitslos, mit 16, suchten eine Stelle, bestanden eine Prüfung nicht, flogen raus, hatten nichts. Vorher gab es in der FDJ immer jemanden, den sie ansprechen konnten, sagt einer. Dieses Gerüst fiel weg. Manche waren aus Überzeugung rechts, andere aber waren rechts aus Verlassenheit, weil sie in einem Vakuum waren.
ZEIT ONLINE: Und dieses Vakuum füllten dann Neonazis.
Theweleit: Westdeutsche Neonazirechte, die sich um die Jugendlichen kümmerten. Während der „liberale Westen“ ihre Jugendzentren dichtmachte. Diese Jugendlichen sind heute im guten AfD-Alter.
ZEIT ONLINE: Auf welches Vakuum ist dann der jetzige maskuline Backlash eine Reaktion?
Theweleit: Das Vakuum ist an verschiedenen Stellen der Welt und zu verschiedenen Zeiten ein anderes. Wir sollten nicht glauben, wir könnten alles mit einer Sache erklären. Im neuen Nachwort der Männerphantasien habe ich Untersuchungen von Shereen El Feki an arabischen jungen Männern aus Ägypten, dem Libanon, Marokko und Palästina zitiert, die sich regelrecht „entmannt“ fühlen, wenn sie keinen Job haben. Sie sollen ihre Familie ernähren, können es aber nicht. Sie fühlen sich im Geschlechtsteil bedroht, sprechen tatsächlich von Kastration. Das ist in unserer Kultur nicht ganz so krass.
ZEIT ONLINE: Auch in westlichen Ländern ist das männliche Versorgermodell auf dem Rückzug, alte Industriejobs gehen verloren, Jungs schwächeln in der Schule. Das sind ja reale Erfahrungen. Bei der Bundestagswahl war die AfD bei Männern zwischen 35 und 44 Jahren die stärkste Partei.
Theweleit: Ja, aber ich vermute mittlerweile, man kann von der Struktur der laufenden Entwicklungen am ehesten etwas wahrnehmen, wenn man auf das große Wort „verstehen“ verzichtet. Das Eingeständnis, dass wir es mit etwas Ungewohntem zu tun haben, womöglich mit einer neuen Art Wirklichkeitsauffassung, wäre angemessener.
ZEIT ONLINE: Neue Art der Wirklichkeitsauffassung – was meinen Sie damit?
Theweleit: Ich habe die angstbesetzte, gewalttätige Männlichkeit beschrieben. Denken Sie an den Attentäter von Halle: Als es ihm nicht gelingt, die Tür zur Synagoge aufzubrechen, beschimpft er sich selbst als Flasche, die wieder mal alles verkackt hat. Dabei filmt er sich. Aber das, was jetzt passiert, was Trump, Putin oder auch Le Pen oder Weidel machen, das hat eine Seite, die angstfrei scheint. Eine neue Sorte auftrumpfender Überlegenheit. Das zieht Leute an. Sie lügen und betrügen völlig unverblümt, sie verdrehen alles, wie es ihnen passt, und sie sind sicher, dass ihre Anhänger genau das wollen. Es ist ein Sprung in eine neue Art des Umgangs mit der Wirklichkeit.
“Man hört sie immer dasselbe sagen, als seien wir alle schwer von Begriff.”
– Klaus Theweleit
ZEIT ONLINE: Für die Ihnen aber noch das Instrumentarium fehlt, die Sprache?
Theweleit: Ja, die Sprache, die ich allenthalben höre, fasst es nicht. Das ist wie bei den Quantenphysikern, die keine Worte mehr finden für die Fähigkeiten der neuen Computergenerationen, die sie erfinden. Gottfried Benn schrieb, unsere Sprache sei hinter der tatsächlichen Entwicklung der Menschheit weit zurück. Auch deshalb wirkt das Gerede von Politikern heute so formelhaft. Man hört sie immer dasselbe sagen, als seien wir alle schwer von Begriff. Diese Sprache ist auch eine Art Panzer, der vor dem schützt, was schon real ist, aber was man nicht beschreiben kann oder will. Ich bin allerdings in der glücklicheren Lage, mich nicht äußern zu müssen. Diese Freiheit haben die Politprofis nicht.
ZEIT ONLINE: Das Spektakuläre an den Männerphantasien war, dass es Ihnen gelang, mithilfe der Psychoanalyse eine neue Sprache für männliche Gewalt zu finden. Was ist in der jetzigen Phase psychoanalytisch das Neue, was gibt es hinter den Ideologien zu entdecken?
Theweleit: Es gibt Neues zu entdecken, wenn man die Elektronik miteinbezieht. Eine riesige Masse von Leuten, die vorher im Dunkel saßen, können sich heute übers Netz verbinden und für jede Scheiße, die sie schreiben, Millionen Klicks und eine imaginäre Macht kriegen, die sich politisch in Wirklichkeiten umsetzen lässt. Auch die Strategie Flood the zone with shit geht nur dank der Elektronik. Man darf über jeden irgendeinen Blödsinn verbreiten, vollkommen egal, ob das stimmt, und kommt damit durch.
ZEIT ONLINE: Warum?
Theweleit: Weil zum Beispiel die Fernsehmoderatoren völlig hilflos damit umgehen. Die glauben noch, wir könnten mit solchen Leuten argumentieren. Jedes Mal wieder reden sie auf die ein und rechnen denen vor: Das stimmt doch nicht, was Sie sagen, Frau Weidel. Aber man kann doch nicht mit Leuten argumentieren, die erstens wissen, dass es nicht stimmt, was sie erzählen, und die zweitens triumphieren, dass sie damit durchkommen. Sie wissen, dass ihre Anhänger das, was andere „Argumente“ nennen, lächerlich finden.
“Man kommt nicht umhin, heute das Elektronische als Körperteil wahrzunehmen.”
– Klaus Theweleit
ZEIT ONLINE: Wie kommt es zu diesem neuen Denken und was haben die elektronischen Medien damit zu tun?
Theweleit: Man kommt nicht umhin, heute das Elektronische als Körperteil wahrzunehmen. So wie in den Jahrhunderten zuvor das Maschinelle zum Teil unserer Körperlichkeit wurde. Die Elektronik verändert früh die Gehirne, verschaltet die Synapsen anders. Das kann man mittlerweile neurologisch nachweisen. Ich bin nicht etwa gegen Elektronik, im Gegenteil. Die Bekämpfung des Klimawandels geht nur unter Anwendung neuester Technologien. Aber meiner Frau, mit ihrem Blick als Psychoanalytikerin auch für Kinder, fallen dauernd Kinder auf, die schon im Kinderwagen einen Monitor in der Hand haben. Angeschoben von Eltern, die am Handy hängen. Auch da entsteht so etwas wie ein Beziehungsvakuum.
„Das geht nur mithilfe von Frauen“
ZEIT ONLINE: Junge Männer scheinen auch davon besonders betroffen, sie orientieren sich im Digitalen teils an Vorbildern, die man heute toxisch nennt. Für sie bräuchte es doch ein Angebot, eine attraktive Männlichkeit, in die sie hineinwachsen können, die weder gewalttätig ist, noch einfach nur in der Übernahme weiblich konnotierter Eigenschaften besteht.
Theweleit: Man muss dafür keine feminisierten Rollen annehmen. Wieso sollte das Kümmern um Kinder nur eine weiblich konnotierte Eigenschaft sein? Meine Frau und ich haben uns die Kinderbetreuung geteilt, beide mit Halbtagsjob, sie als Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ich als Halbtagsschriftsteller. Das war gut machbar. Es ist nur schlecht für die Rente, sonst war das prima. Zur männlichen Selbstverpflichtung gehört es in meinen Augen, die in den eigenen Körper eingegangenen Gewaltformen zu bemerken und sich davon zu entfernen, sie abzubauen – so etwas wie die zivilisierende Aufgabe für Männlichkeit heute. Das geht nur mithilfe von Frauen.
ZEIT ONLINE: Das ist auch ihre persönliche Erfahrung?
Theweleit: Ich war als Junge ein ziemlich cholerischer Typ und habe mich dauernd geprügelt. Fußball half schon mal, aber wenn ich ein einigermaßen aushaltbarer Mensch geworden sein sollte, geht das überwiegend auf Frauen zurück.
“Das einzelne Subjekt aber gibt es nicht, das ist eine historische Schimäre.”
– Klaus Theweleit
ZEIT ONLINE: Aus eigener Kraft kann der Mann es nicht schaffen.
Theweleit: Man sollte immer davon ausgehen, dass ein Mensch nicht alleine existiert. Die Zahl eins wäre zu streichen. Philosophen und Historiker gehen immer von der Zahl eins aus: Das Hirn denkt, das Subjekt agiert. Das einzelne Subjekt aber gibt es nicht, das ist eine historische Schimäre. Das Subjekt beginnt zwischen Zweien; dann Dreien, Vieren – die Konstellation ist erweiterbar.
ZEIT ONLINE: Sie meinen, man steht immer in Beziehung zu anderen.
Theweleit: Ja, und wenn man diese Beziehungen abschneidet, wie es bei den bekannten Attentätern gut belegt ist, endet das in Gewalt. Menschen können sich überhaupt nur durch Beziehungen verändern und entwickeln. Man selbst bildet sich ja alles Mögliche über die eigene Struktur ein, das bedeutet aber nichts.
ZEIT ONLINE: Was bedeutet das für die Politik? Gibt es beispielsweise einen Umgang mit der Bedrohung durch Russland, mit der Möglichkeit eines Krieges, der nicht in die alten Muster soldatischer Männlichkeit zurückfällt?
Theweleit: Das Erste wäre, zu begreifen, dass die eigene Redeposition keine Machtposition ist. Das, was wir ins Private oder ins Literaturhaus hineinreden, kümmert sonst ja keinen Menschen. Das halten die meisten Leute schon nicht aus. Sie wollen, dass das, was sie sagen, bedeutungsvoll ist. Darin steckt der Anspruch einer Machtausübung, der leicht dazu führt, dass alles, was diese Machtausübung stört, unterdrückt wird; zum Beispiel andere Positionen oder die leidigen, sogenannten Widersprüche, die als störend empfunden werden und verschwinden sollen.
ZEIT ONLINE: Sie meinen die ganze performative Kriegsdiensterklärung, Promis, die sagen: „Ich würde kämpfen!“
Theweleit: Furchtbar! Ebenso wie diese Männer und auch Frauen, die aus ihren
Talkshowsesseln heraus Waffen und Bomben fordern. So zu sprechen, finde ich, um es freundlich zu sagen, gedankenlos. Wenn man mal mit dem Nachdenken anfinge, würde man feststellen, wie tief man in den sogenannten Widersprüchen feststeckt. Ich kann sagen: Ich bin absolut gegen den Krieg. Was Putin tut, wird an dieser Haltung nichts ändern. Trotzdem hat die Ukraine natürlich das Recht, sich zu wehren. Und sie brauchen Waffen dafür, irgendwer muss ihnen die geben. Das widerstrebt vollkommen dem, was ich als absoluter Kriegsgegner denke. Ich gehe aber deshalb nicht auf die Straße und halte Transparente hoch mit der Aufschrift „Keine Waffen für die Ukraine“. Passiver Widerstand zum Beispiel wurde nicht einmal erwogen. Solche Gemengelagen sind voller Widersprüche, sie sind nicht mit irgendeiner Logik auflösbar.
ZEIT ONLINE: Gilt das auch jenseits des Ukrainekriegs?
Theweleit: Ja. Die Hamas will Israel auslöschen, Netanjahu die Hamas. Das heißt, diese Lage ist ein unlösbares Problem. Das dauerpräsente Allmachtsgerede, das auch dazu beinahe alle Medien durchzieht, das so tut, als hätte es Lösungen, löst nichts.
ZEIT ONLINE: Wie hält man das aus?
Theweleit: Nicht irre zu werden an der „Konstruktion Mensch“ ist schon eine ziemliche Kunst. Man kann von der Psychoanalyse unter anderem lernen, sich mit der eigenen tatsächlichen Ohnmacht vertraut zu machen. Denken wir noch mal an die Geschichte von Karski. Hitler und Eichmann waren nicht zu stoppen, schlossen Karski und Lanzmann, da kein real existierender Mensch es glauben konnte, was die betreiben. An solche Verschiebungen im Realen kommt man nicht heran, indem man einer Partei beitritt oder sowas. Das funktioniert alles nicht. Es geht nur über die Art des Zusammenlebens. Das ist meiner Meinung nach ein wirklicher, für die einzelnen Menschen gangbarer Weg. Es gibt doch genug Vernünftiges und Hilfreiches, was man im Alltag tun kann, in aufmerksamen Lebensabläufen, und in dem, was man schreibt und sagt. Ich muss mir dabei nicht einbilden, ich könnte einen Putin oder einen Trump bekehren. Die können mich mal. Oder nein: besser nicht zu nah ranlassen.
Klaus Theweleit
Jahrgang 1942, war Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. Berühmt geworden ist er mit seiner 1977 erschienenen Dissertation Männerphantasien, die sich essayistisch mit der Freikorpsliteratur 1918–1923 beschäftigt. Seitdem hat er Bücher unter anderem über Kolonialismus, die Entstehung der Sprache, Machtverhältnisse in der Kunstproduktion und über Fußball geschrieben. Er lebt mit seiner Frau in Freiburg.