Linke beklagt hohe Zahl antisemitischer Straftaten in Sachsen

Die Zahl antisemitischer Straftaten in Sachsen sinkt, bleibt aber laut einer Auswertung der Linken auf hohem Niveau. Ein Brennpunkt ist Leipzig.
Die Linke beklagt einen mangelnden Verfolgungsdruck bei antisemitischen Straftaten in Sachsen. Vergangenes Jahr seien der Polizei 267 solcher Straftaten gemeldet worden, informierte die Landtagsfraktion. Die Zahl ergebe sich aus Antworten des Innenministeriums auf regelmäßige Kleine Anfragen zu dem Thema.
Damit habe der strafbare Judenhass nach dem Rekordwert von 2023 mit 275 Taten kaum nachgelassen, konstatierte die Landtagsabgeordnete Juliane Nagel. Schwerpunkte seien die Städte Leipzig (87), Dresden (25) und Chemnitz (22).
Unter den Taten seien zahlreiche Volksverhetzungen (111) sowie das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (83), aber auch 27 Sachbeschädigungen und mehr als ein Dutzend Beleidigungen. Ferner habe es eine Reihe direkter Bedrohungen und Nötigungen sowie eine gefährliche Körperverletzung gegeben.
Taten sind großteils „rechtsmotiviert“
Wie in den Vorjahren seien die meisten Taten von den Behörden als rechtsmotiviert eingestuft (209) worden. 34 Taten wurden einer „ausländischen Ideologie“, neun galten als linksmotiviert, acht als religiös motiviert und sieben wurden nicht näher zugeordnet.
Das Landeskriminalamt hatte im Februar mitgeteilt, der Trend bei antisemitischen Straftaten sei erstmals seit Jahren wieder rückläufig. Die Fallzahlen seien im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2023 gesunken, lägen aber nach wie vor über denen der Jahre zuvor. Genaue Zahlen waren noch nicht genannt worden.
Kaum Verurteilungen – Kritik an der Justiz
„An sächsischen Gerichten kam es 2024 nur zu fünf Verurteilungen wegen antisemitischer Delikte, jeweils zu Geldstrafen und einmal zu gemeinnütziger Arbeit“, ergänzte Nagels Fraktionskollege Rico Gebhardt. „Das ist ein Hauch von nichts und eine äußerst irritierende Rückentwicklung.“
2023 und 2022 seien noch jeweils 16 Personen verurteilt worden, 2021 den Angaben zufolge 26. Auch diese Zahlen ergeben sich laut der Landtagsfraktion aus Antworten des Innenministeriums. „Mit der Fallentwicklung hält der Verfolgungsdruck – falls man das noch so nennen will – nicht einmal ansatzweise Schritt.“
Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden hatte unlängst beklagt, dass der alltägliche Antisemitismus wachse. Vertreter nannten verbale Attacken in der Öffentlichkeit und sprachen von der Angst, offen Symbole des Judentums zu tragen sowie Hassmails im Postfach.
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Josa Mania-Schlegel
06.11.2023
„Ich spreche kein Hebräisch mehr auf der Straße“ – Wie geht es jüdischen Menschen in Leipzig?
Ist Judenfeindlichkeit oder sogar -hass auch in Leipzig allgegenwärtig? Die LVZ hat drei Menschen gefragt, darunter Leipzigs derzeit wohl bekanntesten Juden. Und eine Frau, die nach einer antisemitischen Attacke Leipzig verließ.
Am Dienstag ist es einen Monat her, dass Hamas-Terroristen Israel überfielen und mehr als Tausend Menschen töteten. Am selben Tag wird das Landgericht Leipzig mehr als sonst von Polizisten bewacht sein: Gil Ofarim steht vor Gericht, weil er vor zwei Jahren behauptete und eidesstattlich erklärte, in einem Leipziger Hotel antisemitisch beleidigt worden zu sein. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass er lügt.
Es sind zwei Fälle, die nicht viel, eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben. Und doch müssen jüdische Menschen und Einrichtungen in Deutschland heute geschützt werden. Wie geht es den Betroffenen?
Auch vor dem Ariowitsch-Haus im Leipziger Waldstraßenviertel steht seit Anfang Oktober ein Polizei-Wagen. Wer in Leipzig „jüdisch“ ausbuchstabieren will, muss zuerst hier in den zweiten Stock kommen. Das Haus ist Leipzigs zentraler jüdischer Ort – und Küf Kaufmann sein Direktor.
Seit einem Monat: 2.000 antisemitische und antimuslimische Straftaten
Es gibt Kirschtorte und Kaffee. Dann stellt Kaufmann klar, dass er über eines derzeit kein Wort verlieren will: Gil Ofarim. Über das, was ihn seit Wochen ununterbrochen beschäftigt, jedoch schon: Das Sterben in Israel – und die Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland.
„Als ich vor mehr als 30 Jahren nach Deutschland kam, hatte ich eine rosa Brille auf und blaue Augen“, sagt Kaufmann. „Jetzt habe ich keines von beidem mehr. Ich muss sagen: Ich bin enttäuscht.“
Dass sich Jüdinnen und Juden hierzulande bedroht fühlen, ist mehr als ein Gefühl. Es zeigt sich etwa darin, dass das Bundeskriminalamt (BKA) kürzlich überraschend mitten im Jahr eine Zahl veröffentlichte: 2000. So viele Straftaten regierstierte das BKA in Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt im vergangenen Monat.
Unter den Taten seien sowohl antisemitische als auch antimuslimische Taten, erklärt ein Sprecher auf Anfrage. Die Gewaltstraftaten „im unteren dreistelligen Bereich“, so das BKA, stünden jedoch im Zusammenhang mit pro-palästinensischen Kundgebungen in Berlin.
„Antisemitismus ist nicht gestern zur Welt gekommen“
Sind es solche Zahlen, die Sie enttäuschen, Herr Kaufmann? Es sei eher die fehlende Solidarität, sagt dieser. „Es gibt viele Menschen, die uns nach den Terrorangriffen auf Israel ihre Solidarität gezeigt haben: Organisationen, private Leute“, so der 76-Jährige. „Aber ich weiß ganz genau: Das ist nicht die Mehrheit.“
Ein zweite Frage, bevor man weiterzieht: Gibt es heute mehr Antisemitismus als früher? „Eine komplizierte Frage“, sagt Kaufmann. „Antisemitismus ist nicht gestern zur Welt gekommen. Er ist auch nicht morgen verschwunden.“
Im Südraum Leipzig, in der kleinen Stadt Böhlen, sitzt André Stolle auf dem Werkshof seiner Abrissfirma. Ein Mann, den viele in Leipzig kennen. Etwa, weil er kürzlich mithalf, einen Schornstein in Connewitz zu sprengen. Aber nicht viele wissen, dass Stolle jüdisch ist. Nicht einmal er selbst denke jeden Tag daran. „Zum letzten Mal bei der Beerdigung meiner jüdischen Mutter“, sagt er.
„Leipzig ist nicht dafür bekannt, antisemitisch zu sein“
Den Fall Ofarim verfolgte er aber ganz genau. Und fand ihn, damals im Oktober 2021, „ungewöhnlich“. Denn: „Leipzig ist eigentlich nicht dafür bekannt, rassistisch zu sein, antisemitisch zu sein“, sagt er. Die Stadt sei eine Bürgerstadt, in der bürgerschaftliches Engagement groß geschrieben werde. Deshalb, sagt Stolle, „passte das nicht so richtig hierher.“
Er erinnert sich auch, damals Küf Kaufmanns Reaktion registriert zu haben. Kaufmann und der Hoteldirektor Andreas Hachmeister sind befreundet. Das Hotel, in dem der Sänger Gil Ofarim einchecken wollte, befindet sich gegenüber der jüdischen Synagoge. „Auch Küf hat damals gesagt, er könne sich das schwer vorstellen“, sagt Stolle.
Dass es Antisemitismus in Leipzig gibt, weiß Coral Guter. 2021 wurde die damals 26-Jährige über Wochen hinweg von ihrer Nachbarin drangsaliert – seit diese herausfand, das Guter Jüdin ist. An einem Tag, Guter lud gerade einen Koffer in ihr Auto, eskalierte die Situation. „Raus, raus, raus, raus!“, habe ihre Nachbarin gerufen und den Weg zurück ins Haus verstellt, sie geschubst. Als sie doch wieder in ihre Wochnung kam, machte sich die Nachbarin an ihrer Tür zu schaffen. Erst die Polizei kann sie beruhigen. Später ermittelt die Soko Rex.
Burkhard Jung lud die Jüdin zum Gespräch ein
Guter kann die Tat mit Videoaufnahmen belegen, die sie damals der Polizei zeigt. Sie beschließt noch nachts, die Stadt Leipzig für immer zu verlassen. Nachdem sie den Vorfall auf Facebook öffentlich macht, bittet sie Burkhard Jung zu einem Gespräch. An einen „freundlichen und respektvollen“ Oberbürgermeister erinnert sich Guter, die nicht mehr in Deutschland lebt, heute. Damals sprach sie noch auf einer Kundgebung vor 400 Menschen. „Das war sehr aufregend für mich.“
Trotzdem habe sie der Angriff für immer verändert. „Ich spreche kein Hebräisch mehr auf der Straße“, sagt sie. „Klar hat mich diese Nacht traumatisiert, aber ich möchte nicht zulassen, dass jemand meinen Mut bricht. Liebe ist stärker als Hass.“
Und Coral selbst veränderte damals ihr Leben. Sie schrieb sich an einer Universität für Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft ein. „Ich wollte irgendwie daran mitwirken, die Beziehung zwischen Deutschland und Israel noch mehr zu stärken“, sagt sie. Leipzig, wo viele ihrer Freunde leben, besuche sie heute nur noch sporadisch.