Skandal weitet sich aus: Noch mehr Polizei-Munition in Sachsen verschwunden? Die Aufklärung bleibt aus

Eine Munitionsaffäre bei der sächsischen Polizei hat Politikern und Beamten den Job gekostet. Jetzt stellt sich heraus: Die Dimension des Skandals ist um ein Vielfaches größer. Nach acht Monaten ist immer noch unklar, was mit 180.000 Schuss Munition passiert ist.

Die geheimen Schattenmänner im Dienst des Freistaats Sachsen griffen ins Volle. 7000 Schuss Munition für Kurz- und Langwaffen schleppten die Beamten des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) heimlich aus der Waffenkammer des Dresdner Landeskriminalamts (LKA) in ihre Zivilautos mit getarnten Nummernschildern. Ziel der illegalen Kommandoaktion, so die Staatsanwaltschaft später, war eine Schießanlage in Mecklenburg-Vorpommern.

Der Platzbetreiber, der zeitweise vom Verfassungsschutz der rechtsradikalen paramilitärischen Gruppe „Nordkreuz“ zugeordnet wurde, nahm laut Ermittlungen das schwere Munitionspaket als rein private Bezahlung für die Nutzung der gesamten Trainingsanlage in Empfang. Anschließend konnten die MEK-Spezialisten aus Pistolen, Maschinenpistolen und Sturmgewehren alle Restbestände verfeuern, die sie in den vergangenen Wochen offiziell von ihrer Dienststelle erhalten hatten. Der Diebstahl von 7000 Schuss Munition, begangen durch 17 Beamte der Spezialeinheit, blieb unbemerkt.

Mit Grauen denkt das sächsische Innenministerium an die sogenannte Munitionsaffäre zurück. Sie wurde in den Jahren 2021 und 2022 nach und nach aufgedeckt – trotz des Sperrfeuers alter Seilschaften aus dem verkrusteten Polizeiapparat, trotz Intrigen und Bedrohungen. Etliche hohe Beamte, Behördenleiter und selbst der damalige Innenminister stolperten über den Skandal.

Noch mehr Munition verschwunden als bislang bekannt?

Jetzt kehrt das Grauen zurück. Bei der sächsischen Polizei, insbesondere im Bereich der Polizeihochschule in Rothenburg, ist nach Informationen von FOCUS online womöglich die gigantische Menge von 180.000 Schuss Munition verschwunden.

Innenminister Armin Schuster (CDU), der früher als Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenschutz wegen des Hochwassers an der Ahr teils scharf kritisiert wurde, soll entsetzt sein. Einen Skandal um Munitionsverluste kannte er bislang nur aus der Amtszeit seines Vorgängers Roland Wöller (https:www.woeller-ruecktritt.de). Ihn hatte Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) vor Ablauf der Untersuchungen und auf enormen Druck der Polizeigewerkschaften gefeuert.

Die Menge der vermissten Munition wiegt nach Berechnung eines von FOCUS online beauftragten Waffenexperten zirka 2,34 Tonnen und kostet im Einkauf rund 41.000 Euro. Vermisst wird offenbar Munition für Pistolen (6 und 9 mm), für Maschinenpistolen und Sturmgewehre.

Ministerium spricht von „Nachweislücken“

Martin Strunden, Sprecher des sächsischen Innenministeriums, bestätigte auf Anfrage, dass das Staatsministerium des Innern am 18. April 2024 „über erste Nachweislücken im Bereich Waffen und Munition“ informiert worden sei. Im Zuge einer Revision in allen Dienststellen, so Strunden, habe die Polizeihochschule „erhebliche Differenzen und Lücken beim Nachweis von verbrauchter Munition“ gemeldet. Seitdem arbeite eine neunköpfige Arbeitsgruppe an der Aufklärung.

Acht Monate später liegt in diesem dringlichen Untersuchungsfall noch immer kein Ergebnis vor. Im sächsischen Innenministerium hegt man die Hoffnung, dass ein Dokumentationsfehler Ursache für den skandalösen möglichen Munitionsverlust sein könnte.

„Alte Seilschaften haben dafür gesorgt, dass vieles unter der Decke blieb“

Mehrere Polizei-Insider, mit denen FOCUS online sprach, sind allerdings skeptisch. „Nicht nur Rekruten der Bundeswehr, sondern natürlich auch Polizisten müssen beweisen und belegen, wie oft sie im Training geschossen haben. Warum sollte das in Sachsen anders sein?“, fragt ein Hauptkommissar aus Leipzig. Es gibt andere gestandene Polizeibeamte, die auf die lange Skandal-Liste der sächsischen Polizei verweisen: „Alte Seilschaften haben dafür gesorgt, dass vieles unter der Decke blieb.“

Das Mobile Einsatzkommando, das Munition aus dem Landeskriminalamt klaute, fühlte sich damals offenbar unantastbar. Der Aufenthalt in einem exklusiven Viersterne-Ski-Hotel in den Alpen wurde kurzum als Fortbildungsreise angemeldet. In Leipzig handelten Polizisten sogar mit gestohlenen Rädern aus der Asservatenkammer – Kollegen bekamen Sonderpreise.

In mehreren Polizei-Fachschulen ging es drunter und drüber. In Schneeberg soll ein Ausbilder Frauen bedrängt und einen Schüler mit diesen Worten geschlagen haben: „Ich mag keine Thüringer.“ Eine Lehrerin kam betrunken in den Unterricht – erst da zog das Ministerium die Bremse und bestellte die Delinquenten ein.

Ein leitender Lehrer an der Fachschule Chemnitz benahm sich wie ein Rechtsradikaler: Er pöbelte mit rassistischen Parolen und schockte junge Frauen mit sexistischen Sprüchen. Eine Lokalzeitung brachte bei der Vielzahl der Vorfälle diese Schlagzeile: „Sex, Suff und Schläge an sächsischer Polizeifachschule“.

Drahtzieher sammelten Material gegen den Minister

Der damalige Innenminister Wöller wollte das polizeiliche Tohuwabohu stoppen. Der CDU-Politiker kündigte strenge Auflagen und Kontrollen an, scheute auch nicht davor zurück, mehrere nach seiner Ansicht unfähige leitende Beamte abzusetzen. Zum Beispiel traf es im April 2021 LKA-Präsident Petric Kleine und Abteilungsleiter Sven Mewes, die die Verantwortung für den Munitionsklau übernehmen mussten.

Doch das Imperium sollte zurückschlagen. Unter Einschaltung der Polizeigewerkschaften GdP und BDK sammelten die Drahtzieher Material gegen Wöller. „In der DDR nannte man das Kompromate“, sagte ein Beamter des gehobenen Dienstes, der den Umgang der Stasi noch erlebt hat, zu FOCUS online.

Bei Wöller glaubten die außerdienstlichen Sonderfahnder einen Treffer zu landen. Sie erfuhren, dass eine promovierte Studienfreundin von Wöllers Ehefrau sich für den Rektor-Posten der Polizeihochschule in Rothenburg beworben hatte – weil sie tatsächlich tadellose Qualifikationen vorweisen konnte. Doch Wöllers Feinde bezichtigten fortan den Innenminister der Kungelei und setzten Ministerpräsident Kretschmer unter Druck. Der gab schließlich nach. Am 22. April 2022 wurde Wöller entlassen.

Flexible Personalpolitik in Sachsen trifft auch Hochschul-Rektor

Heuern und feuern – diese flexible Personalpolitik ist in Sachsen offenbar gang und gäbe. Das jüngste Opfer: Dirk Benkendorff, Rektor der Polizeihochschule in Rothenburg, wo junge Leute für den gehobenen Dienst als Kommissar ausgebildet werden.

Aus dem Ministerium heißt es, Benkendorf habe mangelnde Führungskraft und sei untätig. Als großer Hoffnungsträger eingestellt, hat Benkendorff wohl schon nach eineinhalb Jahren seine Schuldigkeit getan. Vor einer Woche, am 10. Dezember, wurde er vorläufig abgesetzt.