Zahl der Obdachlosen in Sachsen wächst – Helfer und Institutionen sind am Limit

In Sachsen gibt es mehr Wohnungslose, in Leipzig stoßen Orte wie Bahnhofsmission und Oase räumlich und personell an ihre Grenzen. Laut Leiterin des Sozialamts könnte eine veränderte Schwerpunktsetzung der Kommune die Lage verbessern.

In Sachsen haben laut Statistischem Landesamt Anfang des Jahres 4535 wohnungslose Menschen Übernachtungsmöglichkeiten genutzt. Das seien 1600 Betroffene mehr gewesen als 2023, teilte die Behörde am Dienstag in Kamenz mit. Der deutliche Anstieg sei vor allem auf eine verbesserte Datenmeldung zurückzuführen. Allerdings gibt es weiterhin eine hohe Dunkelziffer.

Obdachlose, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, sowie Formen von verdeckter Wohnungslosigkeit wie zum Beispiel das Unterkommen bei Bekannten oder Angehörigen seien nicht berücksichtigt, heißt es. Die meisten Wohnungslosen (1465) lebten in Dresden, die wenigsten im Landkreis Mittelsachsen (45).

Hohe Auslastung der Übernachtungshäuser

Auch in Leipzig sind die jüngsten Erhebungen nicht lückenlos, fest steht aber: Die Zahl der Betroffenen steigt kontinuierlich. Wurden 2022 noch 552 wohnungslos Gemeldete registriert, waren es 2023 bereits 804 Personen und 2024 bislang fast 1000. Die Auslastung der Übernachtungshäuser ist mittlerweile nicht mehr nur im Winter, sondern ganzjährig hoch.

Zwar ist das Netz der Unterstützer für Obdach- und Wohnungslose in Leipzig ein dichtes, dennoch reichen die Kapazitäten nicht. „Im vergangenen Herbst kamen täglich etwa 60 bis 80 Leute zu uns, jetzt sind es zwischen 100 und 120“, sagt Joke Potzeldt vom Team der Bahnhofsmission.

Fachberatungsstellen sind überlastet

Die Einrichtung stößt damit sowohl räumlich als auch personell an ihre Grenze, und „oft müssten wir unsere Klientel an Fachberatungsstellen verweisen, aber die sind selbst völlig überlastet“. Im Leipziger Tagestreff „Oase“ steigt die Zahl derer, die den Ort als Postadresse nutzen. Leiter Benjamin Müller spricht von täglich zwei bis drei Neuanmeldungen, allein im August waren es 72.

Angesichts der Entwicklung scheint das von der Stadt vor zwei Jahren ausgegebene Ziel, Obdachlosigkeit abzuschaffen, in weite Ferne gerückt. Sozialamtsleiterin Martina Kador-Probst hält es weiterhin für erreichbar. „Dafür allerdings müsste die Kommune Investitionen auf den Prüfstand stellen und Schwerpunkte setzen“, sagt sie.
In Sachsen: Mehr als 70 Prozent wohnungsloser Menschen hatten keine deutsche Staatsbürgerschaft

Aussicht auf Verbesserung verspricht sich die Stadt durch die für 2026 geplante neue Notschlafunterkunft für Männer, zudem wird das Modellprojekt „Wohnung für alle“ verankert und von anfangs 25 Wohneinheiten auf 50 aufgestockt. Sowohl Bahnhofsmission als auch Sozialamt appellieren an die Bevölkerung, Menschen ohne Wohnsitz nicht auszugrenzen. „Da geht es um Enttabuisierung und mehr Teilhabe von Benachteiligten“, erklärt Potzeldt.

Zwei Drittel aller in Sachsen untergebrachten wohnungslosen Menschen waren männlich. Mehr als 70 Prozent der erfassten Personen hatten laut Landesamt keine deutsche Staatsbürgerschaft. Von dieser Gruppe kamen demnach mit 37 Prozent die meisten aus Syrien, weitere 20 Prozent aus der Ukraine und zehn Prozent aus Afghanistan.

Auch Menschen, denen Asyl zuerkannt wurde, die aber noch keinen eigenen Wohnraum hatten und deshalb in einer Flüchtlingsunterkunft lebten, galten im Sinne der Statistik als wohnungslos. Insgesamt habe die aktuelle Erhebung Menschen erfasst, die Ende Januar in überlassenem Wohnraum, Sammelunterkünften oder Einrichtungen für Wohnungslose untergebracht waren.

Die meisten von ihnen waren im Alter zwischen 18 und 50 Jahren. 22 Prozent seien jünger als 18 Jahre gewesen, 16 Prozent mehr als 50 Jahre alt. Die meisten der von Wohnungslosigkeit Betroffenen seien Alleinstehende sowie Alleinerziehende oder Paare mit Kindern.

Am Mittwoch, dem bundesweiten Tag der Wohnungslosen, machen auf dem Leipziger Nikolaikirchhof Institutionen und Vereine unter dem Motto „Für alle ein Dach“ auf das Problem aufmerksam und zeigen Angebote auf. Die Bevölkerung kann sich über Möglichkeiten informieren, ehrenamtlich mitzuhelfen oder zu spenden.

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Mathias Wöbking 11.09.2024

Hunderte Wohnungslose in Leipzig lassen sich ihre Post an „Oase“ zustellen

Fast 1000 Obdachlose sind in Leipzig gemeldet. Aber auch die Dunkelziffer ist hoch. Rund 650 Menschen lassen sich ihre Post an den Tagestreff „Oase“ zustellen. Auf dem Nikolaikirchhof findet am 11. September ein „Tag der Wohnungslosen“ statt.

Sue will ihr Leben jetzt in den Griff kriegen. „Das habe ich beschlossen“, sagt die 49-Jährige. Ein wichtiger Schritt dafür: Sie hat wieder eine Postadresse. Seit sie im April aus ihrer Wohnung in Leipzig-Connewitz ausziehen musste, waren keine Briefe mehr bei Sue angekommen: weder von den Behörden noch von der Arbeitsagentur noch von ihrer Bank.

Doch nun hat sie wieder einen Briefkasten. Die Oase, Kontaktstube für Wohnungslose der Diakonie Leipzig, sammelt ihre Post. Montags bis freitags kann Sue die Schreiben zwischen 12.30 und 14.30 Uhr abholen – so wie rund 650 weitere Menschen. Darüber hinaus bietet unter anderem auch der Tagestreff „Insel“ des Leipziger Suchtzentrums diese Möglichkeit an. Die Stadt Leipzig ist Auftraggeberin.

Leipziger Übernachtungshäuser mittlerweile auch im Sommer voll

In der Oase steigt die Zahl Jahr für Jahr: Seit 2018, als etwa 250 Menschen das Angebot nutzten, hat sie sich mehr als verdoppelt. „Der Trend setzt sich fort“, sagt Leiter Benjamin Müller. Täglich registriert die Anlaufstelle zwei bis drei Neuanmeldungen. Allein im August waren es 72. Für Müller ist das ein Indiz, dass sich das Problem der Wohnungslosigkeit in Leipzig verschärft.

Den Eindruck bestätigt auch das Leipziger Sozialamt. Hatten sich 2022 noch 552 Menschen wohnungslos gemeldet, waren es vergangenes Jahr bereits 804. Dieses Jahr sind es 944, darunter 639 Männer, 304 Frauen und eine diverse Person. Doch das dürften nicht alle sein, die ohne Obdach in Leipzig leben: Längst nicht alle melden sich, und auch in Tagestreffs wie der Oase oder in den Not-Übernachtungsstellen tauchen nicht alle auf.

Einige finden Schlupfwinkel: Abrissbauten oder Industriebrachen werden zwar auch im Raum Leipzig weniger, aber es gibt sie noch. Die Dunkelziffer erhöht sich zudem durch sogenannte „verdeckte Wohnungslosigkeit“: Menschen, die im Bekanntenkreis von einem Sofa zum nächsten ziehen, um nachts nicht draußen bleiben zu müssen. Gleichzeitig sind die Leipziger Übernachtungshäuser inzwischen sogar im Sommer fast voll: Im Juli 2024 waren durchschnittlich 192 der 220 verfügbaren Notbetten belegt.

„Wenn jemand einen schwachen wirtschaftlichen Hintergrund hat, kann es mittlerweile schnell passieren, dass man sich den Alltag nicht mehr leisten kann“, sagt Müller. Zumal der Leipziger Wohnungsmarkt nach wie vor angespannt ist. Die Mieten steigen: Sue zum Beispiel konnte sich ihre Connewitzer Bleibe nicht mehr leisten, in der sie 15 Jahre gelebt hatte.

In einem „Nationalen Aktionsplan“ hat die Bundesregierung das ehrgeizige Ziel ausgegeben, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Ein kleines Puzzleteil, das die Aufmerksamkeit für das Problem erhöhen soll, ist der bundesweite Tag der Wohnungslosen jährlich am 11. September. In Leipzig organisiert die „Arbeitsgemeinschaft Recht auf Wohnen“ die Aktion, ein Zusammenschluss aus Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Beschäftigten der Stadtverwaltung sowie Lokalpolitikern der Linken, Grünen und SPD.

Bei Kommunalwahlen haben Obdachlose in Sachsen allerdings kein Wahlrecht. Und auch vor Landtags-, Bundes- oder Europawahlen landen Wahlbenachrichtigungen nicht automatisch in der Poststelle eines Tagestreffs. Denn es handelt sich lediglich um eine Postadresse – keine Meldeadresse. Um wählen zu dürfen, müssen Wohnungslose zuvor beantragen, in ein Wählerverzeichnis eingetragen zu werden.

Wie die meisten Menschen ohne feste Bleibe hat Sue dieses Jahr bei keiner Wahl abgestimmt. Doch jetzt will sie Schritt für Schritt ins gesellschaftliche Leben zurückkehren: In der Oase hat sie sich gerade eine Bankkarte abgeholt, um leichter auf ihr Konto zuzugreifen – für ein kleines bisschen mehr Normalität.

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Mark Daniel 11.09.2024

Wie findet Leipzig einen Umgang mit Obdachlosigkeit?

2022 wollte die Stadt Leipzig Obdachlosigkeit abschaffen – jetzt gibt es mehr Menschen ohne Wohnsitz: Wie realistisch sind die Pläne und wie kann die Gesellschaft besser mit dem Phänomen umgehen?

Die Bahnhofsmission Leipzig ist am frühen Mittag rappelvoll. Besucherinnen und Besucher im Aufenthaltsraum, bei der Kaffeeausgabe, vor dem Eingang. Eine Normalität in der Einrichtung an der westlichen Bahnhofsseite, die die Frage aufwirft: Was darf man Normalität nennen, wenn es um orientierungslose Menschen, meist ohne Dach über dem Kopf geht?

Stetig wachsende Not

Allein die Entwicklung in den vergangenen zehn Monaten mache das Team manchmal fassungslos, sagt Joke Potzeldt, in der Mission zuständig für Sozialarbeit und von sechs Angestellten. „Im Herbst 2023 kamen täglich etwa 60 bis 80 Leute zu uns, jetzt sind es zwischen 100 und 120.“ Die Zahl der Menschen, die in Folge von Mietschulden, Schicksalsschlägen oder Suchtkrankheit, durch psychische oder wirtschaftliche Notlage ihre Wohnung verlieren, wächst auch und gerade in der Großstadt Leipzig.

„Die Anzahl der Personen ohne Wohnung in Leipzig ist in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen“, informiert das Sozialamt. Wohnungslos gemeldet waren 2022 noch 552 Personen, im vergangenen Jahr 804 Personen und 2024 bislang 944 Menschen. Die Übernachtungshäuser seien mittlerweile auch im Sommer stark frequentiert: Im vergangenen Juli waren 192 von 220 der verfügbaren Betten belegt. Die Dunkelziffer bei Personen ohne Wohnsitz ist hoch, vor allem bei den Wohnungslosen, also jenen Menschen, die im Bekannten- oder Freundeskreis übernachten.

Kein Wunder also, dass in Einrichtungen wie der Bahnhofsmission analog dazu der Bedarf an Beratung und Unterstützung steigt. Schwerpunkte sind Diskriminierung, sexualisierte Gewalt, Isolation, Unterstützung bei Behördengängen, Überschuldung. „Oft müssten wir unsere Klientel an Fachberatungsstellen verweisen, aber die sind selbst völlig überlastet“, berichtet Potzeldt, am Mittwoch mit ihrem Team ebenso vor Ort wie 17 weitere Institutionen und Vereine, die mit ihren Hilfsangeboten präsent sind.

Ein Fakt, der am Mittwoch eine Rolle spielt, wenn zwischen 15 und 18 Uhr auf dem Nikolaikirchhof der bundesweite Tag der Wohnungslosen begangen wird. Die Bevölkerung kann sich über Möglichkeiten informieren, ehrenamtlich mitzuhelfen sowie Geld oder stets benötigte Schlafsäcke zu spenden. Das Motto in Leipzig, „Für alle ein Dach“, erinnert an das ambitionierte Vorhaben, das die Kommune vor knapp zwei Jahren formulierte: Bis zum Jahr 2030 die Obdachlosigkeit zu beenden.

„Das ist nicht realistisch“, schätzt Joke Potzeldt. Die Leiterin des Leipziger Sozialamtes sieht das anders. „Unterscheiden wir zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit, ist das Ziel, dass niemand auf der Straße übernachten muss, nach wie vor erreichbar“, sagt Martina Kador-Probst – nämlich dann, wenn die Kommune Investitionen auf den Prüfstand stelle und Schwerpunkte setze. Extrem wichtig sei dabei die Anstrengung, deutlich mehr sozialen Wohnraum zu schaffen. „Verständlicherweise ist das angesichts der aktuellen Haushaltslage für manche schwerer vorstellbar, aber eine Illusion ist es nicht.“

Sowohl im Sozialamt wie in der Bahnhofsmission gilt als Meilenstein zur Verbesserung der Situation die Notschlafunterkunft für Männer, deren Eröffnung für Anfang 2026 geplant ist – wenige Meter vom Hauptbahnhof entfernt. „Bisher liegen die Übernachtungshäuser in den Außenbezirken und sind für viele schwer zu erreichen“, sagt Joke Potzeldt, „die neue Unterkunft ist ein wichtiger Schritt.“

Leipziger Erfolgsprojekt „Eigene Wohnung“ wird erweitert

Eine Erfolgsgeschichte ist das 2021 gestartete Modellprojekt „Eigene Wohnung“: Betroffene können ohne das Durchlaufen verschiedener Ebenen von Unterbringungsformen sowie ohne Abstinenz von Alkohol oder anderen Suchtmitteln in eigene vier Wände ziehen, finanziert von der Stadt. „Von 33 vermittelten Mietverträgen wurden nur drei wegen problematischen Verhaltens beendet“, so Kador-Probst. „Ab 2025 wird das Projekt verstetigt und auf 50 Plätze erweitert.“

Neben der Herkulesaufgabe, sich strukturell zu verbessern, geht es auch um einen bewussteren zivilgesellschaftlichen Umgang mit Obdachlosigkeit. „Da geht es um Enttabuisierung, Aufklärung der Bürgerschaft, um mehr Teilhabe von Benachteiligten“, erklärt Potzeldt. Manchmal hilft auch eine freundliche Ansprache oder das Hilfsangebot, einer wohnungslosen Person beim Einkauf etwas mitzubringen.“

Der Sozialamtsleiterin ist wichtig zu betonen, „dass Wohnungslosigkeit ein Problem ist, für das wir alle sensibilisiert sein sollten, auch präventiv“. Durch Aufmerksamkeit und Nachfragen lasse es sich beispielsweise vermeiden, dass Nachbarn vereinsamten oder verwahrlosten. „Zu wenigen ist bewusst, dass es jeden treffen kann.“