Holocaust-Überlebende in Leipzig: „Haltet euch vor der braunen Suppe die Ohren zu“
Rechtsruck und antisemitische Vorfälle: Wie kann es da gelingen, das Holocaust-Gedenken in die Hände künftiger Generationen zu legen? Die Shoah-Überlebende Renate Aris spricht mit Schülern.
Als die Doppelstunde vorbei ist, bleiben fast alle Schülerinnen und Schüler noch da. „Typisch“, seufzt Renate Aris. „Auf einmal fallen ihnen doch noch viele Fragen ein.“ Ihr Lächeln verrät, dass sie sich darüber freut.
Die Elftklässler tappen vor zu dem Tisch, auf dem die 88-Jährige Bilder ausgebreitet hat. Ein gelber Davidstern ist dabei und ihre Kennkarte mit einem Schwarz-Weiß-Foto, das sie im Alter von zweieinhalb Jahren zeigt. „Wie niedlich ich damals war.“ Das Haar ist hinter das linke Ohr geklemmt. „Juden erkennen wir am Ohr“, zitiert Renate Aris einen Nazi-Spruch. „Sie behaupteten, alle Juden hätten angewachsene Ohrläppchen.“
Wie lässt sich das Wissen über die Shoah erhalten? Wie gelingt im Schulalltag eine Gedenkkultur an das Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten? Renate Aris, 1935 in Dresden geboren, hat den Massenmord überlebt. Sie wohnt heute in Chemnitz. Eine Woche lang ist sie in Sachsen unterwegs, um jungen Menschen von ihren Kindheitserlebnissen zu berichten. Sie besucht Schulen in Dresden, Hoyerswerda, Chemnitz und Ebersbach-Neugersdorf im Landkreis Görlitz. Nun sitzt sie in der Bibliothek des Leipziger Gymnasiums am Palmengarten vor etwa 60 jungen Leuten.
Im regulären Unterricht, so hat die Geschichtslehrerin Luisa Hoffmann vorab erklärt, „erwecken einige Schüler manchmal den Eindruck, dass sie vom Thema gesättigt sind“. In der neunten Klasse steht die NS-Zeit erstmals im Lehrplan. Aber jetzt: Stille im Saal. Betroffenheit, sicher auch Respekt. Auf einmal vielleicht zudem ein Stück weit betretenes Schweigen: Renate Aris hat einen Jungen, der in der ersten Reihe sitzt, direkt angesprochen. „Freund, du bist es! Du hast angewachsene Ohrläppchen.“ Welcher Glaubensrichtung er angehöre, fragt sie. „Gar keiner“, antwortet er. „Ha!“, entgegnet sie. „So habe ich dich zum Juden gemacht.“ Sie wolle zeigen, dass der Nazi-Irrsinn noch nicht mal eine Ideologie sei, erläutert sie. „Sondern eine Idiotie.“
Lebenswelt der Schüler
Renate Aris berichtet von der Aberkennung der Staatsbürgerschaft, von Berufsverboten, Zwangsarbeit. „In diese Zeit bin ich hineingeboren. Aber als Kleinkind empfindest du es nicht so.“ Den Satzanfang „Du darfst nicht“ kennt jeder Heranwachsende. Aber für sie ging er so weiter: Du darfst nicht auf die Straße, nicht mit den anderen Kindern spielen, nicht ins Geschäft zum Einkaufen, nicht ins Freibad. 1941, als ihre nicht-jüdischen Altersgenossen eingeschult wurden: Du darfst nicht in die Schule. „Das war für mich das Schlimmste.“
Der Verein „Gegen Vergessen – für Demokratie“ finanziert die Reise- und Hotelkosten. Bernd Stracke gehört der regionalen Arbeitsgruppe Sachsen an. Eine solche Begegnung, findet er, könne ein Verständnis erreichen, wie es ein Schulbuch nicht schaffe. „Frau Aris war damals ein Kind. Sie erzählt aus einer kindlichen Erinnerung heraus und nimmt immer Bezug auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler.“
Sie führt die Grausamkeit der Nazis vor Augen, als sie berichtet, dass von all den Onkels, Tanten, Cousins und Cousinen, die verschleppt worden waren, nur zwei den Holocaust überlebten. Und als sie von zwei Kaninchen erzählt. Ihr Bruder hatte eines mit grauem Fell, ihr eigenes war weiß mit schwarzen Tupfen. Nazi-Schergen töteten die Tiere vor den Augen der Kinder. Denn Juden durften keine Haustiere halten.
Der 17-jährige Hannes Heinig wird später sagen, es sei wie eine Zeitreise gewesen, „in eine furchtbare Zeit“. Sarah Niesch, ebenfalls 17, wird betonen, dass sie sich schon ausführlich mit dem Nationalsozialismus befasst habe. „Aber mit einem Menschen zu reden, der wirklich darunter gelitten hat – das holt noch mal ganz andere Gefühle hervor.“ Der 16 Jahre alte Mo Klinger sagt: „Sie lässt Geschichte real werden.“
Vor- und Nachbereitung im Unterricht
In der zehnten Klasse hatten die Schülerinnen und Schüler das einstige Konzentrationslager Buchenwald besucht. „Es hat sich bedrohlich angefühlt, an diesem Ort zu sein, wo so viele Menschen ermordet wurden“, erinnert sich der 16-jährige Emil Senf. Für Bernd Stracke vom Verein „Gegen Vergessen“ können solche Exkursionen ebenso wie die Begegnung mit einer Zeitzeugin allerdings nicht für sich allein bleiben. „Alles steht und fällt mit der Vor- und Nachbereitung im Unterricht.“ An Gedenkstätten werde oftmals der Fehler gemacht, die jungen Leute unvorbereitet durchzuschleusen, „fast wie Touristen“.
Stracke fordert, im Unterricht zu vermitteln, dass das Judentum nicht nur aus Leid besteht. „Um zu sehen, welche reiche Literatur, Musik, Kunst, welches Lebensgefühl Deutschland verloren gegangen war.“ Der Geschichte-Leistungskurs der Palmengarten-Schule hatte sich vor Renate Aris’ Besuch damit befasst, auf welche Weise Zeitzeugen-Berichte das historische Puzzle vervollständigen. Der 17-jährige Felix Schönherr kennt Daten, Fakten, wissenschaftliche Erklärungsversuche. „Aber erst Frau Aris vermittelt eine Ahnung davon, wie sich Geschichte auf die Menschen ausgewirkt hat.“
„Ich bin über Leichen gegangen.“ Als Renate Aris den Satz ausspricht, meint sie ihn wörtlich. Mitte Februar 1945, Dresden wird bombardiert. Kurz davor hat die Gestapo beschlossen, die 60 verbliebenen Dresdner Jüdinnen und Juden in den Tod zu deportieren. Für die junge Familie bedeutet das: Flucht. Dresden brennt. Berge von toten Körpern. „Die Kinderaugen mussten das sehen, mussten es ertragen.“
Renate Aris berichtet ungeschönt. „Man muss es so erzählen“, sagt sie. „Nur wenn ihr die Vergangenheit kennt, könnt ihr verhindern, dass die Zukunft wieder so wird. Haltet euch vor der braunen Suppe die Ohren zu.“ Egal welche Hautfarbe, egal welcher Glaube: „Vor euch steht ein Mensch. Das möchte ich euch ans Herz legen.“ Sie streicht die Haare hinter ihr linkes Ohr. „Ich habe übrigens abstehende Ohren.“ Ihr Mund formt sich zu einem kecken Lächeln.