Darum eskalierte die Demo zum „Tag X“: Rekonstruktion der Ereignisse am Alexis-Schumann-Platz
Lange war die Situation am Samstag auf dem Alexis-Schumann-Platz entspannt. Dann überschlugen sich jedoch die Ereignisse, wurden am Ende 1000 Personen eingekesselt und über Stunden festgehalten. Wie es dazu kommen konnte, zeigt unsere Rekonstruktion der Ereignisse.
Die im Vorfeld befürchteten Ausschreitungen zum „Tag X“ in Leipzig sind ausgeblieben. Abgesehen von kleinen Barrikaden sorgte allerdings eine eskalierte Demo sowie deren Einkesselung bundesweit für Aufsehen. Dabei hatten sich die Organisatoren eigentlich gegen Gewalt ausgesprochen. Wie konnte es dazu kommen? Eine Rekonstruktion der Ereignisse.
Lange war vorher um die Versammlungsfreiheit in Leipzig gerungen worden. Die aus der linksradikalen Szene stammenden Organisatoren von „Tag X“ waren nach dem Verbot ihrer Proteste letztlich sogar bis vor das Bundesverfassungsgericht gezogen – ohne Erfolg. Militante Aufrufe aus anarchistischen Kreisen schienen Gefahrenprognosen der Behörden zu erhärten.
Viele Demo-Verbote – eine relevante Genehmigung
Irena-Rudolph Kokot (SPD) und Jürgen Kasek (Grüne) treten beide schon lange als Demo-Organisatoren in Erscheinung, haben Erfahrung im Verhandeln mit Behörden. Als sich das Verbot von „Tag X“ abzeichnete, entschieden sie sich tätig zu werden. „Wir haben diese Versammlung am Mittwoch als Reaktion auf die Allgemeinverfügung der Stadt angemeldet, die faktisch ein Grundrechtsverbot dargestellt hat“, so Kasek.
Angesichts fehlender Alternativen für den „Tag X“ war nicht nur der Polizei klar, dass der für 16.30 Uhr auf dem Alexis-Schumann-Platz genehmigte Protest als Ersatz fungieren würde. Und so kam es auch: Statt der eigentlich geplanten 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden es am Samstagnachmittag auf der Wiese an der Karl-Liebknecht-Straße bald zehnmal mehr.
Viele Menschen – zu wenig Ordner und Technik
Um 16 Uhr, noch kurz vor Beginn der Versammlung, war sich der Leiter sicher: Die Situation ist beherrschbar. „Wir arbeiten mit erfahrenen Ordnern zusammen. Ich habe keine Lust, Medien, Polizei und Verfassungsschutz Bilder zu liefern, damit Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sind“, so Grünen-Stadtrat Kasek. Von 30 Helferinnen und Helfern war die Rede, mit Funksprechgeräten ausgerüstet, die in der Menge auf die Einhaltung von Auflagen pochten. Nicht alle Angesprochenen hielten sich daran.
Was auch nicht ausreichend funktionierte: die Technik. Der mitgebrachte Lautsprecher hätte für Hunderte Zuhörende gereicht, bei den nun Tausenden waren mahnende Worte aber kaum zu hören. Zumal die Anwesenden teilweise gleichzeitig skandierten. Menschen warteten auf der Wiese in der Sonne oder gegenüber im Schatten des Heinrich-Schütz-Platzes. Währenddessen verhandelte Demo-Leiter Kasek weiter mit den Behörden. Die monierten: Zu viele Menschen, zu wenig Ordner – und einige Personen bereits vermummt. Die Demo durfte nicht loslaufen.
Um 17 Uhr war die Situation trotzdem insgesamt noch entspannt. Rings herum wurden jedoch bereits Polizeiketten geschlossen, konnte niemand mehr heraus in Richtung Süd-Magistrale. Dann kamen mit Schilden und Helmen ausgerüstete Polizeitruppen in Sichtweite dazu. Es wurde unruhiger. Die gut 2000 Wartenden – darunter vielleicht 150 Personen in schwarzen Jacken und zum Teil mit Schlauchschals auf Mundhöhe – reagierten zunehmend mit Sprechchören in Richtung der Polizei.
Situation spitzt sich zu – zehn Minuten Eskalation
Um 17.26 Uhr kündigte ein Lautsprecherwagen der Polizei erstmals an, dass Maßnahmen „mit unmittelbarem Zwang ergriffen werden“, sollte Vermummung nicht abgelegt werden. Es folgte eine zweite Durchsage mit derselben Aufforderung und Drohung. Die vorher noch in etwa 100 Meter Entfernung wartenden Polizeiketten rückten näher heran. Die Stimmung wurde aggressiver.
Um 18.03 Uhr passierte dann das, was nicht passieren sollte: Kurz vor der dritten und wohl letzten Durchsage der Polizei suchte eine Gruppe von 150 zum Teil vermummten Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihren Weg aus der Einkesselung und zog mit Feuerwerkskörpern und lauten Parolen auf der Scharnhorststraße in östliche Richtung. Was sie nicht wussten: Auf der Artur-Hoffmann-Straße hatten sich ebenfalls Polizeibeamte in voller Montur postiert. Die Ausbrechenden wurden in Minuten zurückgeschlagen, es flogen Steine und weitere Feuerwerkskörper.
Um 18.10 Uhr war der Versuch bereits gescheitert. Später wird Versammlungsleiter Kasek sagen: „Leider ist die Situation eingetreten, die wir unbedingt vermeiden wollten. Es fühlt sich unfassbar beschissen an und es tut mir wirklich leid.“
Kessel wird verdichtet – elfstündige Polizeimaßnahmen
Bis etwa 18.45 Uhr zog sich der Kessel immer weiter zusammen. Acht Wasserwerfer rollten heran – fünf aus Richtung Süden, drei aus Richtung Norden. Eine Gruppe von etwa 1000 Personen wich ins kleine Wäldchen auf dem Heinrich-Schütz-Platz zurück, darunter wohl auch einige von jenen, die zuvor den gewaltsamen Ausbruch wagten. Polizisten drängten sie weiter zusammen, bald waren die Umschlossenen hinter einer Wagenburg aus Polizeifahrzeugen verschwunden. Die Behörden begannen mit einer Identitätsfeststellung.
Für Leipzigs Polizeichef und Einsatzleiter René Demmler ist klar: „Durch die Umschließung des Parks konnten wir weitere Störlagen verhindern, die Kraft war genommen.“ Und er sagt auch: „Die Versammlungsleitung hat die Situation unter- und die eigene Rolle überschätzt.“
Hunderte Menschen blieben im Umfeld, versuchten mit Sprechchören zu den Inhaftierten durchzudringen. Diese Situation sollte sich noch über elf Stunden strecken. Eltern kamen hinzu, deren Kinder im Kessel festsaßen. Einige versuchten auszubrechen, scheiterten aber. Die Auswertung der Ergebnisse der Polizeimaßnahme dauert noch an. Zwischenzeitlich war von 30 Festnahmen die Rede. Die Polizei trieb die übrig gebliebenen Demonstrierenden im Laufschritt auf der Karl-Liebknecht-Straße auseinander, während die Wasserwerfer weiter vorrückten.