„Ich schwöre, ich wars nicht“
Vor 17 Jahren verbrannte Oury Jalloh. Wenn er sich nicht selbst getötet hat, wer dann? Die taz fragte am Einsatz beteiligte Polizisten.
Einst war Udo S. Polizist, heute ist er pensioniert und lebt mit seiner Frau in einer Siedlung am Waldrand im Süden Sachsen-Anhalts. Der Rasen ist gepflegt, am Carport hängt ein Weihnachtsstern. Ob man mit ihm über den Tod Oury Jallohs sprechen könne? „Kommen Sie rein“, ruft er zum Gartentor.
S. ist einer der beiden Beamten, die den Sierra Leoner Oury Jalloh am 7. Januar 2005, vor genau 17 Jahren, in der Dessauer Innenstadt aufgriffen, auf die Polizeiwache brachten und auf einer Matratze fixierten. Und die vor Gericht widersprüchliche Angaben darüber machten, wie die Stunden verliefen, bis Jalloh auf dieser Matratze verbrannte.
Seine 73 Jahre sieht man S. nicht an. Er ist schlank, trägt Rollkragenpullover und eine knallrote Hose. Jeden Morgen mache er hier im Wald seine Runde, um sich fit zu halten, erzählt er. Es ist das erste Mal, dass er mit der Presse über Jallohs Tod spricht. „Einmal stand RTL hier an der Tür, die hab ich rausgeschmissen.“ Aber jetzt will er reden.
Von sich aus benennt S. viele der Merkwürdigkeiten bei Jallohs Tod: Dass der Brand so heiß gewesen sei, dass man an Brandbeschleuniger denken könnte. Dass das Feuerzeug, mit dem Jalloh sich selbst angezündet haben soll, erst Tage später gefunden wurde. Dass es im Laufe der Zeit gleich drei Todesfälle auf dem Dessauer Polizeirevier gegeben habe. Doch er beharrt darauf, dass Jalloh sich selbst verbrannt habe. „Wer hätte das sonst tun sollen?“
Nichts ist erledigt
Seit 17 Jahren wird es nicht still um den Feuertod Jallohs. Es gab Gerichtsverfahren, Urteile, Gutachten, Untersuchungsberichte, private Recherchen, Medienberichte, Filme. Für die Justiz in Sachsen-Anhalt ist der Fall offiziell erledigt. Das letzte Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, weil sich keine beweisbaren Anhaltspunkte ergeben hätten, die eine Entzündung der Matratze durch Oury Jalloh „ausschließen können und die eine Entzündung durch Polizeibeamte oder durch bestimmte Dritte belegen“, schreibt die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg auf taz-Anfrage.
Für die Familie Jallohs, die Nebenkläger, ist nichts erledigt. Am heutigen Freitag zeigte sie die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg beim Generalbundesanwalt an – wegen Strafvereitelung im Amt. Wenn es sein muss, will die Familie noch bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg klagen.
Genau wie sie glaubte auch der zwölf Jahre lang mit dem Fall befasste Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann am Ende seiner Dienstzeit, dass Jalloh getötet wurde. Doch als Bittmann in den Ruhestand ging, wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt. So lautet die offene Frage: Wenn Jalloh sich nicht selbst angezündet hat – wer war es dann?
Es gibt dazu konkrete Theorien. 2017 spricht Staatsanwalt Bittmann zum ersten Mal offiziell von einem möglichen Mord an Jalloh. Auch die Nebenklage – die Familie des Toten und die private Initiative Gedenken an Oury Jalloh – glaubt daran.
„Ich bin mit mir im Reinen“
Als Verdächtige wurden zwischenzeitlich von der Staatsanwaltschaft Dessau zwei Polizeibeamt:innen benannt, die Nebenklage hält hingegen zwei andere Beamte für die Täter. Alle waren am Todestag im Dessauer Revier im Dienst. Ein Beamter ist verstorben, drei leben noch. Öffentlich geäußert hatte sich bislang keiner von ihnen. Warum fiel der Verdacht auf sie? Und wie hat Jallohs Tod ihr Leben verändert? Die taz hat sie ausfindig gemacht und zu den Anschuldigungen befragt.
Bei den Verdächtigen der Nebenklage handelt es sich um die Beamten Udo S. und Hans-Ulrich M. Sie haben in Vernehmungen widersprüchliche Aussagen zum Verlauf des fraglichen Vormittags gemacht und sich in ihren Alibis gegenseitig widersprochen. M. und S. hatten Jalloh am Morgen seines Todestages in der Dessauer Innenstadt in Gewahrsam genommen und auf die Wache gebracht. M., heute 59, ist mittlerweile in einem anderen Polizeirevier im Dienst. Udo S. ist seit 2008 im Ruhestand.
An einem Donnerstag Ende Dezember steht S. vor seiner Haustür und erzählt. „Die Feuerwehr, das war mein Leben“, sagt er. Bis zur Wende arbeitete er als Betriebsfeuerwehrmann beim VEB Gärungschemie Dessau. Nach der Wende wurde der abgewickelt. Polizist sei er nicht gern geworden. Doch dort sei man schnell verbeamtet worden, sagt S. Er erzählt von den vielen gescheiterten Existenzen nach der Wende. „Frau weg, Job weg, aussortiert, weil sie angeblich zu schlecht waren“ oder weil sie „eine zweite Lohntüte hatten“ – er meint Stasi-IMs. Solche Männer habe er dann oft in der Wache gehabt, zum Ausnüchtern. Doch dann seien die Drogen nach Dessau gekommen. „Wir kannten nur Besoffene“, sagt er. „Aber Drogen – so was kannten wir nicht. Die Leute entwickeln Kräfte, spüren keine Schmerzen mehr, da muss man aufpassen.“ In Jallohs Blut wurden nach seinem Tod geringe Mengen Kokain nachgewiesen.
Im Familienkreis sei der Fall „kein Thema“, sagt S. Doch auch 17 Jahre später scheint er noch häufig daran zu denken. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt steht er in seiner Einfahrt und hört nicht auf zu reden. „Ich habe nichts gemacht. Ich schwöre“, sagt er. Und mehrfach: „Ich bin mit mir im Reinen.“ Überhaupt, wer hätte Jalloh etwas antun sollen? „Hatte der da Feinde? Im Revier? Hat das mal jemand recherchiert? Wer soll das getan haben?“, fragt er.
Widersprüchliche Aussagen
Udo S. erzählt von Jallohs Todestag: Wie er mit seinem Kollegen Hans-Ulrich M. losgeschickt wurde. Wie sie Jalloh mitnahmen, weil der zwei Straßenreinigerinnen belästigt haben soll. Bei Vernehmungen hatten die Polizisten S. und M. ausgesagt, dass Jalloh um sich geschlagen habe. Udo S. hielt ihn während der Fahrt im Schwitzkasten. „Ich habe nicht mit ihm geredet, das ging ja gar nicht“, sagt er heute. Zu aufgebracht sei Jalloh gewesen.
Um 9.15 Uhr an jenem Morgen nimmt ein Arzt Jalloh eine Blutprobe ab. Sie ergibt 2,98 Promille. Um 9.30 Uhr sind Udo S. und Hans-Jürgen M. nach ihren Schilderungen vor Gericht im Gewahrsamsbereich mit Jalloh fertig gewesen. Bis 10 Uhr hätten sie Anzeigen geschrieben. Danach seien sie bis zum Mittag wieder Streife gefahren. M. und S. konnten bei Vernehmungen keine genauen Angaben dazu machen, wo sie in dieser Zeit gewesen sind. Ihr Fahrtenbuch ist aus den Akten verschwunden.
S. und M. wollen nach 9.30 Uhr nicht mehr in Jallohs Zelle gewesen sein, hätten demnach auch den erst nach 12 Uhr ausgebrochenen Brand nicht legen können. Doch ihr Kollege Torsten B. sagte vor Gericht aus, die beiden gegen 11.30 Uhr in der Zelle 5 angetroffen zu haben – kurz vor dem Brand, als sie mit dem Streifenwagen in der Stadt gewesen sein wollen also.
Sie hätten Jalloh da abgetastet, sagte der Kollege Torsten B. Er habe Hans-Ulrich M. zum Mittagessen abholen wollen. Doch M. habe geantwortet, dass er noch zu tun habe. Torsten B. sagt, er habe daraufhin allein gegessen – und die beiden nicht in der Kantine gesehen. Doch eben da wollen sie danach gewesen sein.
M. und S. machen einander ausschließende Angaben über diese Zeit: Als das Feuer ausbrach, habe er sich zusammen mit Udo S. in der Kantine aufgehalten, sagt Hans-Ulrich M. bei Vernehmungen. Udo S. aber sagt: „Nein, ich kann mich erinnern, dass ich alleine war. Ich habe mir was zu essen geholt, aber ich habe nur ein paarmal reingebissen, dann bin ich raus. Ich stand alleine da, hatte die Bockwurst noch auf der Pappe. Dann habe ich Rauch gesehen“, so Udo S. laut dem Vernehmungsprotokoll. S. sagte demnach, er habe „die Wurst vor Augen, aber nicht M. Ich weiß nicht, wo M. war, als ich die Bockwurst in der Kantine gegessen habe.“
Nach dem Brand sei schnell wieder „Normalbetrieb“ gewesen auf dem Revier, sagt Udo S. beim Gespräch in seinem Garten. Er habe gern mit dem Seelsorger über den Vorfall gesprochen, obwohl er nicht an Gott glaube. Und er hätte gern „mit der anderen Seite“ geredet, mit der Familie des Toten. Aber das sei wegen der ganzen Vorwürfe nicht möglich gewesen. Zu Hans-Ulrich M. habe er seit Jahren keinen Kontakt mehr. „Der war leicht aufbrausend“, sagt S. über ihn. „Aber der war es auch nicht.“
Die Zweifel
Dreimal wurde Oury Jallohs Tod vor Gericht verhandelt. Gegen acht Beamte wurde außerdem wegen Falschaussagen vor Gericht ermittelt, darunter Udo S. und Hans-Ulrich M. Diese Verfahren wurden eingestellt.
Grundlage der Gerichtsprozesse war stets die Annahme, dass Jalloh die Matratze, auf der er gefesselt war, selbst angezündet hat. Dafür soll er ein Feuerzeug benutzt haben, das Hans-Ulrich M. bei seiner Durchsuchung übersehen habe. M. wurde deshalb im ersten Verfahren in Dessau wegen fahrlässiger Tötung angeklagt und freigesprochen. Für ihn gilt deshalb der sogenannte „Strafklageverbrauch“ – er darf für die Sache nie wieder belangt werden, auch wenn es neue Erkenntnisse über den Tathergang gäbe.
Bis heute hält die Justiz an der Annahme fest, dass Jalloh sich selbst getötet hat. Die private Initiative Gedenken an Oury Jalloh hat dies schon sehr früh für einen Irrtum gehalten – und über die Jahre viele Belege dafür vorgelegt.
Nach 12 Jahren kamen auch dem Dessauer Staatsanwalt Folker Bittmann Zweifel. Im April 2017 schreibt er in einem Vermerk, er gehe davon aus, dass Jalloh bereits vor Ausbruch des Feuers „mindestens handlungsunfähig oder sogar schon tot“ war. Vermutlich sei er mit Brandbeschleuniger besprüht und angezündet worden.
Anfangsverdacht: Mord durch Polizeibeamte
Grundlage für Bittmanns Sinneswandel war ein Treffen von Gutachtern, das Bittmann zuvor im rechtsmedizinischen Institut der Uni Würzburg anberaumt hatte. Anwesend waren Brandexperten, Toxikologen, Rechtsmediziner und Chemiker. Alle waren über Jahre mit dem Fall befasst. Am Ende sagte der Toxikologie-Professor Gerold Kauert: „Das Würzburger Sachverständigengremium kam zu dem Ergebnis, dass die Theorie der Selbstentzündung nicht zu halten war.“
Bittmann leitet ein Ermittlungsverfahren zur Klärung der Todesursache ein. Er schreibt in einem Aktenvermerk vom „Anfangsverdacht eines Mordes“ durch Polizeibeamte. Bittmann formuliert eine Theorie zum Motiv: „Bei einer Zellenkontrolle könnten Polizeibeamte auf die Ohnmacht Oury Jallohs aufmerksam und sich daraufhin bewusst geworden sein, dass schwere Verletzungen oder gar das Versterben eines weiteren Häftlings neuerliche Untersuchungen auslösen würden.“
Jalloh – ein „weiterer“ toter Häftling? In Jallohs Zelle starb bereits 2002 Mario Bichtemann an einem Schädelbasisbruch. Woher dieser rührte, ist unklar. Und auch Hans-Jürgen Rose, den die Polizei 1997 aufgegriffen hatte, weil er betrunken Auto fuhr, wurde direkt nachdem er in Polizeigewahrsam war leblos auf der Straße gefunden. Er starb an schweren inneren Verletzungen.
Es gibt Parallelen zum Tod Jallohs. 2018 stellte ein Rechtsmediziner und Radiologe von der Uniklinik Frankfurt fest, dass Jallohs Schädeldach, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen waren. Das spricht für die Annahme des Staatsanwalts Bittmann. Der eröffnet im April 2017 ein Ermittlungsverfahren wegen schwerer Brandstiftung gegen die Polizeiobermeisterin Beate H., heute 53 Jahre alt, sowie gegen ihren damaligen Kollegen Hartmut Sch., der damals mit ihr in Jallohs Zelle war. Sch. starb im Februar 2017 im Alter von 63 Jahren. Der offenbar einzige Grund für den Verdacht gegen die beiden: Sie haben Jalloh offiziell als letzte lebend gesehen.
Zeugin Beate H.
Beate H. ist an Jallohs Todestag als sogenannte Streifeneinsatzführerin im Dienst. Zweimal kontrolliert sie Jallohs Zelle. Beim zweiten Mal wird sie von Hartmut Sch. begleitet. Später geben beide an, Jalloh lebend auf der Matratze fixiert angetroffen zu haben. Er habe eine halb heruntergezogene Jeanshose getragen, auch andere Zeugen sprachen von einer blauen Jeans. Die verbrannte Leiche allerdings trug eine Cordhose. Etwa 20 Minuten nach der Zellenkontrolle bricht das Feuer aus. Der Alarm geht an. H. hört Jalloh über die Gegensprechanlage nach Hilfe rufen. Doch die kommt nicht mehr rechtzeitig.
Beate H. ist eine der wichtigsten Zeug:innen. Sie wird mehrfach von Polizei und Staatsanwaltschaft vernommen. H. sagt zunächst aus, über die Gegensprechanlage etwa eine halbe Stunde vor dem Alarm Geräusche wie von einem klappernden Schlüsselbund aus Jallohs Zelle gehört zu haben. Niemand hat einen zu dieser Angabe passenden Kontrollgang ins Gewahrsamsbuch eingetragen. H. belastet ihren Vorgesetzten, den angeklagten Dienstgruppenleiter Andreas Sch., schwer. Der habe den Feueralarm aus Jallohs Zelle ignoriert. Nach Recherchen der Hörfunk-Journalistin Margot Overath wird Beate H. kurz nach Jallohs Tod in eine andere Dienststelle versetzt. Fünf Wochen später lässt sie sich wegen psychischer Probleme krankschreiben und begibt sich in Behandlung. Sie muss starke Medikamente nehmen. Eine Kollegin habe sie jeden Tag weinen sehen. Mehr als zwei Monate bleibt sie dem Dienst fern. Es gibt ein Gespräch zwischen Beate H., ihrem Dienstgruppenleiter Andreas Sch. und dessen Anwälten. Danach zieht H. ihre Aussage zurück. Vor Gericht entlastet sie ihren Vorgesetzten. Sie begründet das damit, dass sie ihre früheren Aussagen nur so „herausgesprudelt“ habe und erst später „die innere Kraft gehabt“ habe, die Protokolle ihrer Aussagen zu prüfen. Sie habe unter Schock gestanden und „zunächst nicht geahnt, dass ihr Zeugnis so wichtig“ werden könne. So notiert es ein Prozessbeobachter.
Beate H.s Widersprüche werfen kein gutes Licht auf sie. Sie waren ein Grund dafür, dass der Vorsitzende Richter den ersten Prozess eine „Schande für den Rechtsstaat“ nannte. Auch gegen H. wurde wegen Falschaussage ermittelt. Aber: Ihre mutmaßlichen Lügen deuten nicht darauf hin, dass sie selbst Jalloh getötet haben könnte. In all den Jahren, in denen die Vorgänge in der Zelle Nummer 5 immer genauer ausgeleuchtet wurden, kam vieles zutage – aber kein mögliches Motiv von Beate H. und Hartmut Sch. Zudem hatten die beiden praktisch keine Gelegenheit, einen Brand zu legen.
Erst 18 Monate, nachdem Beate H. der Brandstiftung beschuldigt wurde, wird sie das erste Mal in der Sache vernommen. Sie verweigert die Aussage. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg stellt das Verfahren gegen sie ein.
Doch warum zog Beate H. einst ihre ursprünglichen, so wichtigen Aussagen vor Gericht zurück? Und warum sagt sie nichts zu dem Vorwurf, selbst den Brand gelegt zu haben? H. lebt heute in einem kleinen Haus in einer Neubausiedlung in Sachsen-Anhalt. Sie öffnet die Tür einen Spalt breit, ihr Kopf bleibt hinter der Tür. Sie sagt sofort „Nein“ und schließt die Tür direkt wieder.
Einstellung des Verfahrens
Der Staatsanwalt Bittmann wollte das Mordermittlungsverfahren an den Generalbundesanwalt übergeben. Doch der lehnt ab. Der Fall wird Bittmann entzogen und an die Staatsanwaltschaft Halle übergeben. Bittmann geht in Pension, seine Hallenser Kollegin Heike Geyer stellt das Verfahren ein. Bald darauf wird Geyer Leiterin der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg und damit oberste Strafverfolgerin Sachsen-Anhalts.
Was bewog Bittmann, nach über zwölf Jahren plötzlich von einem Mord auszugehen? Warum fiel sein Verdacht auf Beate H. und nicht auf Udo S. und Hans-Ulrich M., die sich vor Gericht in wichtigen Punkten so stark widersprochen hatten?
Bittmann arbeitet heute für eine große Kölner Wirtschaftskanzlei als Anwalt. Auf Fragen zum Fall Jalloh will er nicht antworten. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg sei zuständig, schreibt er und leitet den Fragenkatalog der taz dorthin weiter.
Weil alle Ermittlungsverfahren „bestandskräftig eingestellt“ seien, verbiete es sich, Auskünfte zu vormaligen Beschuldigten und Beteiligten zu erteilen, schreibt diese. Die Persönlichkeitsrechte der „als unschuldig geltenden Personen“ stünden dem entgegen. Ganz allgemein könne ein Tatverdacht „niemals aus dem Umstand hergeleitet werden, dass jemand kein Alibi gehabt hat oder womöglich über ein Motiv verfügte“. Auf bloße Vermutungen hin lasse sich ein Tatverdacht nicht begründen, schreibt die Strafverfolgungsbehörde. „Jedwede strafprozessuale Maßnahmen dienen nicht der Herbeiführung eines Tatverdachts, sie setzen das Vorhandensein eines solchen stets voraus.“
Das soll heißen: Es sei juristisch korrekt gewesen, dass sich das Mordermittlungsverfahren nicht gegen M. und S. gerichtet habe.
Die falschen Verdächtigen?
Für die Initiative Gedenken an Oury Jalloh hingegen ist klar: Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg hätte die Akte nicht zuklappen dürfen, sondern gegen Udo S. ermitteln müssen – Hans-Ulrich M. ist wegen des „Strafklageverbrauchs“ nicht mehr zu belangen. Deshalb zeigt sie nun die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg beim Generalbundesanwalt an.
Die Initiative glaubt, dass Staatsanwalt Bittmann die richtigen Schlüsse gezogen, aber die falschen Verdächtigen benannt hat. Bereits im Dezember 2017 hatte die Initiative deshalb Udo S. – erfolglos – beim Generalbundesanwalt angezeigt: S. und Hans-Ulrich M. seien „gewalttätig gegen Oury Jalloh vorgegangen“, heißt es in der Anzeige. Sie hätten gewusst, dass Jalloh dadurch Verletzungen am Kopf und im Nasenbereich davongetragen habe und dies vertuschen wollen.
Das klingt ähnlich wie die vom Staatsanwalt Bittmann vermutete Sorge möglicher Täter über „neuerliche Untersuchungen“ zu „schweren Verletzungen oder gar das Versterben“ weiterer Häftlinge.
Hans-Ulrich M. hatte am 8. Dezember 1997 Dienst, als Hans-Jürgen Rose kurz nach Verlassen des Dessauer Reviers an inneren Verletzungen stirbt. Udo S. wiederum war am 29. Oktober 2002 im Dienst, als Mario Bichtemann mit einem Schädelbasisbruch tot in der Zelle 5 aufgefunden wurde. Allerdings: Es gibt keine Hinweise darauf, dass S. oder M. etwas mit dem jeweiligen Tod zu tun haben.
Die Verdächtigen treffen sich – „ganz zufällig“
Hans-Ulrich M. wohnt heute nicht mehr in Dessau. Als es an seiner Tür klingelt, ist er nicht überrascht. Er trägt eine Polizei-Jogginghose, öffnet schnell das Gartentor. Auch er nimmt sich Zeit, um zu erzählen. „Dass ich das Feuerzeug übersehen habe, werfe ich mir immer noch vor“, sagt er. Von der Mordtheorie hält er nichts: „Wie soll ein Polizist da fünf Liter Benzin oder Grillanzünder reingeschafft haben?“
M. arbeitet schon lange nicht mehr auf dem Revier in Dessau. Er habe dort bleiben wollen, aber seine Vorgesetzten hätten ihn nach dem Tod von Jalloh versetzt, um ihn „aus der Schusslinie“ zu nehmen, sagt er.
Mit seinem Kollegen Udo S. habe er seit vielen Jahren keinen Kontakt gehabt – bis zur letzten Woche. Da habe er Udo in einem Dessauer Restaurant getroffen, „ganz zufällig“, wie er behauptet. Der habe ihm dann auch gesagt, dass Journalisten bei ihm gewesen seien.
Er redet weiter. Das übersehene Feuerzeug sei „menschliches Versagen“ gewesen. Es gebe „nicht ein einziges Anzeichen, dass einer von meinen Kollegen, die dabei waren, irgendwie rassistisch war“. Tatsächlich konnten rassistische Einstellungen im gesamten Prozessverlauf bislang keinem der angeklagten Beamt:innen nachgewiesen werden.
Dass bei Jalloh Brüche festgestellt wurden, weiß M. „Aber der wurde nicht geschlagen von uns.“ Jalloh selbst habe seinen Kopf im Revier „auf den Tisch geknallt“.
Nicht abgeschlossen
M. sagt dasselbe wie früher: Dass er mit S. den Vormittag im Streifenwagen unterwegs und nicht mehr in Jallohs Zelle war. Wie erklärt er, dass sein Kollege Torsten B. dem widersprochen und mehrfach ausgesagt hat, die beiden kurz vor dem Brand dort angetroffen zu haben?
„Der Torsten hat ja seine Aussage auch wieder zurückgezogen und gesagt, dass es doch nicht am Mittag war. Wenn Sie so beschäftigt sind, gucken Sie nicht auf die Uhr. Aber Mittag war das nicht mehr.“ So ähnlich sei es auch mit seinem Essen mit Udo S. zur Brandzeit in der Kantine gewesen, an das S. sich nicht erinnern konnte: Er, M., sei da kurz rauchen gewesen, danach sei S. schon fertig gewesen mit seiner Bockwurst.
Richtig abgeschlossen sei die Sache für ihn nicht. „Das wäre sie nur, wenn man nachvollziehen könnte, wo das Feuerzeug herkam, war es in seinem Besitz, hat man es übersehen?“, sagt M. „Dann kann ich auch für mich sagen: Das ist mein Fehler, hab’ ich übersehen. Und so gibt es immer diese Spekulation. Gab’s da noch einen Dritten oder sonst was? Andere Personen, die mit der Gewahrsamsnahme zu tun hatten, sind ja gar nicht befragt worden.“ Welche anderen das gewesen sein könnten, das wisse er auch nicht.
In diesem Jahr wird auch Hans-Ulrich M. in den Ruhestand gehen. Bis vor Kurzem hatte er noch 2.500 Seiten Akten zum Tod von Oury Jalloh bei sich zu Hause.
Von jedem Schriftsatz hatte sein Anwalt ihm eine Kopie zugeschickt. Gerade habe er alles, was damit zu tun gehabt habe, vernichtet, sagt M. Er wolle das Kapitel beenden.
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Chronologie im Fall Oury Jalloh
1997 Hans-Jürgen Rose wird festgenommen, nachdem er betrunken Auto gefahren war. Kurze Zeit nach seiner Entlassung aus der Polizeiwache Dessau findet man ihn mit schweren inneren Verletzungen auf, an denen er schließlich stirbt.
2002 Mario Bichtemann wird zur Ausnüchterung in Zelle 5 gebracht, in der gut zwei Jahre später auch Oury Jalloh sterben wird. Bichtemann wird tot in der Zelle aufgefunden. Todesursache ist ein Schädelbasisbruch.
7. Januar 2005 Oury Jalloh wird von den Polizisten Udo S. und Hans-Ulrich M. in Gewahrsam genommen. Dabei wehrt Jalloh sich. Er wird in der Polizeizelle auf einer Matratze fixiert. Dort verbrennt er.
Aufarbeitung Polizei und Staatsanwaltschaft gehen von Beginn an davon aus, dass Jalloh sich mit einem Feuerzeug selbst angezündet habe, das Tage später in einer Tüte Brandschutt vom Tatort gefunden wurde.
2008 Zwei Polizisten werden angeklagt. Dienstgruppenleiter Andreas Sch. habe den Feueralarm ignoriert, Hans-Ulrich M. das Feuerzeug übersehen. Beide werden freigesprochen.
2010 Der Freispruch des Dienstgruppenleiters wird aufgehoben. Das Landgericht Magdeburg verurteilt ihn 2012 zu einer Geldstrafe.
Zweifel Jallohs Familie und die Initiative Gedenken an Oury Jalloh zweifeln den offiziellen Tathergang an. Sie beauftragen Brandgutachten.
2017 Ein Gremium von Gutachtern stellt fest, dass Jalloh sich nicht selbst getötet haben kann. Staatsanwalt Bittmann eröffnet ein Verfahren und schreibt in einem Vermerk vom „Anfangsverdacht eines Mordes“. Jalloh sei „mindestens handlungsunfähig oder sogar schon tot“ gewesen, als es in der Zelle brannte.
Einstellung des Verfahrens Bittmann wird der Fall entzogen. Die Staatsanwaltschaft Halle stellt die Ermittlungen ein. Es hätten sich keine beweisbaren Anhaltspunkte ergeben, die eine Entzündung der Matratze durch Oury Jalloh „ausschließen können und die eine Entzündung durch Polizeibeamte oder durch bestimmte Dritte belegen“.
7. Januar 2022 Die Nebenklage stellt Anzeige gegen die Staatsanwaltschaft wegen Strafvereitelung im Amt. Vor dem Verfassungsgericht liegt zudem eine Verfassungsbeschwerde. Wird diese abgelehnt, bleibt juristisch nur die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
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Vorauseilender Gehorsam:
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Brandsimulation stützt Mordthese:
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„Das Einzelfall-Narrativ ist absurd“
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Freispruch und Geldstrafe für Polizisten:
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