Wie radikal die neue AfD-Jugendorganisation wirklich ist

Die neue AfD-Jugendorganisation soll professioneller auftreten und weniger Skandale auslösen. Hinter der Fassade tummeln sich aber mehr Radikale und Neonazis als in der alten.

Für Julia Gehrckens geht es in der Gießener Messehalle Ende November ums Ganze. Sie will in den Vorstand der neuen Jugendorganisation der AfD gewählt werden, gegen einen Kandidaten, auf den sich führende Parteileute vorher geeinigt haben. Sie muss also mit ihrer Rede überzeugen.

Gehrckens behauptet, sie und ihre »Parteikameraden« würden gegen den »Sturm der teuflischen Zensur« kämpfen, wie sie die Gegendemonstranten draußen vor der Halle nennt. Sie sagt, Weiblichkeit sei eine »naturgegebene Identität«, die man sich nicht »durch geisteskranke und bösartige Ideologien« wie Feminismus nehmen lassen wolle. Und sie fordert »millionenfache Remigration«, also die Abschiebung und Verdrängung von Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland.

Die Halle tobt. Und ist vor allem begeistert, als Gehrckens sagt, dass sie eine »wohlbekannte Akteurin« sei, weil sie »Einsatz im Vorfeld« betreibe, bei »Lukreta«.
Das Problem: Die Fraueninitiative »Lukreta« ist aus der rechtsextremen »Identitären Bewegung« entstanden. Und die steht auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD; wer Parteimitglied werden will, darf nicht in einer der darin aufgelisteten Organisationen aktiv gewesen sein. Nähme die AfD die Liste ernst, die sie selbst erstellt hat, dürfte Gehrckens gar nicht auf der Bühne stehen und kandidieren. Eigentlich.

Doch in Gießen schreitet niemand ein – und Gehrckens wird mit 63 Prozent zur Beisitzerin im Bundesvorstand der »Generation Deutschland« gewählt, wie sich die neue AfD-Jugend nennt.

Einer zitiert einen Leitsatz der Hitlerjugend – und Weidel lacht

Als die AfD vor einem Jahr darüber diskutierte, ob sich die Junge Alternative auflösen und sie eine neue Jugendorganisation gründen sollte, hieß es von zahlreichen Funktionären, man wolle die jungen Radikalen besser disziplinieren, unter Kontrolle halten können. Partei- und Fraktionschefin Alice Weidel sprach sogar von »Durchgriffsmöglichkeiten«, die ihre Partei bei der neuen Organisation habe.

Statt undiszipliniert und radikal sollte die »Generation Deutschland« biederer wirken, keine Bürger mehr verschrecken, die vielleicht heimlich mit der AfD sympathisieren, denen der Nachwuchs aber bislang zu extrem war. Sie sollte eine Kaderschmiede für den Parteinachwuchs sein, keine Negativschlagzeilen mehr produzieren und vor einem Verbot geschützt sein.

Davon kann nach der Gründungsversammlung keine Rede sein. Nicht nur Gehrckens legte einen extremen Auftritt hin, sondern auch zahlreiche andere, die auf Vorstandsposten gewählt wurden. Der junge AfD-Mann Kevin Dorow zitierte gar einen Leitsatz der Hitlerjugend

und wurde damit erster Beisitzer. Nun prüft die Staatsanwaltschaft Gießen die Strafbarkeit der Aussage.

Und die AfD? Deren Vorsitzende Weidel verteidigte den Mann lachend mit dem Satz »Ja, gut, kann man ja sagen«. Sie hätte auch nicht gewusst, dass das mal »irgendwie irgendwann« jemand gesagt habe. Und wiederholte dann sogar mehrmals die SA-Parole »Alles für Deutschland«, für die der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke zuletzt zweifach verurteilt wurde.

Nach Gießen redeten alle über den Hitler-Auftritt

All das aber ging nahezu unter. Denn in Medien und sozialen Netzwerken ging es nach Gießen vor allem um Alexander Eichwald, den Mann mit dem rollenden R, der bei seiner Rede wie Adolf Hitler gestikuliert hatte. Von ihm distanzierte sich die Partei gern, zu abstrus wirkte der Auftritt.

Bei all der Aufregung blieb eher unbemerkt, wie sich die AfD mit der »Generation Deutschland« noch weiter radikalisiert. Sie mag zwar professioneller aufgestellt sein als die alte Jugendorganisation, die zuletzt vor allem durch Negativschlagzeilen aufgefallen war, ist aber nicht weniger extrem. Im Gegenteil.

Der SPIEGEL hat Fotos der Delegierten aus Gießen mit Fotos von rechtsextremen und neonazistischen Demonstrationen verglichen sowie mit Szenekennern und Sicherheitsbehörden gesprochen. Zahlreiche Delegierte sind oder waren für Organisationen aktiv, die noch deutlich rechts von der AfD stehen – und auf deren Unvereinbarkeitsliste. Dabei war Voraussetzung für alle Delegierten in Gießen, dass sie Mitglied der AfD sind, so verlangt es die Parteisatzung.

Da war der Mann, der im grauen Anzug in der Messehalle auftauchte. Dort machte er ein Selfie mit Höcke und wollte am Saalmikro eine Frage stellen, kam aber nicht mehr dran. Er besuchte in diesem Jahr bereits verschiedene Neonazi-Demonstrationen, im August protestierte er in Magdeburg gegen den Christopher Street Day (CSD), das jährliche Fest für queere Menschen. Er war dort gemeinsam mit den »Jungen Nationalisten« unterwegs, der Jugendorganisation der Partei »Die Heimat«, wie sich die NPD heute nennt.

Im Mai war er auch noch bei einem Aufmarsch der »Heimat«. Dort stand er mit dem Vizevorsitzenden Thorsten Heise am Stand von dessen Neonazi-Versandhandel – also mit jenem militantem Neonazi, der seit Jahrzehnten politisch und geschäftlich in der Kameradschaftsszene aktiv und mit Höcke befreundet ist. In seinem Shop verkauft er unter anderem NS-verherrlichende Bücher und schwarze Sonnen als Wandtattoos – ein beliebtes Symbol aus der Neonaziszene.

Ein Comic, in dem ein Holocaustleugner vorkommt

Auch andere Delegierte haben keine Berührungsängste zur »Heimat«, obwohl sie auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD steht. Etwa Philipp Lorenz, der bislang bei der Jungen Alternative (JA) in Bad Salzungen aktiv war und seit zwei Wochen im Vorstand des AfD-Kreisverbands Wartburgkreis sitzt. Am 1. Mai in Gera lief er bei einem Aufmarsch der neonazistischen Partei in zweiter Reihe mit, direkt hinter deren Transparent – und trug dabei ein T-Shirt der JA.

Oder Fidelis E. aus Nordrhein-Westfalen. Er war nach der Auflösung der JA im Frühjahr auf mehreren Neonazi-Versammlungen, hatte dort mal die Parteifahne der »Heimat« in der Hand, mal eine schwarz-weiß-rote Reichsflagge. Er bewegte sich dabei in einem gewaltaffinen Milieu, etwa bei der Gruppe »Jung & Stark«, die insbesondere durch Störaktionen gegen CSDs auffiel.

Ebenfalls in Gießen als Delegierter dabei: Florian Schur aus Hamm, der im September für die AfD bei der Stadtratswahl antrat. Er pflegte Kontakte zur berüchtigten Dortmunder Neonazi-Szene. Und noch kurz vor der Gründung der AfD-Jugend saß er auf einem Podium mit lauter Kadern der »Heimat«. Er saß dort in seiner Funktion als Autor rechtsextremer Comics. In einem davon hat er den bekannten Holocaustleugner David Irving als »renommierten Historiker mit einer Vorliebe für die dunklen Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs« vorgestellt.

Rauchfackeln in AfD-Blau

Ein anderes AfD-Mitglied, das in Gießen war, kommt gar von der radikal-neonazistischen Kleinstpartei »Der III. Weg«. Der staatlich anerkannte Erzieher Söncke Scharff soll bis 2022 Funktionär der Partei gewesen sein. Fotos zeigen ihn bei Aktionen der Partei mit entsprechender Kleidung, etwa dem Schlauchschal der »AG Körper und Geist«. Diese Arbeitsgruppe kümmert sich darum, dass Kampfsport trainiert wird, um die »Wehrhaftigkeit unserer Aktivisten« zu steigern – und versucht damit auch, Kinder und Jugendliche anzusprechen.

Die AG hat ein eigenes Logo: einen Wolfskopf im Eichenlaubkranz. Auf dem linken Oberarm hat Scharff ein Tattoo eines Wolfskopfes, der diesem Logo nachgeahmt scheint. 2021 nahm er zudem an einer neonazistischen Kundgebung in Dresden teil, mit der die Szene das Gedenken an das Bombardement durch die Alliierten instrumentalisierte.
Vergangenes Jahr wechselte der Mann zur Jungen Alternative. Und wurde Beisitzer des AfD-Kreisverbands Nordsachsen.

Gemeinsam mit einer Handvoll anderer Mitglieder der JA schloss er sich zu einer besonderen Truppe zusammen. Sie nannte sich »Junge Alternative Nordsachsen«, erinnerte vom Auftreten her aber eher an eine Neonazi-Kameradschaft: Fotos zeigen sie mit AfD-blauen Rauchfackeln und einem Transparent, das an die Bombardierung des nordsächsischen Eilenburgs 1945 erinnern soll.

Kritische Reaktionen aus der AfD auf solche Aktionen sind nicht bekannt. Und die »Junge Alternative Nordsachsen« wuchs schnell. Mehrere ihrer Mitglieder nahmen an neonazistischen Protesten oder an Aktionen der »Identitären Bewegung« teil. Dennoch war ein großer Teil der Truppe in Gießen bei der Gründung der »Generation Deutschland« vertreten. Sie alle sind also weiterhin in der AfD.

All das zeigt: Das professionellere Image, das sich die neue Jugendorganisation geben will, ist reine Fassade. Die »Generation Deutschland« ist nicht mehr nur ein Sammelbecken von Burschenschaftern, Identitären und Völkischen, sondern noch radikaler. In ihr tummeln sich nun mehr junge Menschen, die bis ins Neonazi-Milieu aktiv sind, als zuvor.

Ganz geheuer ist das der Mutterpartei offenbar nicht. Auf Anfrage des SPIEGEL zu den Rechercheergebnissen teilt die AfD mit: »Die Bundespartei und die Parteigliederungen prüfen jeden Einzelnen von Ihnen genannten Fall und werden gegebenenfalls entsprechend Schritte einleiten.« Die einzelnen Delegierten der »Generation Deutschland« antworten auf Anfrage nicht. Auch der neue Bundesvorsitzende Jean-Pascal Hohm, der zudem für die AfD im Brandenburger Landtag sitzt, will sich nicht äußern.

In Gießen waren zudem zwei Männer im Delegiertenbereich, die sonst bei ausländischen Organisationen auftauchen: zum einen ein ehemaliger Führungsfunktionär einer belgischen Studentenvereinigung, die früher mit der neonazistischen NPD-Jugend zusammenarbeitete. Zum anderen war dort ein Mann zu sehen, der eng mit der »Jungen Tat« aus der Schweiz verbandelt ist – einer Aktivistengruppe, die von den dortigen Sicherheitsbehörden der gewalttätigen rechtsextremistischen Szene zugeordnet wird.
Offenbar sahen beide das Treffen der »Generation Deutschland« als gute Gelegenheit, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Am Abend fand in Gießen dann noch eine »Jugendkonferenz« der Fraktion aus dem Europaparlament statt, zu der die AfD gehört.

Man habe Hunderte Jugendliche und junge Erwachsene zusammengebracht, um sich »international zu vernetzen«, lobten sich die Organisatoren selbst. Ein Teilnehmer aus Frankreich schrieb anschließend bei Instagram, dass seine Organisation mit Weidel und Hohm das »gleiche Ziel« teile: »unsere Nationen und Völker vor Migrationsinvasion und Linksextremismus zu retten«.

Und dann war noch Dennis Busch Delegierter in Gießen. Er war früher in der »Bruderschaft Deutschland« aktiv, einer Gruppe von Neonazis, Hooligans und Rockern, die in Düsseldorf als Bürgerwehr auftrat. Mitglieder trugen unter anderem T-Shirts mit dem Aufdruck »Treue, Blut und Ehre« oder skandierten bei Aufmärschen in Richtung der Gegendemonstranten: »Wenn wir wollen, schlagen wir euch tot.«

Busch ist zudem Mitglied des »Ghost Gang MC«, wo er eine hochrangige Position innehat. Der Rockerklub entstand aus Abspaltungen von Motorradklubs wie den Bandidos. Busch und seine »Ghost Gang« sind eng verbandelt mit Neonazis, etwa mit einer Gruppe, die laut Bundesregierung teils gewaltbereit ist. Außerdem stehe sie der Ideologie von »Blood & Honour« nahe, jenem Neonazi-Netzwerk, das 2000 verboten wurde.

Von der AfD Düsseldorf heißt es auf Anfrage, Busch leiste als Bezirksvertreter »grundsolide politische Arbeit«.