Leipzigs geheime Rolle im Krieg: Wenn sächsische Gießereien Bauteile für Kriegswaffen herstellen
Recherchen von LVZ und SZ zeigen: Werke in Sachsen und Thüringen produzieren Teile für Munition, wie sie im Krieg in der Ukraine dringend benötigt wird. Die Fertigung sächsischer Rüstungsgüter ist umstritten – rettet inzwischen aber Jobs. Manche Arbeiter führt das in moralische Konflikte.
Leipzig. Deutsche Gießereien fertigen Rotorblätter für Windräder, oder Bremsklötze für Regionalzüge. Recherchen dieser Zeitung zufolge laufen in sächsischen Werken aber auch Rüstungsgüter vom Band. Teil der streng geheimen Produktion sind Rohlinge für großkalibrige Munition, wie sie gerade im Stellungskrieg in der Ostukraine dringend benötigt wird.
Leipziger Volkszeitung und Sächsischer Zeitung liegt ein Foto aus einem Werk der Dihag Gruppe vor, das einen Stapel Rohlinge für Munition zeigt. Dass solche Waffen in Deutschland hergestellt und an die Ukraine geliefert werden, ist kein Geheimnis: Im Juni genehmigte der Bundestag die Beschaffung tausender Geschosse vom Kaliber 155 Millimeter für das Land, mit Kosten von knapp 880 Millionen Euro.
Die Dihag Gruppe bestätigt die Echtheit des Fotos. Ob die Teile in die Ukraine geliefert werden, lässt sie aber offen. Die Gruppe gehört zu Europas führenden Gießerei‑Konzernen und betreibt in Leipzig etwa das Stahl- und Hartgusswerk Bösdorf (SHB), gelegen im Leipziger Süden am Rande des Zwenkauer Sees. Auch im erzgebirgischen Dippoldiswalde, in Coswig bei Meißen, oder in Meuselwitz und Arnstadt in Thüringen stehen Dihag-Werke. Zudem in Budapest und Polen. Von insgesamt 2500 Angestellten beschäftigt die Dihag mehr als 1800 allein in Sachsen.
Auf ihrer Website und auf Messen bewirbt die Gruppe ihre tonnenschwere Produktpalette im Bergbau, in der Windenergie und für Landmaschinen. Weniger öffentlich spricht sie über ihr Engagement im Rüstungsbereich. Auf Anfrage erklärt ein Sprecher: Man fertige in den Werken „nahezu jedes Gussprodukt im Bereich Eisen- und Stahlguss“. Vieles gieße man mithilfe von Kokillen. Gemeint sind wiederverwendbare Formen zur präzisen Fertigung von Autozylindern, Rädern – oder eben Rohlingen für Munition.
Darüber, wer die Gießerein mit Rüstungsfertigungen beauftragt, macht die Gruppe keine Angaben. Sie darf es nicht. „Aufgrund der bestehenden Geheimhaltungsverpflichtungen gegenüber unseren Kunden können wir keine näheren Angaben über Rüstungsgüter machen“, so der Sprecher. Aufträge würden stets „mit Geheimhaltungserklärungen zur streng vertraulichen Behandlung der Projektinformationen“ verschickt. Auf ihrer Website nennt sie die Ukraine als Markt mit großem Wachstumspotenzial.
„Aufgrund der bestehenden Geheimhaltungsverpflichtungen gegenüber unseren Kunden können wir keine näheren Angaben über Rüstungsgüter machen.“
Sprecher der Dihag Gruppe
Für die Gruppe ist die steigende Nachfrage ein lukratives Geschäft. Die Geschäftsbereiche „Sicherheit“ und „militärische Verwendung“, zu denen auch Bauteile für Kriegswaffen gehören, machen heute rund zehn Prozent im Jahresumsatzes des Gießereikonzerns aus. „Branchenmix“ nennt es der Sprecher, wenn die Kundschaft aus zivilen, aber auch anderen, etwa militärischen Bereichen, besteht. „Der damit einhergehende stabile Umsatz ermöglicht es, neue geografische Märkte zu erschließen und somit weiter zu wachsen.“
Dass sich die genau Menge an Rüstungsgütern nicht klar bemessen lässt, liegt auch daran, dass bei manchen Produkten einer Gießerei nicht vorbestimmt ist, ob sie letztlich etwa an ukrainischen Fronten landen – oder einem friedlicheren Ort. Sogenannte Dual-Use-Güter können rein theoretisch im Krieg verwendet werden, müssen das aber nicht. Ein Kenner der Branche erklärt das so: „Wenn Sie eine Schraube fertigen, wissen Sie nicht immer, ob die nachher eine zivile Baggerschaufel oder ein Panzerrohr befestigt.“
Eindeutiger ist die Sache bei Rohlingen, die schon anhand ihrer Form erahnen lassen: Hier soll etwas fliegen und detonieren. Auch jeder Arbeiter weiß, woran er da baut. Wie denken sie darüber?
Die Gießereien sind nicht schwer zu finden. Sie verbauen auch kein Schießpulver, es wird keine scharfe Munition gebaut. An dem Werk im Leipziger Süden laufen Arbeiter nach ihrer Acht-Stunden-Schicht auf den Parkplatz. Ein Mann, der gebrochenes Deutsch spricht, erklärt: Was er hier mache, sei geheim. Mit Blick auf eine Abbildung der Rohlinge nickt er, schaut sich um. Dann breitet er die Arme aus: „Munition, große Kaliber.“ Ein anderer Arbeiter lässt das Autofenster runter. Passt es ihnen, was Sie da produzieren? Der Mann nickt. „Arbeit ist nunmal Arbeit.“
Nicht alle sind da so gelassen. Sächsische Ergebnisse bei Europa- und Landtagswahlen verraten etwas davon, wie kritisch die Sachsen auf Rüstungsprodukte blicken. Gerade die von Russland überfallene Ukraine steht im Fokus gesellschaftlicher Debatten, bei der sich viele lieber Verhandlungen und Zugeständnisse wünschen, als weitere Bitten um Waffen und Munition. Oppositionsparteien wie BSW, AfD und Linke sprechen sich zum Teil sehr explizit gegen den Export sächsischer Kriegstechnik aus. Ihre Abgeordneten stellen keine gemeinsamen Anträge – seit der letzten Wahl aber gut die Hälfte des Sächsischen Landtags. Rüstungsgüter made in Sachsen, wie geht das eigentlich gut?
„Es kommt vor, dass die produzierten Güter konträr zur eigenen politischen Überzeugung stehen.“
Steffen Reißig, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Leipzig
Für Steffen Reißig, den ersten Bevollmächtigten der IG Metall Leipzig, ist das geheime Sortiment sächsischer Gießereien ein zweischneidiges Schwert. „Abhängig Beschäftigte können sich nicht aussuchen, welche Produkte sie produzieren“, sagt er. Und: „Es kommt vor, dass die produzierten Güter konträr zur eigenen politischen Überzeugung stehen.“ Davon dürfe man sich aber nicht spalten lassen. Reißig selbst verteidigt die Produktion von Kriegsgütern: „Wer morgens die Zeitung aufschlägt und die bittere Notwendigkeit der Wehr- und Sicherheitstechnik nicht anerkennt, der lebt in einer anderen Realität.“
Auf dem sächsischen Land sieht man das häufig etwas anders. Vor allem, wenn die Produktion von Waffenteilen öffentlich diskutiert wird. An einem Flugplatz in Großenhain bei Meißen wollte der Rüstungskonzern Rheinmetall laut Ankündigung Anfang 2023 eine Pulverfabrik für 800 Millionen Euro errichten. Die 20.000 Einwohner versetzte das in helle Aufregung. 15 Stadträte verschiedener Parteien verwiesen in einem Brief an Ministerpräsident Kretschmer auf die Sorgen der Großenhainer – vor technischen Störfällen, Cyber-Attacken, gar russischen Raketen auf ihre Ortschaft.
Ein Feuerwehrmann erklärte damals gegenüber dem MDR: „Ich weiß nur eins: Der Herr Putin kennt den Flugplatz. Der war hier. Der weiß hier, wo er ist. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen.“ Russlands Präsident Wladimir Putin war von 1985 bis 1990 als KGB-Agent in Dresden tätig. Letztlich entschied sich Rheinmetall anders und baut seine Pulverfabrik nun lieber in Bayern. Sachsen entging so nicht nur ein umstrittenes Projekt – sondern auch die Aussicht auf Arbeitsplätze und Steuereinnahmen.
Inhaber der sächsischen Gießereien: Ein Mann aus der Ukraine
Wirtschaftlich betrachtet kommt auch Gießereien die Nachfrage aus dem Krieg gelegen. Das sieht auch die IG Metall so. Im Februar gab die Gewerkschaft ein Papier unter dem Titel „Verteidigungsindustrie zukunftsfähig machen“ heraus. Darin fordert sie, die „eigenen Verteidigungsfähigkeiten in den Dimensionen Land, Luft und See“ weiterzuentwickeln. Auch, um die schwierige Lage der heimischen Industrie zu stärken. IG Metall-Vorstand Jürgen Kerner ergänzte: „2024 ist das Jahr der Entscheidung für die wehrtechnische Industrie in Deutschland.“
Rüstungsprodukte könnten nun jene Fehlbeträge ausbessern, die der Krieg selbst erst verursacht hat, seit mit dem Überfall auf die Ukraine kein billiges russisches Gas mehr nach Deutschland strömt. Der Leipziger Gewerkschafter Reißig sorgt sich dabei besonders um die Stahlindustrie: „Gießereien gehören zu den energieintensiven Unternehmen in Deutschland und sie haben besonders mit den hohen Energiekosten zu kämpfen.“ Deutschlandweit machte sich die Krise bereits beim Stahlriesen Thyssenkrupp bemerkbar, der demnächst 5.000 Arbeitsplätze streichen will.
Und auch die Dihag Gruppe mit ihren Werken in Sachsen und Thüringen geriet im Herbst 2021 unter Druck, als der amerikanische Hersteller Caterpillar ankündigte, seine Schiffsmotoren-Werke in Kiel und Rostock zu schließen. Die Standorte mit knapp 800 Mitarbeitern wurden auch von sächsischen Dihag-Gießereien beliefert, etwa vom SHB am Zwenkauer See, wo 225 Menschen arbeiten. Vier Monate später kam der Krieg in die Ukraine – und für sächsische Gießereien die Chance, ihre Arbeitsplätze dank neuer Aufträge perspektivisch zu retten.
Wer in Deutschland Rüstungsgüter herstellen und verkaufen will, muss sich auf regelmäßige Kontrollen einstellen – und benötigt eine extra Genehmigung vom Bundesamt für Ausfuhrgenehmigungen (BAFA). Auf Anfrage dieser Zeitung bittet die Behörde um „Verständnis dafür, dass das BAFA zu etwaigen Anträgen und Genehmigungsverfahren im Einzelfall aus Gründen der Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen keine Auskunft geben kann.“ Nach LVZ-Informationen liegt der Dihag Gruppe aber eine BAFA-Genehmigung vor. Zuletzt kam es auch zu spontanen Kontrollen.
Wie viele Rüstungsprodukte aus welchen Werken in Sachsen in welches Kriegsgebiet exportiert werden, erfährt man beim BAFA nicht. Die Behörde erklärt, man würde aber jede Anfrage „auf die beabsichtigte konkrete Nutzung des Ausfuhrguts beim Endverwender im Empfängerland“ prüfen. Laut dem Dihag-Sprecher sei es unmöglich, dass die Güter versehentlich in falsche Hände geraten. Man habe „umfangreiche interne Prozessregeln eingeführt.“ Dass „Produkte durch Angehörige der Russischen Föderation und dessen Militär genutzt werden“ könne man beispielsweise ausschließen.
Eine Vermutung darüber, auf welcher Seite des Kriegs die Produkte sächsischer Gießereien landen, lässt aber ein Blick auf die Dihag-Firmenstruktur zu: Das Unternehmen gehört seit 2021 Oleksandr Petrov – einem ukrainischen Millionär und Industriemagnat mit Wohnsitz auf Zypern.
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