Urteil: »Fahrrad-Gate«
Zwischen 2014 und 2018 wurden über 260 Fahrräder aus der Asservatenkammer der Leipziger Polizei illegal verkauft. Die Hauptangeklagte muss sich nun wegen Diebstahl, Bestechlichkeit und Urkundenfälschung vor dem Landesgericht in Leipzig verantworten. Hier berichten wir von den Entwicklungen an den einzelnen Prozesstagen.
Letzter Prozesstag: Das Urteil
Es sind mehrere Pressevertreter anwesend, mit gezückten Notizbüchern und aufgebauten Kameras. Die Angeklagte Anke S. und ihr Anwalt stecken ihre Köpfe zusammen, mit gefalteten Händen hört sie seinen geflüsterten Ausführungen zu. Ein Mann in Alltagskleidung lehnt sich in den Zuschauerreihen zu einem Polizisten und sagt:
»Es ist völlig offen, wie das hier heute ausgeht.« Um kurz nach 9 Uhr kommen dann die Richter und Schöffen in den Saal und der letzte Prozesstag beginnt. Nachdem die Beweisaufnahme offiziell als beendet erklärt wird, ist es Zeit für die Plädoyers, in denen in denen der Staatsanwalt und der Verteidiger von Anke S. unterschiedliche Bilder von der Angeklagten zeichnen.
Staatsanwalt Christian Kuka beginnt. Er wolle nicht noch einmal ausführlich über die einzelnen Fälle sprechen, sondern das Gesamtbild darstellen. Insgesamt stünden am Ende dieses Prozesses 72 Taten, in denen sich die Angeklagte verschiedener Straften schuldig gemacht hätte: Diebstahl, Bestechlichkeit, Untreue oder Verwahrungsbruch, in vielen Fällen manches gleichzeitig. Zu einer zentralen Frage des Prozesses hat er eine eindeutige Auffassung:
Die Fahrräder in der Asservatenkammer seien, nachdem die Versicherungen kein Interesse mehr an diesen hatten, Eigentum des Freistaates Sachsen und damit nicht »herrenlos« gewesen, daher habe sich Anke S. des Diebstahls schuldig gemacht. In der Wiederholung ihrer Taten sieht der Staatsanwalt zudem ein »wiederkehrendes konspiratives Verhalten«, etwa wenn sie im Zuge der Taten immer wieder den Gartenverein ihres Vaters genannt hatte, für den die Räder bzw. das Geld angeblich bestimmt gewesen seien. Zugunsten der Angeklagten führt er an, dass Anke S. glaubhaft gemacht hätte, dass es ihr auch darum gegangen sei, die Asservatenkammer »aufzuräumen« und dass sie die chaotischen Zustände in der »Zentrale Bearbeitung der Fahrradkriminalität« (ZentraB) angehen und verändern wollte.
Zudem sei sie nicht vorbestraft und habe viele Sachverhalte eingeräumt. Allerdings, bemängelt der Staatsanwalt, habe sie in ihrem Geständnis wenig Reue gezeigt und immer wieder darauf gepocht, dass sie sich während ihrer Taten im Recht wähnte. Am Ende fordert er eine Freiheitstrafe von einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung mit einer Meldeauflage, dazu Geldzahlungen an die Staatskasse.
Naturgemäß anders argumentiert Erik Bermüller, der Anwalt der Angeklagten. Anke S. präsentiert er als eine motivierte Polizeiangestellte, die sich als Einzige dem »blanken Chaos« in der ZentraB gewidmet habe und Gutes hatte tun wollen. Dabei habe sie nur leider Fehler begangen. Er kritisiert, dass in den Medien von ihr häufig als »Hauptverantwortliche« des Fahrradgates gesprochen werde, dabei könne niemand über so viele Jahre an den eigenen Vorgesetzten vorbei handeln. Ihr allein die Hauptschuld für die Geschehnisse zuzuschreiben, sei daher nicht korrekt.
Die Zustände seien unübersichtlich gewesen und Anke S. habe nur die beste Motivation gehabt, etwas gegen diese Unordnung zu unternehmen. Den Tatbestand des Diebstahls sieht der Anwalt nicht erfüllt. Übrig bleiben die Tatbestände Bestechlichkeit und Verwahrungsbruch. Er sieht bei seiner Mandantin jedoch kein konspiratives Verhalten, sondern attestiert ihr wirkliches Bedauern. Vieles würde sie heute anders machen als damals, was sie mehrmals in dem Prozess beteuert hätte.
Es habe zudem keine konkreten Geschädigten gegeben in diesem Fall, nicht die ehemaligen Fahrradbesitzer, nicht die Versicherungen, nicht den Freistaat. Schließlich sei das Verfahren sehr nervenaufreibend für die Angeklagte gewesen. Sie leide unter Panikattacken, sei in psychologischer Behandlung und auch ihre Familie habe sich »unschöne Dinge« anhören müssen. All das seien gewichtige Milderungsgründe. Am Ende möchte der Anwalt kein konkretes Strafmaß fordern. Stattdessen belässt er es bei der Forderung nach einer Geldstrafe und weist das Gericht darauf hin, dass es ebenfalls möglich wäre, Anke S. zwar schuldig zu sprechen, aber auf die tatsächliche Vollstreckung der Geldstrafe zu verzichten.
Das letzte Wort vor dem Urteil erhält Anke S. Die ganze Zeit über sitzt sie ruhig und mit gefalteten Händen neben ihrem Anwalt. Sie sei froh, dass der Prozess heute ende, es gehe ihr psychisch nicht gut und sie hoffe, bald ihre Kollegen wiedersehen zu dürfen. Sie wolle auch niemand die Schuld in die Schuhe schieben und betont im Hinblick auf ihr Fehlverhalten, dass sie nicht Jura studiert habe. Trotzdem gibt sie sich reumütig: »Für Fehler werde ich einstehen und es so akzeptieren.«
Nach einer Stunde Beratung kommt der Urteilspruch: Eine Geldstrafe in Höhe von 380 Tagessätzen à 45 Euro, insgesamt also 17.100 Euro. Den Tatbestand Diebstahl sehen die Richter und Schöffen nicht erfüllt und folgen dabei der Verteidigung. Übrig bleiben Untreue und Bestechlichkeit. Das Geld, dass Anke S. einbehalten hat, hätte an die Kasse des Freistaates gehen müssen. Richter Rüdiger Harr sieht Anke S. aber durchaus als ein Opfer der Zustände in der ZentraB. Es habe ein »begünstigendes Umfeld« für ihre Taten gegeben, Informationen und Kontrolle in diesem Bereich hätten gefehlt und es habe den Druck gegeben, Fahrräder loszuwerden.
Trotzdem trage Anke S. Verantwortung und Harr betont, dass es sich um das Fehlverhalten Einzelner gehandelt habe und man nicht davon sprechen könne, dass das Vertrauen in die Arbeit der Polizei als Ganze durch diese Taten erschüttert worden wäre. »Ein langer Prozess geht heute in erster Instanz zu Ende«, resümiert Harr. Staatsanwaltschaft und Anke S. können nun Revision beantragen.
JULIAN PIETZKO
15. Prozesstag, 22. Oktober: Die letzten Zeugenaussagen
Vor der Vernehmung der letzten Zeugen wird umgesetzte, was bereits beim letzten Prozesstag angedeutet worden war: die Erinnerungslücken der Zeugen werde der Angeklagten Anke S. positiv ausgelegt. Demnach strichen Richter Rüdiger Harr, der Verteidiger und der Staatsanwalt einige Fälle aus der Anklage, da aus »aus subjektiver Sicht« kein Diebstahl stattgefunden habe.
Es liege nach neuer Einschätzung bei einigen der Fahrradentwendungen vielmehr ein Fall von Untreue vor. Der Tatbestand des Diebstahls sei nicht erfüllt, da die Parteien davon ausgegangen waren, dass die Räder herrenlos seien.
Ähnlich wie bereits andere Zeugen kann sich die erste Zeugin des heutigen Prozesstages nicht mehr gut an die entsprechenden Ereignisse erinnern. Zu lange her sei der Verkauf. Weder wie das Rad aussah noch ob es eine Quittung beim Verkauf gegeben hatte, sei ihr noch bekannt. Auch nachdem Richter Harr ihr ein Bild von einem Fahrrad zeigt, kann sie nur mutmaßen, ob das ihres war.
Sicher ist sie sich allerdings bei der Tatsache, Geld bezahlt zu haben. Doch wohin dieses ging, wisse sie ebenfalls nicht mehr. Bei der zweiten Zeugin wiederholt sich, was schon zuvor einige Male geschehen ist: Die Fahrräder fanden nie ihren Weg zum Verein, an den sie als Spende gehen sollten. Die Zeugin berichtet, dass sie wegen persönlicher Umstände die Spende der fünf Räder aus den Augen verloren habe.
Viel zu erzählen hat die dritte Zeugin. »Ich war mir sicher, nichts falsch gemacht zu haben«, sagte sie direkt zu Beginn. Mehrmals während der Vernehmung weist Richter Harr sie darauf hin, dass sie nicht die Beschuldigte ist. Sie könne sich noch sehr gut an das Fahrrad erinnern, da dieses einen Monat nach dem Kauf aus ihrem Keller gestohlen worden sei. Dies habe die Zeugin auch zur Anzeige gebracht und hätte das nach eigenen Angaben nie gemacht, wenn sie sich der Rechtmäßigkeit des Verkaufs nicht sicher gewesen sei. Deshalb kann sie sich noch gut an Modell und Aussehen des Rads erinnern.
Zwischen den Zeugenaussagen befragt Richter Harr die Angeklagte Anke S. zu ihrer Situation seit Beginn des Prozesses. »Ich bin mir keiner Schuld bewusst«, sagt sie. Die Anklage sei für sie sehr überraschend gewesen, denn sie sei sich immer sicher gewesen nach »bestem Wissen und Gewissen« gehandelt zu haben. Zudem habe sie immer nur positives Feedback aus den Reihen der Kollegen bekommen.
Seit Beginn des Prozesses sei sie in psychologischer Behandlung und habe mit der Presse zu kämpfen gehabt. Vor allem am Anfang hätten Journalistinnen und Journalisten regelmäßig vor der Tür gestanden, um sie zu interviewen. Außerdem bemängelt sie Fehlinformationen über sie in den Medien. Als sie nochmal näher zu ihrer psychischen Belastung befragt wird, ist die Angeklagten sichtlich betroffen: Nicht nur der Prozess setze ihr zu, auch im familiären Umfeld habe es einige Schicksalsschläge gegeben. Richter Harr zeigt Verständnis für die Situation von Anke S. und fragt behutsam nach, von welchem Geld sie gerade lebe. Das sei besonders für die Festlegung des Strafmaßes wichtig, falls es zu einer Geldstrafe kommt.
Nach 90 Minuten – und ohne Auftauchen des vierten und letzten geladenen Zeugens – schließt Richter Harr die Sitzung und kündigt für nächste Woche den Urteilsspruch an.
HANNAH KATTANEK
Vierzehnter Prozesstag, 1. Oktober: Unterwegs in Richtung Zielgerade
Vor Beginn des vierzehnten Verhandlungstages im Fahrradgate Prozess hatte sich die Strafkammer um Richter Rüdiger Harr bereits ihre Bewertung der bisherigen Zeugenaussagen bekannt gegeben: wenige der Berichte seien in ihrer inhaltlichen Tiefe für ein gerichtliches Urteil belastbar, das müsse der Angeklagten Anke S. daher positiv ausgelegt werden.
Über eine erneut detaillierte Befragung hatte Harr gehofft, die heute anwesenden Zeugen könnten dem ermittelnden Gericht noch »ein kleines Stückchen weiterhelfen«– die Aussagen der beiden Polizeibeamten unterschieden sich jedoch nicht signifikant von den Berichten ihrer Kollegen aus der Vorwoche.
So hätten beide Zeugen über »Mund-zu-Mund-Propaganda auf dem Revier« von der Möglichkeit erfahren, bei Anke S. Fahrräder aus dem polizeilichen Bestand »erwerben« zu können. Vor dem Treffen mit der Angeklagten sei beiden Polizisten auch bewusst gewesen, dass eine gemeinnützige Spende in Höhe von 50€ für die Übernahme erwartet wurde. Anke S. habe dabei nie einen Empfängerverein für die Spende vorgeschlagen, sondern es den Käufern selbst überlassen, wohin sie den Betrag überweisen. Weiter berichten beide Zeugen von einem Buch, in welchem die Übergabeprotokolle festgehalten worden seien.
»Ist das Ihre Unterschrift?«, möchte das Gericht wissen. Beide Beamten bestätigen die Frage nach Ansicht der Protokolle, können sich jedoch nicht daran erinnern, wie die Buchseiten, auf denen sie signiert hatten, vor ihrer Unterschrift aussahen. Es sei also nicht auszuschließen, »dass Eintragungen in dem Protokollbuch nachträglich vorgenommen worden sind«, sagt Richter Harr. Viele Unterlagen, die im bisherigen Verfahren in Augenschein genommen wurden, seien mit »auffälligen Unregelmäßigkeiten« behaftet.
Identisch schildern die heutigen Zeugen auch den Verlauf ihrer Spendenüberweisung. Aus unterschiedlichen Gründen sei die Zahlung »auf die lange Bank geraten« und habe letztendlich nie stattgefunden. Von Anke S. sei deshalb nie nachgehakt worden – der anwesende Vertreter der Staatsanwaltschaft sieht in diesen Redundanzen eine mögliche Krux der Strafhandlungen. Die Angeklagte habe womöglich »ein bewusstes Konstrukt mit illegalem Handlungsmotiv aufgebaut«, in welchem sie einen Teil der Fahrräder aus dem Polizeibestand für persönlichen oder familiären Profit verkaufte.
Andere unbeteiligte Käuferinnen und Käufer, wie etwa die zwei heutigen Zeugen, könnte sie dabei als Deckung genutzt haben – diese sollten die 50€-Übernahmegebühr schließlich unverbindlich an einen Empfängerverein ihrer persönlichen Wahl überweisen. Intern wolle die Staatsanwaltschaft nun noch einmal über eine gemeinsame Einschätzung zu allen bisherigen Zeugenaussagen beraten und diese zum nächsten Verhandlungstermin vorlegen. Dann, am 22. Oktober, sollen die letzten vier Zeugen vernommen werden – »langsam bewegen wir uns in Richtung der Zielgeraden“, verkündet Richter Rüdiger Harr und schließt die Sitzung bereits nach 60 Minuten. MAX HOBRECHT
Dreizehnter Prozesstag, 24. September: 17 Zeugenaussagen und wenig Erinnerungen an Fahrradkäufe
Nach einer Sommerpause von etwa zwei Monaten wird die Verhandlung fortgesetzt. Am heutigen Tag sind 18 Zeugen geladen, von denen eine Zeugin krankheitsbedingt fehlt. 15 von ihnen sind Polizeibeamte, die auf verschiedenen Revieren in und um Leipzig arbeiten. Gegen die meisten wurden Straf- oder Disziplinarverfahren eingeleitet, die jedoch inzwischen gegen Zahlung einer Geldauflage oder mangels Beweise eingestellt wurde.
Im Zentrum der heutigen Verhandlung steht der Vorwurf der Bestechlichkeit. Es wird geprüft, ob die Angeklagte Anke S. die Zeugen dazu aufgefordert hat, Geld- oder Spendenzahlungen an sie zu leisten.
Gleicher Ablauf aller Zeugenvernehmungen
Der Ablauf aller Befragungen folgt dem gleichen Schema, wie bereits zu den letzten zwei Prozesstagen: Die Zeugen werden zunächst gebeten, ihre Erinnerung an den Fahrradkauf zu schildern. Dann wird nach möglichen Zahlungen gefragt, die sie im Zusammenhang mit dem Kauf geleistet haben. Anschließend erkundigt sich die Kammer, ob eine konkrete Aufforderung zur Spende vorlag. Zudem wird geklärt, ob die Fahrräder für den eigenen Gebrauch oder für einen gemeinnützigen Verein erworben wurden.
Zum Schluss werden die Zeugen mit den Quittungen konfrontiert, die sie bei dem Kauf vermeintlich unterschrieben haben. Diese werden auf einem Bildschirm gezeigt und die Zeugen müssen bestätigen, ob sie den Verein, der auf der Quittung genannt ist, kennen. Interessant ist, dass zwar einige Zeugen angeben, sich Gedanken über den Verbleib der Fahrräder in der Asservatenkammer gemacht zu haben, den eigenen Kauf dann jedoch nicht weiter hinterfragten.
Alle Zeugen gingen damals davon aus, dass der Kauf rechtens sei, da es »alle so gemacht haben«, denn »das wussten alle im Polizeipräsidium«. So soll Anke S. gesagt haben, dass die Fahrräder an einen gemeinnützigen Verein übergeben werden können, sobald sie von der Versicherung freigegeben werden. Auch die unterschriebene Quittung und die neue Fahrradregistrierung führte demnach zu dem Glauben der Rechtmäßigkeit.
Kaum Erinnerungen an Fahrradkauf
Die meisten der geladenen Polizeibeamten beginnen ihre Aussagen mit dem Hinweis, dass der Kauf des Fahrrads, um das es geht, lange zurückliegt und sie sich daher kaum noch an Details erinnern können. Auch zu den gekauften Fahrrädern selbst können sich viele nicht mehr äußern. Ein Zeuge erinnert sich auch nicht mehr, ob die Unterschrift auf der Quittung seine ist.
Der Richter Rüdiger Harr reagiert bestimmend darauf, dass »wir alle wissen, das ist Jahre her« und bittet die Zeugen, zu versuchen, sich an den Kauf zurückzuerinnern. Er macht dabei deutlich, dass es nicht darum geht, den Zeugen Vorwürfe zu machen, sondern ihre Aussagen für den Fall der Angeklagten zu nutzen.
Einige Zeugen wirken sichtbar genervt davon, aussagen zu müssen. Mit abgestütztem Kopf, Hand vor dem Mund oder verschränkten Armen antworten einige sehr wortkarg auf die Fragen der Richter. Zum Beispiel das »es spekulativ ist, sich festzulegen« oder ein anderer »vermutlich« drei Fahrräder gekauft habe. Viele Beamte können sich aufgrund von angeblichen Wissenslücken nicht äußern.
Nach elf Zeugen gibt es eine rund 90-minütige Pause. Danach werden die verbleibenden sechs Zeugen innerhalb von etwa anderthalb Stunden befragt. Der Verhandlungsverlauf beschleunigt sich spürbar, da das Gericht weniger Rückfragen stellt. Gegen 14 Uhr endet die Verhandlung schließlich. Zum Abschluss erklärt Richter Harr, dass nur die Aussagen zweier Zeugen strafrechtlich relevante Hinweise enthalten. Diese Aussagen sind deshalb von Bedeutung, weil tatsächlich Geldzahlungen an die Angeklagte Anke S. übergeben wurden. Die übrigen Personen konnten oder wollten sich nicht erinnern.
FRAUKE OTT
Siebter Prozesstag, 23. Juli: Fahrradkäufer im Kreuzverhör
Am siebten Verhandlungstag werden sechs Personen vernommen, die Fahrräder von der Angeklagten Anke S. gekauft haben. Die erste Zeugin ist ehemalige Sachbearbeiterin der Ermittlungsgruppe »Zentrale Bearbeitung der Fahrradkriminalität« (ZentraB Fahrrad). Sie hatte einem Bekannten ein Rennrad aus Beständen der Polizei vermittelt, das Strafverfahren gegen sie wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Dennoch möchte sie am liebsten nichts dazu sagen. Immer wieder wollen als Zeugen geladene Polizeibeamte im Prozess nur teilweise aussagen, weil gegen sie noch Disziplinarverfahren laufen – sie haben Sorge, dass ihre Aussagen in den Verfahren gegen sie verwendet werden könnten.
Doch nach Ansicht der Kammer kann die Zeugin die Aussage nicht verweigern. Das folgende Wortgefecht ist der Auftakt für eine Aussage, während der die Zeugin zwischen Verzweiflung und Wut schwankt – in einem Moment vergräbt sie ihr Gesicht in den Händen und kämpft mit den Tränen, im nächsten erhebt sie ihre Stimme, um der Kammer zu widersprechen. Schließlich berichtet die Zeugin doch vom Fahrradkauf. Sie habe der Angeklagten Anke S. 50 Euro von ihrem Bekannten als Kaufpreis zukommen lassen und ihrem Bekannten das Fahrrad an einem vereinbarten Treffpunkt übergeben. Dabei, so betont sie mehrfach, sei sie überzeugt davon gewesen, rechtmäßig zu handeln.
Der Eindruck der Kammer scheint ein anderer zu sein. Der beisitzende Richter Gaitzsch bezeichnet das Verhalten der Zeugin bei der Vermittlung des Fahrrads als »konspirativ«. Richter und Staatsanwaltschaft konfrontieren die Zeugin mit Chatverläufen und Aussagen, die nicht mit ihrer Erzählung zusammenpassen.
Auch die nächste Zeugin muss sich schwierigen Fragen stellen. Sie ist ebenfalls Polizeibeamtin und war in der ZentraB Fahrrad tätig. Sie habe von Anke S. zwei Fahrräder für den Angelverein ihres Bruders erhalten. Im Laufe der Befragung werden jedoch Unstimmigkeiten offensichtlich: Eins der Fahrräder hatte sie als Sachbearbeiterin der Polizei selbst verwaltet.
Anke S. war mit diesem Fahrrad nie in Kontakt gekommen. Es steht im Raum, dass die Zeugin selbst das Fahrrad aus den Asservatenbeständen der Polizei entfernt hat. Dennoch streitet die Zeugin ab, das Fahrrad an ihren Bruder übergeben zu haben. Eine Erklärung dafür, wie Anke S. daran beteiligt gewesen sein soll, dieses Fahrrad herauszugeben, bleibt sie jedoch schuldig
Auch die weiteren vier befragten Zeugen arbeiteten als Sachbearbeiter in der ZentraB Fahrrad. Sie bestätigen den Ablauf des Fahrradverkaufs. Sie hatten jeweils zwischen einem und drei Fahrrädern von Anke S. erhalten. Gegen alle Zeugen liefen Strafverfahren, die mittlerweile eingestellt wurden. Beim Kauf der Fahrräder erhielten die Käufer ein Übergabeprotokoll, auf dem als Verkäufer der Gartenverein des Vaters der Angeklagten vermerkt war.
Anke S. erhielt 50 Euro pro Fahrrad. Alle Befragten erklären, sie hätten bei dem Geschäft keine Bedenken gehabt – dass sie Anke S. Geld für Fahrräder zahlten, die ihr nicht gehörten, haben die sechs Beamten wohl erst im Laufe der Aufarbeitung verstanden. NIKLAS PFEIFFER
Sechster Prozesstag, 16. Juli: Fahrradhändler, Sachbearbeiter und ehemaliger Polizei-Praktikant sagen aus
Der Saal ist fast leer, das öffentliche Interesse lässt nach. Nur zwei weitere Personen sitzen in den Zuschauerreihen, einer von Ihnen in Polizeiuniform gekleidet. Der erste Zeuge des Tages ist ein selbstständiger Fahrradhändler. Er hat sichtlich keine Lust auf diese Vernehmung. Mit verschränkten Armen lehnt er sich tief in den Stuhl zurück. Der Richter Rüdiger Harr beginnt mit einer sehr offenen Frage:
»Was können Sie allgemein zur Fahrradgeschichte sagen?« Der Zeuge lacht: »Was soll ich dazu sagen?« Wieder der Richter: »Finden Sie das besonders lustig gerade?« In den Jahren 2014 und 2015 soll der Händler Fahrräder von der Angeklagten Anke S. bekommen haben. Die Richter fragen, wie die Kontaktaufnahme von Seite der Angeklagten verlief, mit wem genau Kaufverträge abgeschlossen wurden, ob und wie viel Geld geflossen ist. Immer wieder sagt der Zeuge, er könne sich nicht erinnern oder schweigt.
Was er schließlich bestätigt: Er kannte die Angeklagte S. schon lange und wusste, dass sie bei der Polizei arbeitete. Sie habe in seinem Laden Kontakt mit ihm aufgenommen und ihm schließlich zwei Fuhren an Fahrrädern gebracht, wobei er die erste gegen Bargeld entgegengenommen habe. Kaufverträge seien ihm bereits ausgefüllt von Anke S. vorgelegt worden, er habe sie einfach unterschrieben. Als Verkäufer stand der Vater der Angeklagten auf den Verträgen, als Privatperson, nicht in seiner Funktion als Vorsitzender des Kleingartenvereins. Mit diesem habe er nie gesprochen.
Der zweite Zeuge ist ein ehemaliger Sachbearbeiter in der ZentraB Fahrrad. Ihm zufolge seien sehr viele Räder im Asservat gewesen und klare Regeln oder Vorschriften, was mit diesen gemacht werden solle, hätten gefehlt. Klar sei nur gewesen:
»Die Räder müssen raus. Wie, das hat keiner gesagt.« Er habe irgendwann mitbekommen, dass Anke S. gelegentlich Fahrräder mitnimmt und auch, dass Polizisten gekommen seien, um Räder abzuholen. Er habe sich nichts dabei gedacht: »Wenn Polizisten zu uns kommen wegen Rädern, dann ist das bekannt. Es hat keiner was dagegen unternommen.« Erst später habe er mitbekommen, dass einige für 50 Euro verkauft wurden, dass also Geld geflossen sei.
Der dritte Zeuge kommt in Uniform und mit einer Waffe am Gürtel. Ein Polizist, der vor Jahren selbst ein Fahrrad von Anke S. abgekauft hat, sich nichts dabei gedacht hat und nun in einem Disziplinarverfahren hängt. Er sei damals, im Jahr 2015, noch Praktikant bei der Polizei gewesen, als er gehört habe, dass man an Räder aus der Asservatenkammer kommen könnte. Mit einem Kollegen sei er zur Kammer gefahren, einer großen Halle mit dutzenden Rädern drin, viele mit Zetteln beklebt, an denen die Namen von Interessierten Kollegen standen. Dort habe er auch gesehen, wie Räder in Transporter geladen wurden.
Für sich selbst habe der Zeuge ein Rad markiert, die Klebezettel dafür lagen auf dem Schreibtisch von Anke S. Er sei davon ausgegangen, dass S. das Geld für die Fahrräder verwahren und an den Kleingartenverein weitergeben würde:
»Ich ging davon aus, dass das alles passte. Für mich war der Rad-Kauf sauber.« Der Richter fragt, welchen Eindruck Anke S. auf den Zeugen damals gemacht hat: »Niemand hätte mit ihrer Position tauschen wollen. Es war so viel Arbeit, ich würde gänzlich verzweifeln. Sie wirkte überfordert mit der ganzen Situation.« JULIAN PIETZKO
Fünfter Prozessstag, 9. Juli: Kammer gibt Einschätzungen zu Urteil und Strafmaß
Der Prozesstag beginnt unerwartet mit einem Antrag von Rechtsanwalt Bergmüller. Er kritisiert die Praxis der Polizeidirektion Leipzig, Beamte als Prozessbeobachter in die Verhandlung zu entsenden. Während der Aussage von Ingmar D. am vorletzten Termin sei durch die räumliche Nähe des Prozessbeobachters, der direkt hinter dem Zeugen saß, »eine absolute Drucksituation« erzeugt worden. Bergmüller fordert daher, dass sich polizeiliche Prozessbeobachter in die letzte Reihe des Zuschauerraums setzen müssen und keine Notizen mehr machen dürfen.
Nach einer längeren Beratungspause geht die Kammer auf die Forderung ein und verbannt polizeiliche Prozessbeobachter in die letzten zwei Reihen des Zuschauerraums. Notizen dürfen sie aber weiterhin anfertigen. »Ich behalte mir auch vor, weitere Maßnahmen zu treffen, wenn der Eindruck besteht, dass Zeugen beeinflusst werden«, schließt der vorsitzende Richter Harr das Thema ab. Drei Zuschauer müssen ihre Plätze wechseln.
Sachbearbeiter wusste von Vorgängen um Anke S.
Anschließend wird der Zeuge Matthias M. vernommen. Der Polizist war seit Gründung der Ermittlungsgruppe »Zentrale Bearbeitung der Fahrradkriminalität« (ZentraB Fahrrad) als Sachbearbeiter tätig. Zunächst berichtet er von den Strukturen in der Einheit und bestätigt, dass Anke S. wichtig für die Funktion der Einheit war und sehr viele Aufgaben übernahm. Man habe ihr deswegen auch den Spitznamen „Chefin“ gegeben.
Dann richtet sich die Befragung auf den Verkauf von Fahrrädern. M. berichtet, dass er vom Verkauf von Fahrrädern in der Einheit mitbekommen habe. Er habe das für bedenklich gehalten und kritisiert. Dass auch innerhalb der Polizei Fahrräder verkauft werden, habe er irgendwann geahnt: Ihn hätten immer wieder Beamte angerufen, die sich erkundigt hätten, ob man bei ihnen wirklich Fahrräder kaufen könnte. Die Anfragen seien irgendwann so häufig gewesen, dass er seinen Vorgesetzten gebeten habe, in einer Rundmail klarzustellen, dass die Ermittlungsgruppe keine Fahrräder verkauft. Er habe auch von Fahrrädern mitbekommen, die aus den Asservaten verschwanden.
Daher habe er seinen Kommissariatsleiter dazu gedrängt, eine Inventur durchzuführen. Eine Untersuchung habe aber erst unter dem späteren Leiter der ZentraB Fahrrad, Ingmar D., stattgefunden. Nachdem D. die Einheit übernommen hatte, deckte er den umfassenden Verkauf von Fahrrädern in seiner Einheit auf und regte daraufhin Ermittlungen an.
Kammer gib erste Einschätzung zu Urteil und Strafmaß
Im Anschluss gibt der vorsitzende Richter bekannt, wie die Kammer den Sachverhalt bisher einschätzt. Die Staatsanwaltschaft wirft Anke S. Bestechlichkeit, Diebstahl, Urkundenfälschung und Verwahrungsbruch im Amt vor. Eine Verurteilung hält die Kammer vorläufig aber nur wegen Bestechlichkeit und Untreue für wahrscheinlich. Richter Harr betont mehrmals, dass das Strafmaß durch ein Geständnis der Angeklagten deutlich geringer ausfallen könnte. Nach der Einschätzung der Kammer könnte Anke S. zu einer Geldstrafe von mindestens 360 Tagessätzen bis zu einer zur Bewährung ausgesetzten Haftstrafe verurteilt werden.
Nach der Pause wird ein weiterer Zeuge vernommen, der in der ZentraB Fahrrad tätig war. Die Vernehmung gestaltet sich schwierig, der Zeuge scheint das Gericht schlecht zu verstehen und gibt teilweise unverständliche Antworten. Die Kammer beendet die Befragung daher nach kurzer Zeit.
Als letzter Zeuge wird ein weiterer Beamter der ZentraB Fahrrad befragt. Auch diese Befragung bleibt kurz. Er erklärt, wie Fahrräder während Ermittlungen in die Obhut der Polizei gelangen und bestätigt den Umgang der Einheit mit Fahrrädern, den die zuvor im Prozess befragten Beamten geschildert haben. NIKLAS PFEIFFER
Dritter Prozessstag, 11. Juni: Vorgesetzter schildert Vorgehen gegen Anke S. – Gericht stellt Strafminderung in Aussicht
Der Verhandlungstag widmet sich den Strukturen der Ermittlungseinheit »Zentrale Bearbeitung der Fahrradkriminalität« (ZentraB Fahrrad), in der Anke S. ihren Dienst verrichtete.
»Die Leistungsfähigkeit der Kollegen war unterdurchschnittlich, die Vorgangsbelastung absolut überdurchschnittlich«, fasst Oliver K. die Zustände in der Ermittlungsgruppe ZentraB zusammen. Man könne sie als ungeliebtes Kind der Polizeidirektion Leipzig bezeichnen, bestätigt K. auf Nachfrage des vorsitzenden Richters Rüdiger Harr. K. leitete die Einheit von 2017 bis 2018. Auch er berichtet von den Kapazitätsproblemen der Ermittlungsgruppe, die an vorangegangen Verhandlungstagen geschildert wurden.
Anke S. sei als engagierte und leistungsfähige Beamtin aufgefallen. Sie habe die Verwaltung der beschlagnahmten Fahrräder mit einem anderen Kollegen übernommen. K. selbst habe die Verwaltung und Verwertung der Fahrräder nicht genau verfolgt. Dass Anke S. Fahrräder an Polizeibeamte verkauft haben soll, sei ihm nicht bekannt gewesen.
Als nächster Zeuge tritt Ingmar D. auf, der die Einheit 2018 übernahm. Er ist nach wie vor für die Polizeidirektion Leipzig tätig. D. spricht langsam, formuliert vorsichtig und unterbricht immer wieder, um auf die beschränkte Aussagegenehmigung auf dem Tisch vor ihm zu blicken, die ihm die Polizeidirektion Leipzig auferlegt hat. Beamte benötigen eine Aussagegenehmigung, wenn sie über Angelegenheiten aussagen, die der Amtsverschwiegenheit unterliegen. Geht es um besonders sensible Belange, kann diese beschränkt werden.
Neuer Vorgesetzter begann Untersuchung gegen Anke S.
Im November 2018 habe er das erste Mal von Unregelmäßigkeiten bei der Verwaltung der gelagerten Fahrräder erfahren. Daraufhin habe er eine Inventur angeordnet und seine Vorgesetzten informiert. Bei der Inventur sei aufgefallen, dass sich an einigen Fahrrädern Aufkleber mit Telefonnummern befunden hätten.
Mit diesen Aufklebern hätten Polizeibeamte Fahrräder für sich reserviert, bis die Ermittlungsgruppe sie als herrenlos einordnete. Die reservierten Fahrräder seien dann mutmaßlich von der Angeklagten an die Beamten verkauft worden, sagt D.
Ingmar D. habe bei weiteren Überprüfungen Abweichungen zwischen den Datenbanken der Ermittlungsgruppe und dem Fahrradbestand festgestellt. Fahrräder, die laut Datenbank an gemeinnützige Vereine abgegeben worden waren, seien zudem teilweise als Eigentum von Polizeibeamten registriert gewesen.
Nach mehreren Gesprächen und Untersuchungen habe die Angeklagte Ingmar D. gegenüber schließlich im Juli 2019 den Verkauf von 34 Fahrrädern eingeräumt, woraufhin D. sie beurlaubt und die Staatsanwaltschaft um die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gebeten habe.
Höhere Ebenen in der Polizeidirektion Leipzig hätten schon länger von Aktivitäten gewusst
Die weitere Befragung widmet sich den Vorgesetzten von Ingmar D. Sowohl der damalige Leiter des Kommissariats 26, der direkte Vorgesetzte von D., als auch der damalige Dezernatsleiter werden in diesem Prozess nicht aussagen, weil sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen.
Der damalige Leiter des Kommissariats 26 habe den Sachverhalt weniger ernst genommen, erinnert sich D. Bevor Anke S. den Verkauf einräumte, habe er D. in einem Gespräch aufgefordert, Unregelmäßigkeiten in den Verwaltungssystemen zu »bereinigen«. D. meint, diese Anweisung »mit gutem Grund« kritisch zu sehen. Er habe den Eindruck, dass höhere Ebenen in der Polizeidirektion Leipzig schon länger von den Aktivitäten der Angeklagten gewusst hätten.
Während seiner Aussage unterbricht ihn der beisitzende Richter: »Fühlen sie sich überwacht von ihrem Kollegen, der hinter ihnen sitzt?« Im Zuschauerraum hinter Ingmar D. sitzt ein uniformierter Polizist, der in einem Notizbuch mitschreibt. D. bejaht die Frage. Er habe Sorge, mit seiner Aussage gegen die Auflagen der Polizeidirektion zu verstoßen. Der Vorsitzende Richter gibt zu Protokoll, dass die Beobachtung durch die Polizei zulässig sei, äußert aber Verständnis für die Vorsicht des Zeugens: »Wir sehen ja auch, in welcher Situation sie sich befinden, wir sind ja nicht blind.«
Als D. seine Aussage beendet hat, bedankt sich der vorsitzende Richter und verabschiedet ihn mit den Worten: »Auch gerade Wege können sehr steinig sein«. Bevor er den Prozess beendet, verkündet er, dass die schwierigen Zustände in der ZentraB die Handlungen der Angeklagten zumindest stark begünstigt hätten. Das werde die Kammer im Strafmaß berücksichtigen. NIKLAS PEIFFER
Zweiter Prozesstag, 4. Juni: Anke S. weist Vorwürfe zurück – ihr ehemaliger Vorgesetzter widerspricht
Die Verhandlung beginnt, wie in der vorangegangenen Woche angekündigt: Erik Bergmüller, der Anwalt der Angeklagten Anke S., verliest die Stellungnahme seiner Mandantin. Darin beschreibt Bergmüller, wie die Asservierung der sichergestellten Fahrräder ablief. Er betont, dass die Herausgabe an gemeinnützige Vereine nie eigenmächtig stattgefunden habe und alle Schritte stets offengelegt worden seien.
Weil sich immer mehr Fahrräder angesammelt hätten, sei in der Asservatenkammer irgendwann ein Platzproblem entstanden. Die Abnahme der Fahrräder durch Vereine, besonders den Kleingartenverein (KGV) des Vaters der Angeklagte, habe also vielmehr als Entlastung gedient und nicht der persönlichen Bereicherung. »Ich bin bemüht, an der Klärung mitzuwirken«, zitiert Bergmüller seine Mandantin gegen Ende.
In der anschließenden Befragung von Anke S. liegt der Fokus auf der Herausgabe der Fahrräder. Ruhig und besonnen antwortet sie auf alle Fragen. Zwischendurch spricht sie sich einige Male mit ihrem Verteidiger ab. Auch wenn deutlich wird, dass sie nicht immer zufriedenstellende Antworten für die Kammer parat hat, wirkt sie kaum verunsichert. Unter ihren Kollegen hätte sich herumgesprochen, dass Fahrräder über gemeinnützige Vereine abzugeben seien. Viele hätten im Namen eines Vereins Räder abgeholt, ob diese tatsächlich beim Verein ankamen, sei nicht kontrolliert worden.
Wer keinen Verein als Abnehmer hatte, habe trotzdem ein Fahrrad direkt vor Ort gegen Bargeld bekommen, die Abwicklung sei dann über den KGV des Vater der Angeklagten gelaufen. In dem Moment, als sie das Geld entgegennahm, habe sie als Privatperson gehandelt, auch wenn es während ihrer Dienstzeit gewesen sei, sagt S. Auf die Frage, wo die Grenze zwischen ihrer Rolle als Privatperson und Polizistin verlaufen sein, hat S. keine Antwort.
Auch gibt es keine Erklärung dafür, weshalb sie mit dem Namen ihres Vaters und nicht mit dem eigenen die Quittungen unterschrieben hat. Teilweise seien die Unterschriften auch unleserlich gewesen. Staatsanwalt Christian Kuka legt den Verdacht nahe, dass vertuscht werden sollte, dass so viele Fahrräder über den KGV des Vaters abgegeben wurden.
Immer wieder werden Fragen zu Regelungen bezüglich der Herausgabe von Asservaten gestellt. Doch laut der Angeklagten gab es keine. In der folgenden Vernehmung bestätigen sowohl ihr ehemaliger Vorgesetzter als auch ihre Vorgängerin als Zuständige für die Asservaten, dass es keine Vorgaben oder Vorschriften gegeben habe, wie bei der Herausgabe von Fahrrädern vorzugehen war.
Nur die Gemeinnützigkeit der Vereine war Voraussetzung für die Abgabe, ansonsten hätten die Vereine frei ausgewählt werden können. Auch eine Kontrolle der Verfahrensweise von Anke S. habe nie stattgefunden. Trotzdem ergeben sich auch Widersprüche, denn laut der Angeklagten habe ihr Vorgesetzter über alle Schritte Bescheid gewusst. Dem widerspricht er: von der Weitergabe gegen Bargeld sei ihm nichts bekannt gewesen.
Die Vorgängerin von Anke S. hingegen habe davon gewusst, nachdem sie selbst nicht mehr für die Asservaten zuständig gewesen sei. Sie wird zunehmend unruhiger und rutscht immer mehr in eine rechtfertigende Position. Die Frage, ob es zu ihrer Zeit bereits möglich gewesen sei, Fahrräder vor Ort zu bekommen, verneint sie und verweigert genauere Angaben dazu, weil gegen sie auch ein Verfahren läuft. Die Vorgängerin berichtet davon, dass Anke S. gegen ihren neuen Vorgesetzen gewettert habe, weil der das Vorgehen genauer kontrolliert habe. Eine dritte Zeugenvernehmung, die für den Termin angesetzt war, wird auf einen späteren Termin verschoben. LEONIE BEER
Erster Prozesstag, 28. Mai: Verhandlung mit neuer Verteidigung beginnt neu – Anklageschrift bleibt gleich
»Ich versuche bis zum Mittag damit durchzukommen«, erklärt Staatsanwalt Christian Kuka dem Richter Rüdiger Harr, als dieser ihn fragt, ob er für die Verlesung der Anklageschrift eine Pause brauche. Das Vorlesen der Anklage dauert etwa vier Stunden, wie sich im Laufe des Dienstags herausstellen wird. Es ist die gleiche Anklage, die bereits Mitte März zum eigentlichen Verhandlungsbeginn im »Fahrrad-Gate«-Prozess verlesen wurde.
Damals wurde der Prozess nach einem Monat unterbrochen, da der ehemalige Verteidiger der Angeklagten Anke S. angab, sich in einem Interessenkonflikt zu befinden, weil er noch andere Beschuldigte im Verfahren vertritt. Mit dem neuen Verteidiger Erik Bergmüller sind 16 Prozesstage bis Ende Oktober angesetzt.
Der angeklagten und inzwischen suspendierten Polizeihauptmeisterin Anke S. wird von der Generalstaatsanwaltschaft Dresden vorgeworfen, zwischen August 2014 und November 2018 mindestens 265 sichergestellte Fahrräder aus der Asservatenkammer der Leipziger Polizeibehörde an Polizeibeamte und Privatpersonen weitergegeben zu haben.
Pro Fahrrad nahm sie eine Spende zwischen 5 und 50 Euro. Die Spenden erhielt ein Gartenverein bei Leipzig, dessen Vorsitzender: der Vater der Angeklagten. Dabei soll sie Spenendenquittungen anstelle der Spendenden selbst unterschrieben und Unterschriften gefälscht haben, weshalb S. sich auch wegen des Vorwurfs der Urkundenfälschung verantworten muss.
Von den etwa 4.800 Euro, die sie damit einnahm, soll S. 3.000 Euro selbst behalten haben. Zu den insgesamt 189 Abnehmerinnen und Abnehmern gehörten nicht nur Privatpersonen, sondern auch Polizistinnen und Polizisten, gegen alle ermittelte die Generalstaatsanwaltschaft Dresden seit 2019. Die meisten Verfahren wurden gegen Zahlung einer Geldauflage oder aufgrund mangelnder Beweise eingestellt.
Nächste Woche wird sich Anke S. zur Anklage äußern, das stellte ihr neuer Verteidiger am Dienstag in Aussicht. Bisher hatte S. die Vorwürfe von sich gewiesen, erhaltene Spenden habe sie an einen gemeinnützigen Verein weitergegeben. Sollte es zu einer »anständigen Einlassung« kommen, so erklärte es der Richter Harr, könne die Kammer eine Geldstrafe erteilen. Die Generalstaatsanwaltschaft besteht auf einer Freiheitsstrafe.
Bliebe es bei einer Geldstrafe, müsste die zuständige Polizeidirektion in einer internen Verhandlung entscheiden, ob S. nach Beendigung des Gerichtsprozesses wieder als Polizeibeamtin arbeiten kann. Der nächste Verhandlungstag ist auf Dienstag, den 4. Juni angesetzt. FRAUKE OTT