Leipziger Bürgermeisterin blendete zweites Gutachten zum Mietspiegel aus
In Prozessen zu Mieterhöhungen ist die Stadt Leipzig anderer Meinung als das Amtsgericht. Das sorgt für Verwirrung bei Mietern. Obendrein blendet die Stadt ein von ihr beauftragtes Gutachten aus.
Im Streit um den Leipziger Mietspiegel gibt es Neuigkeiten. So hat das Rathaus jetzt interne Gutachten veröffentlicht. Diese behandeln die Frage, ob der aktuelle Mietspiegel noch verbindlich gilt oder nicht. Die Verwaltung erfüllte damit eine Forderung vom Eigentümerverband Haus & Grund nach mehr Transparenz.
Das Ergebnis fällt pikant für Sozialbürgermeisterin Martina Münch (SPD) aus. Sie hatte am 30. April 2024 bei einer Pressekonferenz beteuert, dass der Mietspiegel aus Sicht der Stadt weiterhin als qualifiziert und damit voll gültig eingeschätzt werde. Wörtlich sagte sie: „Es gibt auch ein Gutachten, das uns bescheinigt, dass der Mietspiegel qualifiziert ist.“
Gutachten für 4165 Euro ignoriert
Offenbar war das nur die halbe Wahrheit. Wie sich nun herausstellt, besaß die Stadt zum Zeitpunkt der Pressekonferenz noch ein zweites Gutachten, das genau das Gegenteil besagte. Das Dokument, auf das sich Münch bezog, war eine dreiseitige, kostenfreie Stellungnahme von Professor Steffen Sebastian vom 21. Februar 2024. Darin bekundete der Inhaber des Lehrstuhls für Immobilienfinanzierung der Universität Regensburg seine „persönliche wissenschaftliche Auffassung“. Demnach war und ist Leipzigs Mietspiegel lückenlos juristisch gültig.
Hingegen kostete das andere Gutachten die Stadt 4165 Euro. Es fiel mit 25 Seiten ungleich ausführlicher aus und stammte von Professor Ulf Börstinghaus aus Gelsenkirchen. Er ist einer der bekanntesten Mietspiegel-Juristen in Deutschland und Herausgeber vieler Standardwerke zum Mietrecht. Mit Datum vom 2. April 2024 hatte Börstinghaus unmissverständlich dargelegt, dass der aktuelle Leipziger Mietspiegel aus seiner Sicht nie qualifiziert war. Wegen einer Vorschriftenreform des Bundes existiere in Leipzig seit dem 1. August 2022 kein rechtsverbindlicher Mietspiegel mehr.
Bislang ist kein Urteil bekannt
Wieso die Bürgermeisterin in der Pressekonferenz das Börstinghaus-Gutachten unerwähnt ließ, dazu gab ihr Dezernat keine Auskunft. „Beide Gutachten waren Frau Dr. Münch zum Zeitpunkt der Pressekonferenz am 30. April 2024 bekannt“, räumte ein Referent auf wiederholte Nachfrage der LVZ ein. „Frau Dr. Münch hatte zu keinem Zeitpunkt die Absicht, die Öffentlichkeit zu täuschen.“
An der Stelle muss erklärt werden, was das Wort qualifiziert bei einem Mietspiegel bedeutet. Es darf nur benutzt werden, wenn das Dokument nach wissenschaftlichen Kriterien und juristisch fehlerfrei erstellt wurde. Einen qualifizierten Mietspiegel müssen die Gerichte als alleinigen Maßstab anwenden, um zu entscheiden, ob eine Mieterhöhung für eine Wohnung zulässig ist. Die Stadt bleibe dabei, dass dies auf ihr aktuelles Dokument zutrifft, so der Referent aus dem Sozialdezernat. Es gebe dazu verschiedene Rechtsansichten, aber bisher kein Gerichtsurteil.
89.000 Euro pro Wohnung
Tatsächlich dürfte der Weg zu einem Urteil noch weit sein – obwohl am hiesigen Amtsgericht seit Monaten eine Prozesswelle abgearbeitet wird. Die hatte der Immobilienkonzern Brack Capital Real Estate (BCRE) ausgelöst. Genauer gesagt steckten dahinter neue Eigentümer des Unternehmens, allen voran der Fondsverwalter Tristan Capital Partners aus London.
Der Fonds hatte vor anderthalb Jahren 2700 BCRE-Wohnungen in Leipzig gekauft. Der Preis betrug 240 Millionen Euro, das entsprach pro Wohnung 89.000 Euro. Bald darauf erhielten etliche der Haushalte Mieterhöhungen, die keine Rücksicht auf den Mietspiegel nahmen. BCRE begründete das Ansinnen stattdessen jeweils mit drei Vergleichswohnungen. Das gab es an der Pleiße schon lange nicht mehr, weil es in Städten mit einem qualifizierten Mietspiegel rechtlich nicht zulässig ist. Hunderte Fälle wanderten schließlich vor Gericht.
Keine Klage von BCRE abgewiesen
Zehn Richter verhandeln diese Fälle nun nach und nach – jeden einzeln. Sie haben den Mietspiegel dabei bisher kein einziges Mal zur Klärung genutzt, hingegen die Vergleichswohnungen als Begründungsmittel grundsätzlich akzeptiert, erläuterte Gerichtssprecher Alexander Länge. Auch gebe es noch kein einziges Urteil, in dem eine Klage des Eigentümers abgewiesen worden wäre.
Folglich sehen die Juristen aus der Bernhard-Göring-Straße den Leipziger Mietspiegel als fehlerhaft und nicht qualifiziert an. Sie teilen damit die Einschätzung von Professor Börstinghaus, dessen umfassendes Gutachten die Sozialbürgermeisterin aus unbekannten Gründen ausgeblendet hatte.
Richterin verlässt Arbeitskreis
Der Leipziger Mietspiegel wird alle zwei Jahre erstellt, was ein Arbeitskreis aus Expertinnen unterstützt. In diesem Gremium wirkte lange als einzige Justiz-Vertreterin eine Richterin des Amtsgerichtes mit. Jüngst legte die Richterin diese Tätigkeit nieder, bestätigte Sprecher Länge. Es habe sich um eine „persönliche Entscheidung“ gehandelt, die er nicht kommentieren könne.
In mehreren Streitfällen zwischen BCRE und Mietern hätten Richterinnen oder Richter inzwischen Sachverständigengutachten beauftragt, fuhr der Sprecher fort. „Ergebnisse dazu stehen aber noch aus.“ Ein solches Gutachten kostet mindestens 3000 Euro. Bezahlen muss die Seite, die den Prozess verliert. Eine ganze Reihe von Fällen sei mittlerweile per Vergleich abgeschlossen worden. „Genaue Zahlen liegen uns nicht vor.“ Die Verfahren würden nicht statistisch erfasst. „Die hiesige Antwort beruht daher lediglich auf Erinnerungen der zuständigen Kollegen.“
Rentner hält Druck nicht aus
Gegenüber der LVZ berichteten mehrere Familien, dass sie einen Vergleich akzeptieren mussten. Hauptgrund: die hohen Kosten von mehr als 3000 Euro für das Sachverständigengutachten. Auch Rentner Lothar Uhlmann aus Großzschocher muss künftig mehr Kaltmiete bezahlen, als im Mietspiegel steht. „Ich habe den aufgebauten Druck nicht ausgehalten. Mein Anwalt hat mir vorher keinerlei Hoffnung gemacht“, erzählte er über seinen Verhandlungstermin vor wenigen Tagen.
Die drei von BCRE benannten Vergleichswohnungen würden nur von der Größe her seinem Zuhause ähneln – ihre Ausstattung sei ganz anders, kritisierte Uhlmann. „Bei uns ist das Meiste noch auf DDR-Standard. Ich empfinde es als zutiefst ungerecht, dass wir nun für eine Ausstattung bezahlen müssen, die wir gar nicht haben. Der Leipziger Mietspiegel schützt uns nicht.“
Nächste Befragung im Oktober
Ein allgemein verbindliches Urteil, ob der örtliche Mietspiegel qualifiziert ist oder nicht, könnte übrigens erst in der zweiten Instanz ergehen – also am Landgericht. Bis dahin dürfte es noch viele Monate dauern. Auf jene Streitigkeiten, die gegenwärtig per Vergleich geregelt werden, hätte so ein Urteil keine Auswirkungen mehr.
Die Befragung Tausender Haushalte für ihren nächsten Mietspiegel will die Kommune am 1. Oktober 2024 starten. Er soll dann das neue Bundesrecht von Anfang an beachten, im Juni 2025 rechtskräftig werden und qualifiziert sein, versicherte das Sozialdezernat.