NSU-Terrorist Mundlos soll Doppelleben in der Schweiz geführt haben
Die verurteilte Rechtsterroristin Beate Zschäpe hat nach SPIEGEL-Informationen beim BKA neue Details aus dem Innenleben des NSU preisgegeben. Sie behauptet auch zu wissen, wer die Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter erschoss.
Mehr als zwölf Jahre nach der Enttarnung der rechtsextremen Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) verfolgen Fahnder neue Spuren im In- und Ausland. Nach Informationen des SPIEGEL prüfen die Behörden Hinweise zu mutmaßlichen Terrorhelfern, zur Waffenbeschaffung des NSU und zu einem bislang unbekannten Unterschlupf in der Schweiz.
Auslöser der neuen Ermittlungen sind umfangreiche Aussagen der NSU-Terroristin Beate Zschäpe zum Bundeskriminalamt (BKA). Bei fünf Vernehmungsterminen, die in der Zeit von August bis Oktober vergangenen Jahres stattfanden, hat die zu lebenslanger Haft verurteilte Zschäpe ausführlich über ihre Zeit im Untergrund und über ihre toten Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gesprochen.
Nach SPIEGEL-Informationen berichtete Zschäpe den Ermittlern unter anderem von längeren Abwesenheiten von Mundlos. Einer der Gründe dafür sei dessen jahrelange Beziehung mit einer in der Schweiz lebenden Frau gewesen. An den Nachnamen der Frau könne sie sich nicht mehr genau erinnern, nur ihr Vorname sei ihr im Gedächtnis geblieben, so Zschäpe.
Die Ermittler versuchten, die Identität der angeblichen Mundlos-Freundin zu klären und stellten ein Rechtshilfeersuchen an die Schweiz. Bei der Überprüfung von Frauen, die zu Zschäpes Angaben passen könnten, stießen die Fahnder auf eine Rechtsextremistin, die jahrelang in der Schweizer Neonaziszene aktiv war und enge Kontakte zum rechtsextremen »Blood & Honour«-Netzwerk und zur gewaltbereiten Gruppierung »Combat 18« pflegte.
Durchsuchung im Kanton Zürich
Anfang März durchsuchten Schweizer Ermittler die Wohnung der Frau im Kanton Zürich. In einer Zeugenbefragung im Beisein von BKA-Beamten bestritt die 39-Jährige jedoch, Mundlos gekannt zu haben oder jemals mit ihm liiert gewesen zu sein. Beweise, die dies widerlegen könnten, fanden die Ermittler bislang offenbar nicht.
Zschäpes Schilderungen über Mundlos‘ Doppelleben in der Schweiz – sollten sie zutreffen – könnten zur Klärung von ungelösten Rätseln des NSU beitragen: Bis heute gibt es Lücken in der Rekonstruktion der Biografien der toten Terroristen. So suchen die Ermittler noch immer nach dem Grund für den auffallend geringen Strom- und Wasserverbrauch im letzten Versteck der Terrorzelle, einer konspirativen Wohnung im sächsischen Zwickau.
Bei einer seiner Schweiz-Reisen, so erzählte es Zschäpe den BKA-Beamten, sei Mundlos von dem sächsischen Neonazi Jan W. begleitet worden. Den Grund des mehrtägigen Trips wisse sie nicht. Doch bereits im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht hatte Zschäpe den heute 49-Jährigen W. belastet: So sei der frühere »Blood & Honour«-Aktivist angeblich an der Beschaffung einer Pistole für die Terroristen beteiligt gewesen. W. wies Zschäpes Aussage damals gegenüber dem SPIEGEL als »vollkommen verrückt« zurück. Aktuell war er für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
Dem BKA schilderte Zschäpe zudem andere bislang unbekannte Vorgänge rund um die Waffenbeschaffung und die Rolle mutmaßlicher Helfer. Demnach überließ ein Unterstützer dem NSU eine weitere Schusswaffe – was die Ermittler nun zu klären versuchen. Außerdem, so Zschäpe zum BKA, habe dem NSU eine größere Menge Schwarzpulver zur Verfügung gestanden. Wenn die Terroristen ihr Versteck gewechselt hätten, sei der Explosivstoff jeweils mitgenommen worden. Dabei will Zschäpe aufgefallen sein, dass das Schwarzpulver immer weniger geworden sei – womöglich, weil Böhnhardt und Mundlos Teile davon verbraucht hätten.
Bei zwei Anschlägen, die dem NSU zugerechnet werden, wurde tatsächlich Schwarzpulver verwendet: Einen der Sprengsätze hatten die Terroristen 2001 in einem Lebensmittelladen in Köln deponiert, ein anderer war in einer präparierten Taschenlampe verborgen, die 1999 in einer Nürnberger Gaststätte explodierte.
NSU-Signatur am Tatort
In ihren Vernehmungen machte Zschäpe nach SPIEGEL-Informationen zudem Angaben zu Motiv und Tatablauf des Mordes an der 22-jährigen Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Demnach diente der Anschlag auf Kiesewetter und ihren Kollegen Martin A. allein der Waffenbeschaffung. Die Pistolen, die sich Böhnhardt und Mundlos im Untergrund besorgt hatten, seien ihnen nicht mehr zuverlässig genug gewesen – deshalb hätten sie an Polizeiwaffen kommen wollen.
Zum Tatzeitpunkt im April 2007 saßen die beiden Beamten in ihrem Streifenwagen und machten Pause, als sich von hinten zwei Männer näherten. Zschäpe zufolge schoss Mundlos auf Martin A., während Böhnhardt auf Kiesewetter feuerte. Die junge Polizistin starb, ihr Kollege überlebte mit schwersten Verletzungen. Zschäpe zufolge erzählte Böhnhardt ihr später, dass er am Tatort die Buchstaben »NSU« an einer Wand hinterlassen habe. Tatsächlich fand sich an der Backsteinmauer des Trafohäuschens, neben dem der Streifenwagen parkte, ein solcher Schriftzug – bei den damaligen Ermittlungen erkannte jedoch niemand seine Bedeutung.
Wie glaubhaft Zschäpes Aussagen sind, werden die weiteren Ermittlungen zeigen. In einem Fall lieferte die Terroristin der Bundesanwaltschaft aber bereits wichtige Anhaltspunkte: So beruht die Ende Februar erhobene Anklage gegen die mutmaßliche NSU-Unterstützerin Susann E. zum Teil auf Angaben, die Zschäpe beim BKA machte. Dem Vernehmen nach soll sie angegeben haben, dass sie sich inzwischen von der rechtsextremen Szene distanziere.