Vor Nazis aus Leipzig geflohen: Wie eine Jüdin um Gerechtigkeit kämpfte
Sie erstritt Wiedergutmachung: Mike Joseph erzählt die Geschichte seiner Mutter Lilli Gold aus Leipzig, die vor den Nazis floh. Und wie ein Stück Heimat ihr britisches Wohnzimmer zierte.
Mike Joseph erinnert sich an seinen ersten Besuch in Leipzig. Es war Februar, der Schnee lag aufgehäuft am Straßenrand, braun eingefärbt vom Kohlestaub in der Luft. Das war 1991. Ihn verband bereits beim ersten Besuch eine lange Geschichte mit der Stadt: Sie ist die Heimat seiner Mutter Lilli, die Familie besaß ein Mehrfamilienhaus in Leipzig-Gohlis. „Die Atmosphäre war schmutzig, es war schwer, den Ort aus den Erinnerungen meiner Mutter wiederzuerkennen“, erinnert sich der 78-jährige Waliser. „Dieser Ort war nicht da.“
Lilli Gold wurde 1920 in der Messestadt geboren, hat ihre Kindheit und Jugend in dem Gohliser Haus verbracht, und machte ihr Abitur in Leipzig. Sie wollte in Bologna Medizin studieren. Doch dazu sollte es nicht kommen. 1938 wurde die Familie Gold von den Nationalsozialisten nach Polen vertrieben. 17000 Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft wurden damals ohne Vorwarnung über Nacht deportiert. 1939 durften sie für kurze Zeit zurückkehren, um ihrer Enteignung durch den NS-Staat zuzustimmen und mit einer Unterschrift den Anschein von Rechtmäßigkeit zu wahren.
Lilli Gold und ihrer Schwester Rosa gelang 1939 die Flucht in das Vereinigte Königreich. Der Rest der Familie, die beiden jüngeren Geschwister 16 und zwölf Jahre alt, wurde 1941 in Polen ermordet. 1943 wurde das Haus in Gohlis an einen Leipziger Nazi übergeben. Mit der Befreiung Leipzigs durch die Amerikaner wuchs zunächst die Hoffnung auf Wiedergutmachung, auf Rückgabe des Hauses an die Familie Gold. Doch die DDR erkannte dem Leipziger Nazi 1951 das Haus wieder zu.
Lilli Gold hatte eine Linde als Erinnerung an Leipzig
„Es war bequemer, dass diese Immobilie einem ostdeutschen Nazi gehörte, als einem ausländischen, westlichen bürgerlichen Juden“, resümiert Joseph in seinem Podcast „Keys – A troubled inheritance“. 40 Jahre später, im wiedervereinigten Deutschland, gibt es noch immer kein Bestreben, das Unrecht zu bereinigen. 1991 reist Mike Joseph das erste Mal nach Leipzig und er trifft auf den Nationalsozialisten, der das Haus seiner Familie stahl. Für Lilli Gold wurde dieser Mann die Inkarnation von nationalsozialistischer Verleugnung und Zerstörung, beschreibt ihr Sohn.
„Als ich geboren wurde, musste sie noch verarbeiten, dass sie ihre Familie verloren hatte.“ Sie hatte viel Schmerz und Trauma, aber im Gegensatz zu vielen anderen Überlebenden erzählte sie davon, erinnert er sich. „Sie war beeindruckend“, sagt Mike Joseph über seine Mutter. Er wirkt gelöst, wenn er über sie spricht, lacht, wenn er Geschichten von ihr erzählt. „Trotz all der Verärgerung und Trauer darüber, was Leipzig ihr angetan hat, hing sie wirklich an der Stadt.“ Er erinnert sich an eine Topfpflanze, die seine Mutter in ihrem Wohnzimmer hatte: Es war eine Linde. „Kein Zufall“, sagt er: Linden, wie sie überall in Leipzig stehen, geben der Stadt ihren Namen.
Die Familie hat nun sieben Stolpersteine vor dem Gohliser Haus erhalten. Die Verlegung ist ein Schlussstrich, den Lilli Gold nicht mehr erleben durfte. Sie starb 1999 im Alter von 79 Jahren, nachdem sie jahrzehntelang um Entschädigung gekämpft hat. „In einer Weise war sie die Erste, die unsere Familiengeschichte dokumentierte. Weil sie es für den Prozess musste.“ Sie bekam einige hundert Mark für den Verlust ihres Vaters und ihrer Bildung. Nach Deutschland reiste Lilli Gold nie wieder. Hätte sie nicht die Vorarbeit geleistet, hätte er ihre Arbeit nicht übernehmen können, erklärt Mike Joseph. Sie erstritten letztlich erfolgreich das Haus zurück – entgegen rechtlicher und behördlicher Widerstände. Es ist ihr gemeinsamer Verdienst.
Im Mai 2024 ist Mike Joseph erneut in der Messestadt – vielleicht ist es das zehnte Mal, überlegt er. Er begann in den 70er-Jahren als Journalist zu arbeiten, unter anderem für die BBC. Auch für die Geschichten kam er nach Ostdeutschland. „Nach Leipzig zu kommen, ist jedes Mal anders.“ Doch diesmal war es etwas Besonderes, nicht nur wegen der Verlegung der Stolpersteine. Zum ersten Mal war die ganze Verwandtschaft zusammen, sie kommt aus der Schweiz oder den USA, für viele der anderen Hinterbliebenen war es der erste Besuch in Leipzig.