„Wir sind queer, und wir sind stolz darauf!“: 300 Menschen setzen in Wurzen ein Zeichen für Vielfalt
Was bedeutet der CSD für Menschen, die nicht in der Großstadt leben? Ein Report aus der einstigen rechten Hochburg Wurzen – in der am Mittwoch 300 Menschen für Vielfalt demonstrierten.
Mark Demidov ist queer und „superaufgeregt“, wie er sagt. Er kann seine Freude nicht fassen. Die sonst meist gähnend leere Jacobsgasse ist voller junger bunter Leute. Wurzen feiert seinen ersten Christopher Street Day (CSD). Die Regenbogenfahne weht. Seifenblasen steigen auf. Aus Boxen dröhnt Musik. Mit dabei: die „Küfa“, Küche für alle.
„Emma hat einen Penis – und das ist in Ordnung“, steht auf einem Transparent. Und Mark muss sich kneifen: „Ich glaube es nicht – das soll mein Wurzen sein?“ Als er die Stadt vor Jahren für immer Richtung Leipzig verlassen hatte, fühlte er sich dort oft unwohl. Er trug bunten Nagellack, wurde beleidigt und hatte Angst. „Diese verfluchte Angst nimmt dir alles!“
Am Mittwochabend ist alles anders. Mark, der in Usbekistan geboren wurde und als Kleinkind nach Wurzen kam, scheint der glücklichste Mensch. Endlich sieht er seine Freunde wieder und nimmt allen Mut zusammen. Mit rosa Söckchen entert er die Bühne: „Ich bin der Moderator! Und nun bewegt eure Ärsche! Hoch, hoch! Bei Rap bleibt niemand sitzen!“
Wurzens größte queere Veranstaltung
Rapperin Artemis heizt den etwa 300 Gleichgesinnten gehörig ein: „Ich bin schwul und gleichzeitig lesbisch“, singt sie: „Und ist dein Geschlecht mal weg, hab’ ich’s eingesteckt.“ Es ist Wurzens größte queere Veranstaltung, skandiert Konstanze Morgenroth, die Gleichstellungsbeauftragte im Landkreis Leipzig: „Wir sind hier, wir sind queer, und wir sind stolz darauf!“
Man stehe für alle, die sich noch nicht trauen, die in Angst leben, die sich nach Akzeptanz und Liebe sehnen“, ruft Morgenroth. Olaf Wunderbar, bekleidungstechnisch ein wandelnder Regenbogen und extra aus Wismar angereist, jubelt genauso wie Nico Wagner. Der junge Rand-Torgauer kennt die Sprüche: „Schwuchtel“, „geh’ sterben“, „sei normal“.
Mit Tischen und Stühlen sei er in der Heimat beworfen worden. Umso mehr genießt es Nico, mit seinen Kumpels und Kumpelinen gleich um die Ecke, in Wurzen, feiern zu können: „Ich bin mit meinem Freund hier.“ Wie er ihn kennenlernte? Verschämt hält Nico den Fächer in Regenbogenfarben vors Gesicht: „Soll ich das wirklich verraten?“
Warum nicht, lacht Partner Maik Müller und lüftet das kleine Geheimnis gleich selbst: „Nico hat einen Zwillingsbruder. Der heißt Robin. Eigentlich war ich mit Robin zusammen. Bis ich mich in Nico verguckt hatte.“ 34 Leute zähle ihr CSD-Freundeskreis, berichtet Fabian Misch aus Halle: „Wenn es geht, lassen wir keinen CSD aus.“
Polizei: Weitgehend friedlicher Verlauf
Als die Jungs auf dem Bahnhof ankommen, weichen sie zunächst zurück. Im Park bemerken sie Leute, die ihnen nicht wohlgesonnen scheinen. Also warten sie bis zum nächsten Zug – und auf queere Verstärkung. Immerhin: Beim CSD in vergleichbaren Kleinstädten gab es zuletzt Gegendemos von rechts und sogar Morddrohungen.
All das bleibt in Wurzen, der einstigen rechtsextremen Hochburg, aus. Oberbürgermeister Marcel Buchta (parteilos) hisst vorm Stadthaus die Regenbogenflagge und wünscht den Aktivisten gutes Gelingen. Die Polizei spricht von einem weitgehend friedlichen Verlauf. Sorgen habe lediglich eine Gruppe von etwa einem Dutzend Personen bereitet.
„Sie waren teilweise vermummt und störten die angemeldete Versammlung mehrfach“, sagt Josephin Sader von der Polizei. „Auch im Aufzug selbst wurden immer wieder Vermummungen registriert.“ Es seien mehrere Anzeigen ergangen, in einem Fall auch wegen Nötigung und Körperverletzung, heißt es im Polizeibericht.
Geschädigter sei ein YouTuber, ergänzt Polizeisprecher Chris Graupner. Nach LVZ-Beobachtungen wollte der Blogger, der angab, ihm sei ein Bein gestellt worden, die Teilnehmer des CSD filmen. Weil diese das nicht wünschten, zeigten sie ihm die kalte Schulter und spannten ihre Schirme als Sichtschutz auf. Stundenlang geht das Katz- und Mausspiel so.
Keiner der Teilnehmer will sich auf rechten Portalen wiederfinden. Sicher, der CSD sei zwar eine öffentliche Kundgebung, die sexuelle Vorliebe aber etwas sehr Intimes, sagt Lisa aus Wurzen. Ihren Nachnamen will die 25-Jährige nicht nennen.
Jeder Mensch ist einzigartig
Jeder Mensch sei einzigartig: „Wen er liebt, ist doch egal“, findet Lisa. Begleitet wird sie vom gleichaltrigen Noah aus Jena: Es gehe darum, Vielfalt auch auf dem platten Land sichtbar zu machen, sagt er. Einiges habe man hierzulande schon erreicht, wenn man bedenke, dass queere Menschen in Diktaturen mitunter heute noch verfolgt würden.
Ingo Stange vom Demokratie-Netzwerk verliest eine Rede, die ein junger Mann namens Tom persönlich vortragen wollte. Er ist jedoch kurzfristig verhindert. Tom ist in einem Dorf in der Nähe aufgewachsen: „Die Idylle auf dem Land kann trügerisch sein“, schreibt er: „Die fehlenden Einflüsse von außen führen zu Isolation und Angst vor Veränderung.“ Daher habe es ihn in die Großstadt gezogen.
CSD-Gemeinde ist politisch
Die Stimmung beim CSD ist ausgelassen – ab und zu schaut ein Wurzener aus dem Fenster. Es gibt weder Ablehnung noch Zustimmung. Ausnahmen bestätigen die Regel: Renate Krone, die hochbetagte ehemalige Linken-Stadträtin, wartet geduldig. Sie will die Menschen auf der Demo unbedingt bestärken. Als sie selbst Kleinkind war, wurden Homosexuelle im KZ noch umgebracht.
Die jungen Leute, die zur Abschlussveranstaltung auf dem Marktplatz eintreffen, wissen das. Entsprechend laut ihr Ruf nach Antifaschismus. Non-binär, Trans, Inter – es sind Wörter, die sonst kaum in Wurzen die Runde machen. Steven (23) nennt sich asexuell. Kuscheln ja, Liebesakt nein: „Dabei mag ich es eigentlich überhaupt nicht, Menschen in Schubladen zu schieben.“
Als am späten Abend die auswärtigen Teilnehmer im Zug nach Leipzig sitzen, huscht doch tatsächlich ein „Flitzer“ über den Wurzener Bahnsteig: ein splitterfasernackter, leicht beleibter Mittsechziger auf dem Fahrrad. So plötzlich, wie er gekommen ist, ist er schon wieder verschwunden. Zum CSD zeigt man gewöhnlich viel Haut – aber gleich so viel?