Nach dem Ende der Braunkohle – Vom Geisterort zum Vorzeigedorf? Wie Pödelwitz um seine Zukunft kämpft
Pödelwitz hat 80 Prozent Leerstand und eine ungewisse Zukunft. Doch es gibt neue Versuche, das Dorf bei Groitzsch zu retten. Kann Pödelwitz gelingen, was 30 Jahre zuvor Dreiskau-Muckern geschafft hat?
Zehn Kilometer Luftlinie trennen Pödelwitz und Dreiskau-Muckern. 35 Menschen leben in dem einen Örtchen, ganze 500 mehr in dem anderen. Was sie eint: Beide sächsische Dörfer dürfte es nicht mehr geben.
Sie sollten für die Braunkohle abgebaggert werden, die unter ihnen verborgen liegt. Doch während Dreiskau-Muckern seit 1993 kein Teil mehr der Planung zur Braunkohlegewinnung ist, stand erst mit dem erklärten Verzicht des Kohleunternehmens Mibrag von 2021 fest, dass Pödelwitz bleibt. Gleiches Schicksal, andere Umstände.
Große Visionen für ein kleines Dorf
Pödelwitz, April 2024. Handwerkerin Kea Weber trägt noch ihre dunkle Arbeitslatzhose mit Farbklecksen, darunter einen Kapuzenpulli. Bleistift und Zollstock stecken in der Hosentasche, als sie abends durch das Dorf am Rande des Braunkohle-Tagebaus Vereinigtes Schleenhain, südlich von Leipzig, führt. Saftige Wiesen mit alten Bäumen liegen zwischen den Höfen und Fachwerkhäusern, die tief stehende Sonne blitzt noch durch die Hausdächer hindurch, Vögel zwitschern.
Immer wieder quietscht es aus der Ferne, wenn sich die Schaufelräder der Kohlebagger in der Grube drehen. Ansonsten: Stille. Denn was dem idyllischen Dorf fehlt, sind seine Bewohner. Die meisten haben ihre Häuser vor Jahren an die Mibrag verkauft und sind weggezogen. Nur sechs Familien blieben. Jetzt gehören etwa 80 Prozent der Häuser dem Braunkohleunternehmen – und stehen leer. Trotzdem kommen regelmäßig Besucher in den Ort, es finden Veranstaltungen statt, ein Zentrum für nachhaltige Baukultur wird derzeit konzipiert. Alles organisiert vom ansässigen Verein „Pödelwitz hat Zukunft e. V.“, für den sich auch Weber engagiert.
Der Verein verfolgt eine große Vision: ein gemeinnütziges und nachhaltiges Dorf, das in seiner historischen Struktur mit den Höfen und Wiesen erhalten bleibt. Doch Weber, der Verein und einige Dorfbewohner sorgen sich. Denn je länger die Häuser leer stehen, desto mehr verfallen sie. Helfen will dem Verein das Denkmalnetz Sachsen. „Viele dieser Gebäude sind alte Fachwerkhäuser, die aus Modegründen verputzt wurden“, erklärt Nora Ruland, Beraterin vom Denkmalnetz. Sie schwärmt von dem Dorf und seiner alten Struktur. Doch weil die Häuser nicht bewohnt sind, würden sie modern und verfallen. „Das wollen wir unbedingt verhindern.“
Vom Verein „Pödelwitz hat Zukunft“ gab es kürzlich eine Vermutung, wieso der Leerstand in Kauf genommen wird: Immobilienspekulation. Eine Aussage von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) befeuerte diese Befürchtung. Bei einem Besuch des Tagebaus im April sagte er: „Pödelwitz wird wieder leben und ein wunderschöner Ort am Wasser sein. Aber erst, wenn der Tagebau in den 2030er-Jahren stillgelegt ist.“ Wenn aus dem Tagebau ein See geworden ist, dann soll der Ort entwickelt werden – aber zu welchem Preis?
Dreiskau-Muckern rettete sich selbst und seine Zukunft
Zehn Kilometer nordöstlich. Hier liegt ein schon jetzt wunderschöner Ort: Dreiskau-Muckern. Zwar trennen den Dorfrand und das Ufer vom Störmthaler See einige Hundert Meter, doch sogar direkt am Wasser stehen mittlerweile Häuser. Das Ferienresort mit kleinem Hafen auf der Magdeborner Halbinsel, die in den See ragt und von der Lagovida GmbH betrieben wird.
Im Dorf leben heute über 500 Menschen. Das war nicht immer so: „60 von 650 Menschen waren damals noch übrig.“ Mit damals meint Thomas Graichen die 1990er, als er für zwei Jahre Bürgermeister in dem Ort war. Denn „damals“ machten sich die Abrissbagger an den ersten unbewohnten Häusern in Dreiskau-Muckern zu schaffen, nachdem die Mibrag in den 1980er-Jahren bereits mit der Devastierung der Umgebung für den damaligen Tagebau Espenhain, dem heutigen Störmthaler See, begann. Die allermeisten Häuser und Flächen hatte das Unternehmen aufgekauft. Die letzten Einwohner kämpften um ihr Zuhause. Mit Erfolg: Der Ort wurde zum Flächendenkmal erklärt und der Abriss gestoppt.
1993 wurde der Großtagebau Espenhain stillgelegt. Dreiskau-Muckern war endgültig gerettet. Doch zurück blieben ein desolates Dorf, verfallene Häuser, kaputte Infrastruktur. „Plünderungen waren an der Tagesordnung, Müll wurde illegal entsorgt, wir lebten in einem Geisterdorf“, erzählt der 62-Jährige.
Heute erinnert kaum mehr etwas an diese schwierige Zeit. Kinder vergnügen sich auf dem Spielplatz in der Dorfmitte, der von einem Wäldchen umgeben ist. Fast alle Häuser versprühen einen alten Charme, viele sind mit Fachwerk verziert. Selbst wie Zäune und Dächer auszusehen haben, wird hier von der kommunalen Gestaltungssatzung festgelegt.
Deswegen gibt es in Dreiskau-Muckern auch keine Flachdachneubauten, deswegen sieht hier alles ein wenig romantisch-verschlafen aus. So idyllisch, dass es schon zum schönsten Dorf Sachsens ernannt wurde. Denn auch weil das Dorf so lange auf dem Plan zum Abbaggern stand, wurden wenig Investitionen getätigt, Wiesen im Dorfinnern nicht bebaut – genau wie in Pödelwitz.
Der schwere Kampf für das Zuhause
Einer, der sich wie Ex-Bürgermeister Graichen noch gut an die Zeit erinnert, ist Andreas Möbius. Er steht in blauer Arbeitshose unter einem aufgebockten Auto in seiner Werkstatt im Dreiseithof an der Hauptstraße des Dorfes. „Enteignungen“ nennt Möbius die Vorgänge von damals, die ihn „zehn Jahre Lebenszeit“ gekostet hätten. Der heute 63-Jährige war Vorsitzender der Dorf- und Sanierungsgesellschaft Dreiskau-Muckern mbH. Diese kaufte das Dorf von der Mibrag zurück. „Wir hatten zu der Zeit vier Suizide im Dorf“, erzählt er, die Hände schwarz vom Schmierfett. Ein Paar habe für seinen Hof so wenig Geld bezahlt bekommen, dass es keine andere Bleibe finden konnte. Berichte von damals schreiben von 17 Pfennigen pro Quadratmeter. „Die Verzweiflung war groß.“
Und die Wut ist es noch: Für eine Million D-Mark kaufte die DSG Haus für Haus und später auch die Flächen rund um das Dorf zurück. „Die Verbrecher waren clever und haben sich das ordentlich bezahlen lassen“, sagt Möbius und lacht kurz auf – doch das Lächeln weicht sofort wieder dem ersten Ausdruck in seinem Gesicht. Die Voreigentümer hatten damals das Vorkaufsrecht. Die Verantwortlichen damals wollten junge Familien anziehen. Das klappte auch: 1995 war es das kleinste und jüngste sächsische Dorf. Die hundert Einwohner waren durchschnittlich 29 Jahre alt. Heute, 30 Jahre später, sagt Möbius: „Ich will mich nicht mehr aufregen.“ Ein brauner Hund schlappt in die Werkstatt und legt sich kurz zu seinen Füßen.
„Wir machen das aus Liebe zu Pödelwitz“
Zurück in Pödelwitz. In den unbewohnten Häusern hängen noch Gardinen, Stofftiere sitzen hinter den Fenstern. „Das hat die Mibrag den Leuten aufgetragen, damit die verlassenen Häuser bewohnt aussehen und Vandalismus vorgebeugt wird“, sagt Weber, die gerne in eines der Häuser ziehen würde. Doch es ist eher die Zeit, die die Gebäude langsam, aber stetig zerstört. Durch Fassaden ziehen sich Risse, einige Dächer sind löchrig oder hängen bedenklich durch. Die denkmalgeschützte Scheune sei einsturzgefährdet, erklärt Ruland vom Denkmalnetz Sachsen im Vorbeigehen.
Doch es gibt einen Plan, um die Mibrag zum Erhalt der Häuser zu verpflichten. Stellt die Denkmalschutzbehörde weitere Gebäude unter Schutz, gehe das mit einer Erhaltungspflicht für die Eigentümer einher. Gemeinsam mit der Kommune Groitzsch könnte dann eine Erhaltungssatzung erarbeitet werden, die das Dorf in seinem Zustand erhalten und vor Investoren schützen soll – ähnlich wie in Dreiskau-Muckern. „Die Mibrag besitzt zwar die Häuser, aber was wir hier machen, machen wir aus Liebe zu Pödelwitz“, sagt Weber, die den Großteil ihrer Zeit hier verbringt.
Was plant die Mibrag? Die erklärt auf Anfrage, dass sie bislang keine Verkaufsabsichten für die Grundstücke verfolge. Die Gebäude seien in einem dem Alter und der Bauweise entsprechenden Zustand und würden gesichert.
Und wie finden die Familien, die hiergeblieben sind, den Plan des Vereins für das Dorf? „Wir haben Kontakt zu fast allen Familien hier im Ort. Viele gestalten die Nachbarschaft mit“, sagt Weber. Doch für sie ist auch klar: Für die große Vision muss mit den Bewohnern, aber auch mit der Kommune Groitzsch noch viel kommuniziert werden.
Unter Dorfgemeinschaft versteht jeder etwas anderes
Woanders weiß man schon, wie schwer es ist, eine Dorfgemeinschaft aus dem Boden zu stampfen. „Wir wachsen bis heute zusammen. Langsam wird es besser“, urteilt Graichen. Möbius ist da strenger. „Es kamen damals zu viele Neue und zu wenig Alte blieben. Viele verwechseln das Leben hier im Dorf mit dem Leben im Grünen und bringen sich nicht ein.“
Am Dorfrand steht Patricia Moeller mit ihren beiden Pferden und lässt sie grasen. Seit 2006 wohnt sie hier, weil sie rauswollte aus der Stadt. „Es gibt hier zwei Gruppen von Menschen: die Alten und die Neuen. Und die einen lehnen alles ab, was neu ist.“ Auf Dorffesten sei sie bisher nicht gewesen. „Auf das Geklüngel dort habe ich keine Lust.“
Was könnte Pödelwitz also lernen? Beide Dörfer haben erfolgreich um ihren Erhalt gekämpft. Doch solange die Häuser der Mibrag gehören, ist eine Besiedlung im großen Maße derzeit nicht abzusehen. Und Pödelwitz will nicht werden wie Dreiskau-Muckern, sondern folgt einer anderen Vision. Doch der Weg ist noch weit. Die Fragen, die sich nicht nur in Dreiskau-Muckern und Pödelwitz stellen, sind: Wer darf die Zukunft gestalten? Und wie viel Neues verträgt das Alte?