Ärger um plaudernden Mitarbeiter: Neue Krise für Sachsens Verfassungsschutz

Der Vorgang gilt als einmalig: Per Zeitungsartikel macht ein Mitarbeiter seine Kritik am sächsischen Verfassungsschutz öffentlich. Die Landespolitik ist alarmiert. Der Mann ist schon länger aufgefallen.

Der Fall ist selbst für sächsische Maßstäbe speziell: Die Landespolitik in Dresden hat in den vergangenen Jahren eine Routine entwickelt, Affären und Affärchen um das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) aufzuarbeiten. Der Nachrichtendienst schafft es regelmäßig in die Schlagzeilen. Dass ein aktiver Geheimdienstler aber öffentlich in der Presse Fundamentalkritik übt und von einer „Herrschaft des Schlechtesten“ im Landesamt spricht, ist dann doch neu.

Der Reihe nach: Am 22. Mai ging ein Artikel der „Schwäbischen Zeitung“ online, der sich ausführlich den Umständen beim Verfassungsschutz in Sachsen widmet. Das war zum einen ungewöhnlich, weil die Zeitung aus dem Südwesten bisher nicht mit Analysen des sächsischen Nachrichtendienstes aufgefallen ist. Zum anderen wurde die Schelte, die der Mann mit den anonymisierten Kürzel Gregor S. vornahm, sehr detailliert vorgetragen.

Vorwurf: Im Landesamt herrschen dysfunktionale Zustände

Die schwersten Vorwürfe sind folgende: Im Landesamt werde die Arbeit der Geheimdienstler von dysfunktionalen Zuständen regelrecht erschwert. Beispielsweise habe man keine unregistrierten SIM-Karten zur Verfügung, um unter anderem mit Kontaktpersonen vertraulich in Kontakt zu treten.

Der Dienst kümmere sich nicht um die wirklich gefährlichen Extremisten, sondern um kritische Personen. Anhand der neuen Kategorie „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ würde „legale Kritik“ an den Zuständen kriminalisiert. Den Radikalisierungstendenzen bei Linken, SPD und Grünen würde sich dagegen nicht angenommen. O-Ton Gregor S.: „Da traut sich der Verfassungsschutz schon gar nicht mehr ran.“

Landtag und Geheimdienst reagieren alarmiert

S. selbst will Beschwerden seiner Kollegen über das bestehende System in einem Vermerk gesammelt haben. Er habe eine Art Bilanz erstellt, „konstruktive Vorschläge“ gemacht. In der Folge dann aber habe er eine miserable Beurteilung erhalten. Ihm sei inzwischen die Sicherheitsermächtigung entzogen worden. Er dürfe das Gebäude des Verfassungsschutzes nicht mehr betreten, ein Disziplinarverfahren sei anhängig.

Nicht nur beim LfV ist man nach der Darstellung, die mit vielen Einzelheiten ausgeschmückt ist, alarmiert. Auch die Landtagsabgeordneten, die die Arbeit des Verfassungsschutzes überwachen sollen, haben Fragen. Zumal die Sätze von S. in Richtung von Linken, Grünen und SPD viele kritisch aufhorchen ließen. Beim Geheimdienst kann man sich ebenso wenig erklären, was den Mitarbeiter antreibe. Die geheim tagende Parlamentarische Kontrollkommission hat sich deswegen Anfang der Woche dem Fall gewidmet.

S. ist für seine Chefs leicht zu identifizieren

Wer sich hinter dem Pseudonym Gregor S. verbirgt, ist dem Verfassungsschutz bekannt. Allein die vielen biografischen Anmerkungen, die der Artikel der „Schwäbischen Zeitung“ nennt, machten eine Identifikation leicht.

S. ist demnach 36 Jahre alt, arbeitete zuvor beim hessischen Verfassungsschutz und absolvierte ein Studium beim Bundesamt für Verfassungsschutz. In Sachsen war er als Führer für Vertrauenspersonen zuständig, er sollte also den Kontakt zu ihnen halten und Informationen von ihnen beschaffen. Wie seine Anwältin der LVZ bestätigt, ist S. seit 5. Mai 2023 aber „arbeitsunfähig erkrankt“. Auslöser sei der „fortbestehende Arbeitsplatzkonflikt“.

Innenministerium stellt Anzeige

Der sächsische Verfassungsschutz kommt allerdings zu einer ganz anderen Bewertung als S., wenn es um dessen Arbeit geht. Bei der mutmaßlichen Quelle des Artikels handele es sich um einen „jungen Mitarbeiter, der erst seit einer relativ kurzen Zeit im LfV Sachsen tätig ist und seine Ideen sowie fachlichen Verbesserungsvorschläge eingebracht hat“, teilt eine Sprecherin des Landesamtes mit.

Das allein war anscheinend nicht das Problem: „Mit der eigenmächtigen Umsetzung seiner Ideen überspannte er jedoch eindeutig den Bogen und beging er Dienstrechtsverletzungen“, so die Sprecherin weiter.

Genauer wird das Landesamt nicht: Zu Personalangelegenheiten äußere man sich nicht. Nach LVZ-Informationen soll S. aber eigenmächtig Quellen „abgeschaltet“ haben. Inzwischen hat das sächsische Innenministerium aufgrund des Zeitungsartikels Strafanzeige gestellt. Die Anwältin von S. bleibt gelassen. Sie gehe davon aus, „dass man gegen meinen Mandaten wegen des Artikels … weder ermitteln noch Anklage erheben wird“.

„Ein einmaliger Vorgang“

Die Bewertung zur Affäre um den „plaudernden Schlapphut“ ist jedenfalls eindeutig: Es sei ein „einmaliger Vorgang, dass ein Geheimdienstler dermaßen unverfroren operative Details ausplaudert“, sagt jemand, der mit dem Vorgang vertraut ist. „Offenkundig, um dem Ansehen des Verfassungsschutzes zu schaden und dessen Arbeitsfähigkeit zu beeinträchtigen.“

Eigentlich müsste Gregor S. das Führen der Dienstgeschäfte einstweilig verboten werden, heißt es. Das würde die beamtenrechtliche Suspendierung bedeuten. Ob das sächsische Landesamt zu diesem Mittel greift, lässt eine Sprecherin auf Nachfrage offen.

Zwei Verfahren vor dem Verwaltungsgericht

Gregor S. und der Verfassungsschutz dürften sich demnächst sowieso vor Gericht wiedersehen. Der Mitarbeiter klagt gegen den Entzug seiner Sicherheitsermächtigung. Auch gegen eine Disziplinarbuße in Höhe von 2500 Euro geht er gerichtlich vor.

„Den von der Behörde erhobenen Vorwürfen sind wir umfangreich – allein für die beiden genannten Verfahren auf insgesamt 86 Seiten – entgegengetreten“, teilt seine Anwältin mit. Das Verwaltungsgericht Dresden habe aber über beide Klagen noch keine Entscheidung getroffen: Beide Verfahren „werden wegen der besonderen Bedeutung der Sache medial begleitet werden“.

Für den Geheimdienst ist dies die nächste schlechte Nachricht. Verfassungsschutzchef Dirk-Martin Christian war Juli 2020 mit dem Vorsatz angetreten, seine Behörde seriöser und verlässlicher auftreten zu lassen. Je länger die neue Affäre anhält, umso unangenehmer wird es vermutlich auch für ihn.