«Glaubt nichts davon»
Die AfD ist mittlerweile offen rechtsextrem. Ihre Chancen bei der anstehenden Europawahl schmälert das nicht. Und in Thüringen und Sachsen bereitet sie sich schon auf die Machtübernahme vor.
Tosender Jubel, Klatschen im Gleichtakt: Björn Höcke betritt den Saal der Dorfkneipe von Ichstedt, einem kleinen Ort im Norden von Thüringen. Der Fraktionschef der Alternative für Deutschland (AfD) im Landtag und inzwischen auch die bestimmende Figur der bundesweiten AfD kann laut Gerichtsbeschluss als «Faschist» bezeichnet werden. Seine Thüringer AfD gilt gemäss Verfassungsschutz als «gesichert rechtsextrem» – doch hier im Saal, zweieinhalb Wochen vor der EU-Wahl und kurz vor den Thüringer Kommunalwahlen, ist er ein Star.
In Thüringen und Sachsen könnte die AfD bei der Europawahl mit über dreissig Prozent der Stimmen klar stärkste Partei werden. Doch die EU-Wahl ist vor allem ein Stimmungstest für die Landtagswahlen im Herbst. Landet die AfD dann bei dreissig Prozent, ist eine Regierungsbildung ohne sie nur schwer vorstellbar. Zumindest hätte die Partei bei diesem Ausgang eine Sperrminorität, mit der sie etwa die Wahl ihr nicht genehmer Richter:innen verhindern könnte.
Inszenierung als Opfer
Höcke begrüsst die etwa 150 Anwesenden, die im stickigen Saal dicht an dicht sitzen. Unter Gejohle und Gelächter wendet er sich danach süffisant an «die Presse», die er auffordert, mal «Mut zur Wahrheit» zu haben. Dann zieht er los gegen den Staat, die Justiz und die Medien, die alle miteinander ihn und seine Partei diffamieren würden. Der ausgebildete Geschichtslehrer beherrscht es, Emotionen zu schüren. Immer wieder gibt er sich als braver, unschuldiger Bürger, der doch nur einfach Deutschland so liebe.
Dann behauptet er, «Einwanderer» würden «nicht zu uns passen», und Frauen müssten vor ihnen Angst haben. Oder dass «die Südländer» dem «Schlendrian» frönten, während die Deutschen eben arbeitsam seien – und der Euro deshalb eigentlich längst tot sei, aber «mit deutschem Geld künstlich am Leben erhalten» werde. Höcke will zurück zur Deutschen Mark und die EU in der jetzigen Form abschaffen, sie sei eine «Globalisierungsagentur».
Eine Distanzierung von all den Skandalen der letzten Monate ist von ihm nicht zu hören. Anfang Jahr hatte das Recherchekollektiv «Correctiv» aufgedeckt, dass führende AfD-Leute zusammen mit Neonazis, Unternehmern und Mitgliedern der CDU-nahen Werteunion Pläne zur «Remigration», also der Ausschaffung von Millionen Bewohner:innen Deutschlands, besprochen hatten.
Am 13. Mai wurde Höcke vom Landgericht Halle zu einer Geldstrafe von 13 000 Euro verurteilt, weil er an einer Demo die verbotene Naziparole «Alles für Deutschland» skandiert hatte. Und dann sind noch all die Wirrnisse seines engen Vertrauten Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD bei der Europawahl: Ein Tag vor der Veranstaltung wurde bekannt, dass Krah aus dem Bundesvorstand der AfD ausgetreten ist. Der italienischen «Repubblica» hatte er gesagt, nicht alle SS-Mitglieder seien Verbrecher gewesen. Das führte zum Bruch mit der Rechtsaussenfraktion Identität und Demokratie im EU-Parlament und dem französischen Rassemblement National von Marine Le Pen.
In Ichstedt stellt Höcke alles als Inszenierung «linksextremer Journalisten» dar, um die AfD und ihn zu diffamieren. Die «Altmedien» gäben der AfD keinen Raum, ihre Absichten und Positionen auszubreiten. Er empfiehlt den Zuhörer:innen deshalb, ein Videointerview des «Weltwoche»-Herausgebers Roger Köppel mit ihm im Internet anzusehen.
Höcke bezeichnet sich ironisch als «gefährlichsten Mann Deutschlands». Er suggeriert, die Klagen gegen ihn und die Überwachung der AfD der Verfassungsschutzbehörden richteten sich eigentlich gegen das «Volk», dem nicht mehr erlaubt sei zu sagen, was es denke. Und immer wieder verbreitet er an diesem Abend Verschwörungstheorien:
Bill Gates instrumentalisiere Medien wie den «Spiegel» und habe die «Gesellschaftszersetzung» zum Ziel; Corona sei eine «politisch gewollte Pandemie» gewesen; das «Establishment» versuche, den AfD-Sieg in Sachsen und Thüringen zu verhindern, weil diese «Menschen und Mächte andere Pläne mit Deutschland» hätten. Medien und die Regierung würden deshalb in den nächsten Monaten weitere Skandale gegen die AfD «produzieren». «Glaubt nichts davon», ruft er ins Publikum.
Immer noch Niedriglohngebiet
Besuch bei Kerstin Köditz, Abgeordnete der Partei Die Linke im sächsischen Landtag. Sie lebt in der Kleinstadt Grimma, zwanzig Kilometer von Leipzig entfernt. Vom EU-Wahlkampf ist hier kaum etwas zu spüren. Nur wenige Plakate hängen in der akkurat renovierten Altstadt. Doch an diesem Morgen bewegt sich sowieso kaum ein Mensch durch die Gassen. Wie viele ostdeutsche Kleinstädte wirkt Grimma seltsam leer.
Köditz’ Büro gleicht einer Bibliothek. Sie ist während ihrer über zwanzig Jahre Abgeordnetentätigkeit zur Expertin für Rechtsextremismus geworden und wertet mit ihrem Mitarbeiter auch systematisch die entsprechende Literatur aus.
Die Verschwörungserzählungen von Höcke und seinem Gefolge machen Köditz besonders Sorgen. Mit der Pandemie habe der Glaube daran stark zugenommen. «Über die Hälfte der AfD-Anhänger glauben gemäss Umfragen inzwischen an Verschwörungstheorien», sagt sie. «Wie kann ich die noch mit Argumenten erreichen?» Die AfD habe es in der Pandemie geschafft, an Leute heranzukommen, die zuvor eigentlich unpolitisch gewesen seien, aber vielleicht ihren Job verloren hätten.
Aber wieso ist die AfD im Osten besonders stark? Köditz sagt, das habe mit dem Ende der DDR zu tun. «Nach der Wende ging alles den Bach runter», Hunderttausende hätten ihre Arbeit verloren, ihre Ausbildung sei oft nichts mehr wert gewesen, aber auch das kulturelle Leben, Jugendklubs und Kinos seien verschwunden.
Dazu seien Führungsebenen in Politik und Wirtschaft mit Westdeutschen besetzt worden, «man fühlte sich wie in einer Kolonie und wertlos». Zwar hätten sich etwa Autokonzerne im Osten angesiedelt, deren Stammbelegschaft gut verdiene, doch bei den Temporärbeschäftigten und in den Zulieferbetrieben sehe das Lohnniveau auch heute noch ganz anders aus. Sachsen sei ein «Niedriglohnland» geblieben.
Die extreme Rechte aus Westdeutschland habe den Osten als Chance begriffen. «Schon unmittelbar nach der Grenzöffnung karrten Rechtsradikale lastwagenweise Flugblätter an», erzählt Köditz. Nachdem Ostdeutschland in den neunziger Jahren zum Tummelplatz für rechte Schläger geworden war, gelang 2004 der rechtsextremen NPD mit 9,2 Prozent der Einzug ins Landesparlament von Sachsen.
Die NPD bereitete so der AfD den Weg, die diese 2014 im Parlament ablöste. Die sächsischen AfD-Abgeordneten seien inzwischen auf der Linie von Höcke – und das Parlament zur Kneipe geworden: «Da wird gebrüllt und auf die Tische geschlagen.»
Das Erstarken der AfD gibt rechten Schlägern Auftrieb. So hat in Sachsen die Zahl der gewalttätigen Übergriffe Rechtsradikaler etwa gegen Ausländer:innen um ein Fünftel zugenommen, wie die Opferberatungsstelle der Polizei für das Jahr 2023 ermittelt hat. Auch Feiern zum Christopher Street Day würden häufiger angegriffen, weiss Köditz. Bekannt geworden sind in jüngster Zeit auch Übergriffe gegen Politiker:innen der Grünen und der SPD, die Plakate zur EU-Wahl angebracht hatten.
Anders als in Grimma gibt es in der grössten sächsischen Stadt Leipzig in den Wochen vor der EU-Wahl Veranstaltungen dazu, und in den Strassen hängen die Plakate der Parteien. Die AfD ist hier weniger präsent, dafür sind auch Botschaften der Satirepartei Die Partei zu lesen: «Hier könnte ein Nazi hängen», steht an einem Laternenmast geschrieben.
Charlotte Höcker forscht am Else-Frenkel-Brunswik-Institut in Leipzig zu Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Das Institut verfolgt einen sozialpsychologischen Ansatz, will also verstehen, weshalb das Angebot der Rechten für so viele attraktiv ist. Die jüngsten Erhebungen sind erschreckend. So sei ein «verbreiteter Ethnozentrismus» festzustellen, ausländerfeindliche Aussagen würden nur von einer Minderheit abgelehnt.
Jede:r Zweite wünsche sich eine «starke Partei», die die «Volksgemeinschaft» insgesamt verkörpere. Nicht einmal die Hälfte sei mit der Demokratie zufrieden, zwei Drittel fänden es sinnlos, sich politisch zu engagieren, und kaum jemand glaube, Einfluss auf die Regierungspolitik zu haben. Es gebe «deutliche Anzeichen dafür, dass die seit zwei Dekaden voranschreitende Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft in den nächsten Jahren in eine weitergehende Radikalisierungsspirale mündet», heisst es in einer aktuellen Studie des Instituts.
Eine zentrale Erklärung für diese Einstellungen sieht das Institut in einem verbreiteten «autoritären Begehren». Höcker erklärt: In Deutschland hätten sich die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg der Wirtschaft als Autorität untergeordnet. Die Identifikation mit der wirtschaftlichen Macht diene der Stärkung des Selbstwertgefühls, doch gerade die Menschen im Osten hätten seit Ende der DDR immer wieder wirtschaftliche Unsicherheiten erlebt.
Sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse, die weniger Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg des Landes hätten. Höcker spricht von «narzisstischen Kränkungen». Um ein Gefühl der Stärke zu gewinnen, würde die Schwäche bei anderen gesucht.
Ein Teil dieser so freigesetzten Ressentiments richtet sich gegen Feministinnen. Engagierte Frauen haben mit Ignoranz, Missachtung und Bedrohung zu kämpfen. Höcker macht dafür auch den Staat verantwortlich, der es unterlassen habe, demokratisches Engagement zu fördern. Die AfD schaffe es dagegen, sich als Volkspartei zu inszenieren. Das sei sehr wirksam, auch weil sich etwa die CDU für Themen der AfD geöffnet habe.
Demokratische Bündnisse
Dennoch: In den letzten Monaten ist in ganz Deutschland der Widerstand gegen die AfD gewachsen. Hunderttausende gingen nach der Veröffentlichung der «Correctiv»-Recherche auf die Strasse. Am vergangenen Samstag demonstrierten in der Thüringer Hauptstadt Erfurt erneut 2000 Menschen gegen die AfD. Der Höhenflug der Partei ist damit allerdings nicht gestoppt: So wurde die AfD bei den Kommunalwahlen am Sonntag in mehreren Kreistagsparlamenten zur stärksten Fraktion. Insgesamt liegt sie nur ganz knapp hinter der CDU.
Eine Strategie gegen die AfD ist es, demokratische Bündnisse auf lokaler Ebene zu schliessen. Kerstin Köditz nennt das Beispiel ihrer Heimatstadt Grimma: «Wir haben vor zwei Jahren angefangen, gegen die Coronaproteste der Rechten selber auf die Strasse zu gehen. Das gab Kraft.» Bei den jetzigen Lokalwahlen in Grimma, die in Sachsen zeitgleich mit der Europawahl stattfinden werden, haben sich so Leute aus sehr unterschiedlichen politischen Lagern zum Bündnis «Grimma zeigt Kante» zusammengeschlossen.
Charlotte Höcker warnt allerdings vor dem Glauben an schnelle Erfolge. Der Aufbau eines zivilgesellschaftlichen Engagements benötige Zeit: «Es braucht dazu Räume sowie Gelder für politische Bildungs- und Demokratiearbeit.» Wenn erlebt werde, dass sich zivilgesellschaftliches Engagement lohne, dann könnten Ohnmachtsgefühle und diffuse Ängste weniger relevant werden.
Zwar dürfte die AfD bei der kommenden EU-Wahl nicht ganz so stark werden wie in einigen Umfragen prognostiziert. Doch im Vergleich zur letzten Wahl wird es ein bedeutender Zugewinn sein. Höcke und Co. werden ihn als grossen Sieg zu verkaufen wissen.