Fünf Jahre rechtslastiger Stadtrat in Chemnitz: Von Brandmauern, Provokateuren und „richtigen Stinkstiefeln“

Chemnitz wählt im Juni einen neuen Stadtrat. In keiner anderen vergleichbar großen Stadt Deutschlands sind Parteien am rechten Rand so stark wie hier. Wie hat sich das seit der letzten Wahl 2019 auf Debatten und Entscheidungen ausgewirkt? Eine Analyse in fünf Kapiteln.

So rechts wie nirgendwo anders

Als im Frühjahr vor fünf Jahren die Chemnitzerinnen und Chemnitzer zur Wahlurne gerufen worden, lagen schwierige Monate hinter der Stadt. Nach dem gewaltsamen Tod eines Mannes am Rande des Stadtfestes 2018, für den später ein Syrer verurteilt wurde, hatten über Monate hinweg rechte und rechtsextreme Parteien bzw. Gruppierungen zu Kundgebungen und Demonstrationen aufgerufen. Tausende beteiligten sich, die Stadt kam nicht aus den Schlagzeilen.

Wie stark diese Ereignisse Auswirkungen auf die Stadtratswahl ein Dreivierteljahr später hatten, lässt sich schwer messen. Trotz oder wegen des Herbstes 2018 kippte das 60-köpfige Gremium im Mai 2019 deutlich nach rechts. Vor allem SPD und Linke verloren massiv an Zustimmung (beide minus fünf Sitze), die Rechtsaußenkräfte gewannen deutlich dazu.

Und davon gibt es in Chemnitz gleich zwei: Die lokale extrem rechte Gruppierung Pro Chemnitz um den Szeneanwalt und späteren „Freie Sachsen“-Gründer Martin Kohlmann steigerte die Anzahl ihrer Mandate von drei auf fünf, die AfD – heute vom Verfassungsschutz ebenfalls als gesichert rechtsextrem eingestuft – wurde mit anfänglich elf Sitzen (plus acht) sogar zweitstärkste Kraft. Beide Fraktionen nahmen nun zusammen rund ein Viertel der Sitze im Rat ein. Eine Stärke, die Rechtsaußen-Parteien bis heute in keiner anderen vergleichbar großen deutschen Stadt erreichen.

Hinzu kommt: Seit der Wahl 2019 gibt es keine stabilen Mehrheitsverhältnisse mehr wie zuvor, als Rot-Rot-Grün eigene Vorhaben meist ohne Probleme durchsetzen konnte. Für jeden Beschluss muss eine neue, oft knappe Mehrheit gefunden werden. Dafür braucht es die Stimmen von mindestens drei, oft auch vier Fraktionen. Ohne die CDU, der mit 13 Sitzen größten Fraktion im Rat, geht oft gar nichts.

Austritte und Überläufer

Wie in anderen Gremien und Parlamenten zeigten auch in Chemnitz die Vertreter der AfD recht bald die Neigung, durch innerparteilichen Zank und Streitereien sich selbst zu schwächen. Die Folge: Sie schrumpfte nach Aus- und Übertritten von der zweit- zur nur noch viertgrößten Fraktion.

Im Frühjahr 2020 verließ mit Paul Günter Steuer zunächst der an Jahren älteste AfD-Stadtrat Partei und Fraktion. „Mit einer Alternative hat das nicht mehr viel zu tun“, äußerte er damals enttäuscht. Steuer gehörte dem Stadtrat noch eine Weile als fraktionsloser Mandatsträger an, zog sich schließlich aber ganz zurück.

Die AfD konnte davon allerdings nicht profitieren. Denn der für Steuer nachrückende AfD-Vertreter Tomy Bader schloss sich ihrer Fraktion nicht an. Er ist bis heute fraktionsloses Ratsmitglied, ebenso wie sein Bruder Sven Bader. Der einstige Vertraute von Ex-AfD-Chefin Frauke Petry verließ im Frühjahr 2021 die AfD und deren Fraktion.

Die dritte Abtrünnige schließlich, Diana Rabe aus Grüna, wechselte Anfang 2021 von der AfD zu Pro Chemnitz. Nennenswert in Erscheinung trat sie kaum. Den Sitzungen wohnte sie zuletzt offen desinteressiert bei. Mittlerweile gehört auch Rabe dem Stadtrat nicht mehr an, sie ist aus Chemnitz weggezogen.

Die Provokateure

Während die AfD im Stadtrat immerhin noch versucht, eigene Anliegen einzubringen und sich fachpolitisch zu profilieren, bleibt das Wirken der Vertreter von Pro Chemnitz in erster Linie darauf ausgerichtet, zu provozieren und den demokratischen Betrieb zu lähmen. An inhaltlicher Arbeit für die Stadt und ihre Einwohner besteht augenscheinlich kein wirkliches Interesse.

Ein Teil der sechs Pro-Chemnitz-Stadträte meldet sich in den Sitzungen kaum je zu Wort, andere sind dafür umso lauter unterwegs. Fraktionschef Martin Kohlmann nutzt seine Auftritte im Rat immer wieder zum Verbreiten seiner Weltsicht. Viele Politiker seien nichts weiter als „Lumpen und Gesindel“, äußerte er erst vergangene Woche am Rednerpult.

Robert Andres, sein engster Mitstreiter, fällt ebenfalls vor allem durch respektloses Verhalten auf. Als er sich in der Hochphase der Corona-Pandemie weigerte, seine Maske korrekt zu tragen, ließ er sich demonstrativ von Ordnungskräften aus dem Saal bringen. Ein Jahr später drohte er, das Kulturhauptstadtjahr in Chemnitz zu einem zweiten 2018 zu machen. „Auf jeden Fall wird es Chemnitz wieder europaweit in die Schlagzeilen schaffen“, kündigte er an.

Auch jüngst beschäftigte die Fraktion mit einem für sie typischen Antrag den Stadtrat mehr als eine Stunde lang. Die Forderung: Ausstieg der Stadt Chemnitz aus der Kulturhauptstadt 2025. Eine wichtige Debatte – oder ein viel zu großes Podium für einen chancenlosen Antrag, der letztlich erwartungsgemäß mit großer Mehrheit abgelehnt wurde? Die Meinungen in den demokratischen Fraktionen gehen auseinander. Man könne eben nicht immer alles so stehen lassen, was die Rechtsextremen sagen, meint Manuela Tschök-Engelhardt von den Grünen. „Vielleicht sind wir zu oft auf den rechten Mob eingegangen. Man muss ihnen diese Bühne nicht bieten“, entgegnet Jens Kieselstein von der FDP.

Hinter den Kulissen arbeitet Pro Chemnitz daran, Vertreter der hiesigen und nationalen rechtsextremen Szene mit Posten zu versorgen. Michael Brück, langjähriger Neonazi-Kader aus Dortmund, wurde zum offiziellen Mitarbeiter der Fraktion gemacht. Die ihm damit zustehenden Möglichkeiten des Zugriffs auf interne Daten der Stadtverwaltung löste bei Ratskollegen Besorgnis aus. Einen Chemnitzer Aktivisten der Identitären Bewegung hat Pro Chemnitz in den Aufsichtsrat der städtischen Tochtergesellschaft C3 entsandt, die neben Stadthalle und Wasserschloss unter anderem das Stadion des Chemnitzer FC bewirtschaftet.

Mehrere Vertreter der Gruppierung standen in den vergangenen Jahren vor Gericht, auch Stadträte. Das Spektrum der Vorwürfe reicht von Holocaustleugnung über Subventionsbetrug bis zu Verstößen gegen Corona-Auflagen. Nicht in allen Fällen wurden die Verurteilungen rechtskräftig, mehrere von höheren Gerichten wieder aufgehoben oder abgemildert, andere laufen noch.

Inhaltlich erweisen sich sowohl Pro Chemnitz als auch die AfD als durchaus anpassungsfähig an die jeweilige Stimmungslage. Bei Ausbruch der Corona-Pandemie etwa waren es bemerkenswerterweise die Stadträte von Pro Chemnitz, die – wohl in der Hoffnung auf eine Art Ausnahmezustand – sich als erste dafür starkmachten, Schulgebäude in „Quarantäneeinrichtungen“ umzuwandeln (Antrag BA-032/2020). Nur Wochen später die 180-Grad-Wende: Die Gruppierung stellte sich an die Spitze der hiesigen Proteste gegen alle Corona-Auflagen, rief trotz Ausgangsbeschränkungen immer wieder zu Kundgebungen auf. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei, mehrere ihrer Anhänger fanden sich später vor Gericht wieder oder erhielten Bußgeldbescheide.

Die Chemnitzer AfD zeigte sich während der Pandemie zurückhaltender als ihre Parteifreunde andernorts. Das mag nicht zuletzt damit zu tun haben, dass einer ihrer Stadträte zu den ersten gehörte, die im März 2020 das Coronavirus vom Urlaub in Österreich mit in die Stadt brachten. Er hatte nach eigenem Bekunden noch für längere Zeit mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Die Fraktionsräume der AfD, so heißt es, hätten zu den ersten gehört, die im Rathaus mit Luftfiltern ausgestattet waren.

Ähnlich pragmatisch der Umgang mit dem Reizthema Elektromobilität. „Eins wird immer deutlicher: Die Bevölkerung zeigt dem diktierten Elektro-Wahnsinn die kalte Schulter“, konstatierte etwa AfD-Stadtrat Steffen Wegert 2020. In den eigenen Reihen sahen da nicht alles so. Einer seiner Fraktionskollegen war bald darauf mit einem neuen SUV unterwegs – mit E-Kennzeichen.

Hält die Brandmauer?

Keine der demokratischen Parteien im Stadtrat arbeitet bis heute offiziell mit Pro Chemnitz oder der AfD zusammen. Von den 55 Beschlussanträgen, die die AfD zur Abstimmung eingereicht hat, fand kein einziger eine Mehrheit. Ab und an habe man von anderen Fraktionen hinterher zu hören bekommen, dass die AfD-Vorschläge ja ganz gut seien, aber eben von der „falschen Partei“ kämen, behauptet AfD-Stadtrat Steffen Wegert. „Manchmal schmerzt das schon. Wir haben Lehrgeld gezahlt.“

Grünen-Fraktionschefin Tschök-Engelhardt bestätigt, dass ihre Fraktion auch bei an sich sinnvollen Vorschlägen der AfD grundsätzlich nicht zustimmt. Denn die AfD sei eben keine normale Partei. Deren Einstufung als rechtsextrem sehen mittlerweile auch viele andere Stadträte als Bestätigung für ihre ablehnende Haltung, auch in der CDU. „Es gibt keine Öffnung nach rechts, keine Absprachen mit der AfD und keine gemeinsamen Abstimmungen“, betont Solveig Kempe.

Doch die Brandmauer bekam frühzeitig Risse. Nicht nur einmal brachte die CDU ihre Anliegen nur deswegen durch, weil sie sich der Unterstützung durch AfD und Pro Chemnitz recht sicher sein konnte. Hinterher wurde stets betont, dass es keine formellen Absprachen gegeben habe.

Gleich in der ersten Sitzung des neugewählten Stadtrats kam es zum Eklat: Mithilfe der neuen rechten Mehrheit wurde der bis dahin recht ausgewogen besetzte Jugendhilfeausschuss neu zusammengesetzt. Vertreter der mitunter unbequemen Jugend- und Kulturvereine und ihres Dachverbandes blieben komplett außen vor, ein als CDU-nah geltender Betreiber von Jugendeinrichtungen war dafür nun gleich mehrfach vertreten. Der Vorgang beschäftigte später sogar Gerichte; der zuständige Bürgermeister – ein CDU-Mann – ließ die Regeln für die Zusammensetzung des Ausschusses so ändern, dass sich ein Ausschluss des Dachverbands der Jugendvereine nicht wiederholen kann.

Auch bei anderen wichtigen Grundsatzentscheidungen zeigten sich ähnliche Konstellationen. So wurde dem über Jahre hinweg ausgearbeiteten Mobilitätsplan für Chemnitz, ein grundlegendes Fachkonzept für den Verkehr in der Stadt, mit den Stimmen der Mitte-Rechts-Fraktionen nach jahrelanger Vorberatung letztlich die Zustimmung versagt und ein hierzulande völlig unbekannter Bewerber von zweifelhafter Qualifikation sogar beinahe zum Bürgermeister gemacht. Nur, damit der Posten nicht an eine Politikerin der Linken geht.

„Für mich stand fest, dass ich keine Linken als Bürgermeister möchte“, erinnert sich Solveig Kempe an die denkwürdige Wahl. Und beim Mobilitätsplan habe es viele inhaltliche Vorbehalte in ihrer Partei gegeben, so die langjährige Stadträtin. „Wir können nicht beeinflussen, wie andere abstimmen“, fügt sie hinzu und verweist darauf, dass auch andere Parteien zuweilen ebenso votieren wie die AfD. „Dass das in der Berichterstattung über uns immer wieder herausgehoben wird, ärgert mich sehr“, sagt CDU-Chefin Ines Saborowski.

Aus Sicht von Jürgen Renz (SPD) fährt die CDU einen „Schlingerkurs“. „Sie versucht sich von der AfD abzugrenzen, springt aber auf manches Thema auf, das die AfD anbietet“, sagt er und nennt die Ablehnung von Tempo-30-Zonen als Beispiel. Er sei aber froh, dass es bei wenigen Ausnahmen geblieben ist, in denen beide Fraktionen gleich abstimmten. „Ich sehe auch kein Anbiedern oder Liebäugeln der CDU mit der AfD“, so Renz.

„Die Debattenkultur hat gelitten“

Trotz der komplizierten Mehrheitsverhältnisse: Von der CDU bis zur Linken hört man über Parteigrenzen hinweg durchaus Zufriedenheit mit der Ratsarbeit in den vergangenen fünf Jahren. „Wir mussten aus der Mitte heraus Anträge auf den Weg bringen“, sagt CDU-Frau Kempe und bilanziert vor allem „sehr gute Haushaltsverhandlungen“. Die demokratischen Fraktionen seien „enger zusammengerückt“, ergänzt Sabine Brünler von den Linken.

Anders fällt die Bilanz aus, wenn man die Stadträte auf das Zwischenmenschliche anspricht. Von „rauerem Ton“ (Kempe) ist da die Rede, „von Pöbeleien und Beschimpfungen, die mich entsetzt haben“ (Tschök-Engelhardt). Sabine Brünler meint, die Debattenkultur bei Rats- oder Ausschusssitzungen habe gelitten. „Die Debatten sind zwar länger, haben aber oft nichts mehr mit respektvollem Umgang zu tun. Das muss man AfD und Pro Chemnitz anlasten.“

Auf den Fluren des Rathauses, wo die Fraktionen der Parteien ihre Büros haben, laufen sich die Ratsmitglieder regelmäßig über den Weg. Einen Guten-Tag-Gruß über die Brandmauer hinweg bringen zwar nahezu alle Stadträtinnen und Stadträte über die Lippen, mehr aber zumeist nicht. Jürgen Renz geht Gesprächen mit AfD- oder Pro-Chemnitz-Mitgliedern grundsätzlich aus dem Weg. „Sie sind so meckerig, so provokativ, richtige Stinkstiefel“, sagt er. Umgekehrt beklagt AfD-Stadtrat Steffen Wegert eine Ausgrenzung seiner Partei. „Bei den Grünen darf man ja nicht mal durch die Tür treten“, erzählt er. Nach einem ungebetenen Besuch aus den Reihen von Pro Chemnitz hatten die Grünen ihre Fraktionsräume im Rathaus mit einem Hinweis versehen, dass Personen rechter oder rechtsextremer Parteien oder Organisationen der Zutritt verwehrt wird. „Um eine vertrauensvolle Atmosphäre zu erhalten“, so die Begründung.