Schwieriger Umgang mit der AfD: Wie neutral Sachsens Lehrer im Unterricht sein müssen
Die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und die Einstufung der sächsischen AfD als rechtsextremistisch werfen die Frage auf: Wie weit geht das parteipolitische Neutralitätsgebot an Schulen?
Susann Peschel war am 21. Januar auf der Demonstration mit dem Motto „Zusammen gegen rechts – AfD Verbot jetzt“ in Chemnitz. Neben ihr, so erzählt die Regionalkoordinatorin des Netzwerks für Demokratie und Courage, habe eine Lehrerin gestanden. Die Frau sei hin- und hergerissen gewesen, sie habe sich gefragt, ob das richtig sei, dass sie hier stehe, ob sie mit der Teilnahme an der Demo gegen ihre „Neutralitätspflicht“ verstoße. „Mittlerweile sitzt diese Verunsicherung ganz tief“, sagt Peschel. Dabei gebe es genügend Veröffentlichungen zu diesem Thema, die deutlich machen: Lehrkräfte dürfen in ihrer Freizeit an Demonstrationen teilnehmen.
In Sachsen ist 2024 Wahljahr. Lehrkräfte kommen kaum umhin, im Unterricht über Demokratie, Parteien und Politik zu sprechen. Doch in den Umfragen führt die AfD, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft wurde. Zugleich finden seit Bekanntwerden eines Treffens bei Potsdam, auf dem über die massenhafte Ausweisung von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen wurde, regelmäßig Kundgebungen gegen Rechtsextremismus statt. In Nordrhein-Westfalen ermunterte Schulministerin Dorothee Feller (CDU) jetzt Lehrkräfte sogar dazu, selbst an diesen Demonstrationen teilzunehmen. „Gern auch mit ihren Schülern“, sagte sie der Zeitung „Neue Westfälische“.
In Thüringen reagierte der AfD-Landeschef und Rechtsextremist Björn Höcke umgehend. Die Regierung, schrieb er bei X (früher Twitter), rufe Lehrer und Schüler zu Kundgebungen gegen die Opposition auf und verletze damit die Neutralitätspflicht, die sich aus dem Beutelsbacher Konsens ergebe. Doch stimmt das? Mittelsachsens Landrat Dirk Neubauer reagierte auf X mit den Worten: „Eine Regierung hat den Auftrag, die Verfassung zu schützen. Das tut sie. Ende der Erklärung.“
Drei Grundregeln für Lehrer
Der Beutelsbacher Konsens entstand im Jahr 1976 als Ergebnis einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung in Beutelsbach, einem Stadtteil von Weinstadt in Baden-Württemberg. Er gilt als „Berufsethos für politische Bildung“. So beschreibt es Anja Besand, Professorin für Didaktik der politischen Bildung an der TU Dresden. Demnach gelten für Lehrer drei Prinzipien: Überwältigungsverbot, Kontroversität und Schülerorientierung.
Das Überwältigungsverbot verbietet laut der Dresdner Professorin Indoktrination und die Überrumpelung von Schülern mit der Meinung des Lehrers. Stattdessen soll die eigenständige Meinungsbildung gefördert werden. Schülerorientierung heißt, dass Lehrer die Schüler dazu befähigen sollen, politische Situationen zu analysieren und mit den eigenen Interessen zu vergleichen. Das Gebot der Kontroversität schließlich besagt: Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Damit wird die politische Einstellung der Lehrkraft irrelevant, denn alle existierenden demokratischen Positionen sollen dargestellt werden.
„Der Beutelsbacher Konsens steht auf dem Boden des Grundgesetzes“, erklärt Anja Besand. „Es geht darum, Pluralismus zu ermöglichen. Alles, was kontrovers ist, muss auch kontrovers erscheinen.“ Artikel 1 des Grundgesetzes allerdings, die Würde des Menschen und die Menschenrechte, seien nicht kontrovers. Deshalb müssten Lehrkräfte hier nicht neutral bleiben, sondern sollten klar Stellung beziehen. Besand sagt: „Wo das Grundgesetz angegriffen wird, ist Schluss mit Neutralität.“ Das Wort „neutral“ komme im Beutelsbacher Konsens nicht vor.
Keine Werbung für politische Parteien
Allerdings existiert für Lehrer ein parteipolitisches Neutralitätsgebot. Sie dürfen im Dienst nicht für eine bestimmte politische Meinung oder Partei werben. Gegenüber menschenfeindlichen Aussagen sollen sie aber zugleich nicht gleichgültig bleiben.
„Schule kann nicht neutral sein“, sagt Frank Wehrmeister, Leiter des Beruflichen Schulzentrums „Julius Weisbach“ in Freiberg. Vor einigen Jahren sorgte seine Schule für Schlagzeilen, als der damalige AfD-Bundestagsabgeordnete Heiko Heßenkemper eine Gruppe Schüler aus seinem mittelsächsischen Wahlkreis in den Bundestag einlud. Heßenkemper hatte in Reden von „Umvolkung“ gesprochen, seine Einladung war deshalb umstritten. Eine Lehrerin sprach sich gegen die Fahrt aus. Noch bevor eine Entscheidung getroffen war, drang das zur AfD durch, die das als Absage auffasste. Heßenkemper reichte eine Dienstaufsichtsbeschwerde bei der Schulbehörde ein. Diese wurde abgewiesen, da kein Fehlverhalten bei Lehrerin und Schulleitung festgestellt wurde.
Schulleiter Frank Wehrmeister sagt heute: „Schule hat einen klaren Bildungs- und Erziehungsauftrag. Neutralität ist dabei nicht gegeben. Jeder darf seine Meinung sagen, aber wenn diese Meinung den Wertekanon unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft verletzt, dann muss der Lehrer das so benennen.“
Netzwerk Courage: Neutralitätsgebot ist Kampfbegriff
Rechtsextreme Parteien üben derweil Druck aus auf die Lehrerschaft. Die „Freien Sachsen“ etwa rufen in Telegram-Gruppen Eltern dazu auf, Lehrkräfte oder Erzieher zu melden, die die Kinder „beeinflussen“. Anja Besand berichtet auch von Aufrufen in Eltern-Chats, Lehrkräfte zu melden, wenn sie sich gegenüber der AfD kritisch äußern. Das baue Druck auf und könne beeinflussen, was und wie Lehrer im Unterricht über politische Themen sprechen.
Susann Peschel vom Netzwerk Demokratie und Courage sagt: „Der Begriff des ‚Neutralitätsgebots‘ ist im schulischen Kontext ein politischer Kampfbegriff, mit dem versucht wird, den Raum des Sagbaren auszuweiten. Er verunsichert und nutzt denjenigen, die ihre menschenfeindlichen Äußerungen gern unwidersprochen als Meinung kundtun möchten.“
Digitaler Lehrer-Pranger der AfD war wieder aktiv
Noch vor einigen Tagen war eine Internetseite der sächsischen AfD-Fraktion wieder online, die schon im Herbst 2018 als eine Art digitaler Lehrer-Pranger für Empörung gesorgt hatte. Über den sogenannten „Lehrer-SOS“ sollten Lehrkräfte gemeldet werden, die sich kritisch über die AfD äußerten. Kultusminister Christian Piwarz (CDU) sprach damals von „Gesinnungsschnüffelei, wie man sie noch aus Zeiten der Nazi-Diktatur oder von der Stasi kennt.“
Der Landesrechnungshof prüfte, ob die AfD für die Seite Fraktionsmittel verwenden durfte, und sah einen unerlaubten Eingriff in Aufgaben der Schulaufsicht. 2021 nahm die AfD die umstrittene Seite selbst von Netz. Doch im Februar war sie jetzt plötzlich wieder über mehrere Wochen online, im Impressum stand die AfD-Landtagsfraktion. Als die „Freie Presse“ bei der AfD nachfragte, ging die Seite wieder offline. Ein Fraktionssprecher erklärte: „Es lag eine technische Störung vor, weshalb sie kurzzeitig online war. Diese Störung wurde inzwischen behoben.“
Claudia Maaß, stellvertretende Vorsitzende der GEW Sachsen, sieht in der Aktion der AfD einen wiederholten Einschüchterungsversuch ohne rechtliche Grundlage. Lehrkräfte wüssten sehr genau, dass die Neutralitätspflicht im Unterricht keine Wertneutralität bedeute. „Wir ermutigen weiterhin alle Lehrkräfte, sich nicht einschüchtern zu lassen, Zivilcourage in und außerhalb der Schule zu zeigen und sich klar gegen Ausgrenzung und für Vielfalt einzusetzen.“ Sollten Lehrkräfte an den Pranger gestellt oder beleidigt werden, könnten sie dagegen zivilrechtlich vorgehen.