Sieben unbequeme Erkenntnisse zu Israel und der Hamas

Wer den Krieg im Nahen Osten verstehen will, muss sich der Realität in der Region stellen. Warum das Krisenpotenzial hoch bleibt und was für einen Frieden notwendig ist.

Der Krieg gegen die Hamas polarisiert, nicht nur im Nahen Osten. Doch Gut und Böse, Schwarz und Weiß sind keine Kategorien, mit denen sich die komplexen Zusammenhänge am Ort des Geschehens wirklich erklären lassen. Grundlegend für jegliche Bemühungen um Deeskalation und für die Suche nach Lösungen ist es daher, sieben unbequeme Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen:

Ohne einen Waffenstillstand in Gaza keine Entspannung in der Region

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas betrifft sämtliche Staaten, ihre politischen Führungen und 400 Millionen Menschen im Nahen Osten direkt oder indirekt. Der militärische Schlagabtausch an der israelisch-libanesischen Grenze, der Beschuss von Handelsschiffen im Roten Meer, die Anschläge auf US-Truppen im Irak, in Syrien und Jordanien sowie darauffolgende US-amerikanische Vergeltungsaktionen, Israels Raketenangriffe in Syrien und gezielte Tötungen hochrangiger Milizenführer – all das sind Nebenschauplätze, die weite Teile der Region destabilisieren. Der historische Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern um Land ist und bleibt die Wurzel fast aller Krisen in der arabischen Welt. Er lässt sich weder mit Sicherheitsmaßnahmen managen noch militärisch lösen.

Die „Achse des Widerstands“ kann mehr als Terror

Ihre Mitglieder – die Hisbollah im Libanon, die Hamas in den palästinensischen Gebieten, die Huthis im Jemen, der Islamische Widerstand im Irak und vom Iran gesteuerte Milizen in Syrien – teilen mit ihrem Sponsor Iran eine Ideologie: die Feindschaft zu Israel und den USA. Damit rechtfertigen sie jedoch nicht nur den bewaffneten Kampf, sondern gewinnen in den jeweiligen Ländern auch an politischer Macht und gesellschaftlichem Einfluss. Sie sind an Regierungen beteiligt, kontrollieren Gebiete und profitieren von Ungerechtigkeit, Staatsversagen und lokalen Konflikten. Der Krieg in Gaza steigert ihre Popularität – im Inneren und in der Region.

Dabei sind die Hisbollah, die Hamas oder die Huthis keine Befehlsempfänger des Iran, sondern hybride Akteure mit eigenen Interessen. Sie als irrationale Terrorbanden im Dienste des Iran zu betrachten, greift zu kurz. Zwar wären sie ohne die finanzielle und militärische Unterstützung der Islamischen Republik kaum handlungsfähig, aber nicht jede abgefeuerte Rakete, nicht jeder Drohnenangriff ist mit der Führung in Teheran abgesprochen. Auch in die Pläne für den 7. Oktober war sie nicht eingeweiht. Operationelle Eigenständigkeit bei gleichzeitiger strategischer Koordination durch die iranischen Revolutionsgarden – diese Formel ermöglicht es den Iranern, den Druck auf den gemeinsamen Feind Israel und die USA zu erhöhen, ohne dafür Verantwortung zu übernehmen.

Keiner will einen großen Krieg, aber das Eskalationsrisiko ist da

Eine direkte Konfrontation zwischen den USA und Israel auf der einen, und dem Iran und seinen Verbündeten auf der anderen Seite, hätte für alle immense Kosten und ist deshalb in niemandes Interesse. Man poltert und droht, aber die militärischen Angriffe bleiben begrenzt. Sie sollen den Gegner abschrecken und zum Rückzug bewegen, gleichzeitig signalisieren sie der eigenen Klientel Entschlossenheit und Stärke.

Doch Proxykriege bergen das Risiko, ungewollt zu eskalieren, da Befehlsketten unklar sind und die Konfliktparteien nicht direkt kommunizieren. Um das zu verhindern, müssten die Beteiligten weniger schießen und mehr reden.

US-amerikanische und britische Raketenangriffe auf Huthi-Stellungen im Jemen machen nicht die Schifffahrt im Roten Meer sicherer, sondern die Huthis zu Helden im Kampf für die Palästinenser und gegen den westlichen Imperialismus. Ebenso kontraproduktiv sind Israels Versuche, die Hisbollah mit militärischer Gewalt von der Grenze zu vertreiben, damit Zehntausende evakuierte Israelis in ihre Häuser zurückkehren und in Sicherheit leben können. Zwar könnte die Hisbollah von dem Gebiet nördlich des Litani-Flusses, 30 Kilometer von der Grenze entfernt, keine präzisen Lenkwaffen mehr auf die Grenzorte abfeuern, aber mit ihren Raketen könnte sie weiterhin Ziele in Israel erreichen. Außerdem verstärken israelische Drohungen den Rückhalt der Hisbollah in der Bevölkerung.

Auch im Libanon sind Zehntausende aus dem Süden geflohen, Israel gilt als Aggressor. Angesichts einer bevorstehenden israelischen Offensive betrachten viele die Hisbollah als notwendigen Widerstand, selbst diejenigen, die mit der schiitischen Partei Gottes nichts gemein haben und in ruhigeren Zeiten ihre Entwaffnung fordern. Erfolgversprechender sind die aktuellen diplomatischen Bemühungen, diese laufen ohne Fortschritte in Gaza jedoch ins Leere, da die Hisbollah erst bereit ist, über ihren Rückzug zu verhandeln, wenn Israel seine Angriffe auf Gaza einstellt.

Netanjahu braucht den Krisenmodus, um an der Macht zu bleiben

Israels Premierminister war bereit, die Unabhängigkeit der Justiz abzuschaffen, um seine politische Karriere zu retten, und hat sich dafür mit Faschisten eingelassen. Diese haben Teile der israelischen Armee für die Durchsetzung ihre Siedlungs- und Annexionspläne im Westjordanland benutzt, was zum Versagen der Sicherheitskräfte am 7. Oktober beigetragen hat. Sobald der Krieg vorbei ist, wird die Aufarbeitung dieser politischen und militärstrategischen Fehler beginnen, schon jetzt fordert die Mehrheit der Israelis Benjamin Netanjahus Rücktritt. Der Premier hat deshalb kein Interesse an einem baldigen Ende des Kriegs, er braucht einen Dauerzustand der Bedrohung, um sein Image als „Mr. Security“ wiederherzustellen.

Er verspricht, die Sicherheitskontrolle über Gaza nicht aus der Hand zu geben, einen souveränen palästinensischen Staat zu verhindern und den Hisbollah-Beschuss im Norden zu beenden, selbst wenn das eine offene Konfrontation mit dem Libanon zur Folge hätte. Statt mit Zugeständnissen weitere Geiseln freizubekommen, befeuern Netanjahu und seine rechtsextreme Regierung den Konflikt, um eigene Interessen und Machtfantasien durchzusetzen. Sie sind keine Partner, sondern ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden.

Israels radikale Siedler und Nationalisten meinen es ernst

Der Hamas-Angriff hat Israels Rechtsextremisten gestärkt, ihre rassistischen Ansichten finden sich zum Teil in der breiten Öffentlichkeit wieder. Für die Siedlerbewegung ist der Krieg in Gaza die einmalige Gelegenheit, ihre Visionen eines Groß-Israels voranzutreiben: die dauerhafte Besiedlung des Westjordanlands und Gazas, die mit der institutionalisierten Ungleichbehandlung der Palästinenser oder ihrer Vertreibung einhergeht. Diese offen geäußerten Pläne stehen im Widerspruch zum Völkerrecht, zu UN-Resolutionen und zu dem, was der Rest der Welt, einschließlich enger Verbündeter Israels, als Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern betrachtet.

Dennoch regt sich kaum Widerstand. US-Amerikaner und Europäer wiederholen, was in Gaza nicht passieren darf, ohne zu erkennen, dass Israels Kriegsführung genau darauf hinausläuft. Keine territorialen Veränderungen? Die Armee errichtet bereits eine Pufferzone entlang der Grenze, doppelt so groß wie zuvor. Von den dort stehenden 2.850 Gebäuden hat sie laut Israels TV-Sender Channel 12 bereits 1.100 zerstört, auch landwirtschaftliche Nutzflächen sind betroffen. Keine dauerhafte Vertreibung der lokalen Bevölkerung? 1,9 Millionen Menschen sind in Gaza auf der Flucht, die Vernichtung von Wohnraum und Infrastruktur – mehr als die Hälfte der Häuser sind zerstört oder beschädigt – erschwert oder verhindert ihre Rückkehr. Keine israelische Besatzung und Besiedlung von Gaza? Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant sagen, sie wollten Gaza nicht wiederbesetzen, aber die israelische Armee solle dort dauerhaft die Sicherheit kontrollieren, also sämtliche Zugänge zu Land, zu Wasser und aus der Luft. Gleichzeitig sollen die Palästinenser sich selbst verwalten. Diesen Zustand kennen diese schon, er heißt Besatzung.

Die konkretesten Pläne zu Nachkriegs-Gaza stammen von siedlernahen Organisationen und Immobilienfirmen: Villen am Strand und die „Förderung der freiwilligen Auswanderung“, mit dem Ziel, die palästinensische Bevölkerung von Gaza auf der Welt zu verteilen, sie also als Gruppe zu zerstören. Der Internationale Gerichtshof hat die israelische Regierung aufgefordert, Aufrufe zu Hetze, Hass und Vertreibung zu unterbinden. Elf Minister dieser Regierung haben bei der „Konferenz des Sieges“ in Jerusalem die Wiederbesiedlung des Gazastreifens gefeiert. Höchste Zeit, die Unterstützung dieser Regierung an Bedingungen zu knüpfen.

Die Hamas ausschließlich militärisch zu bekämpfen, stärkt sie politisch

Schon jetzt ist die Hamas populärer als vor dem 7. Oktober – nicht unbedingt in Gaza, aber im Westjordanland haben sich ihre Zustimmungswerte verdreifacht. Viele Menschen teilen zwar nicht ihre islamistische Ideologie, respektieren sie aber als „Widerstandsbewegung“. Obwohl die Menschen im Nahen Osten Verbrechen wie die des 7. Oktober – sexuelle Gewalt, das Abschlachten von Zivilisten und das Verschleppen von Frauen und Kindern – ablehnen, feiern sie die Hamas als einzigen Akteur, der etwas für die palästinensische Sache bewirkt hat – und sei es nur internationale Aufmerksamkeit für das Leid des palästinensischen Volks. Die Gräueltaten des 7. Oktober werden dabei kleingeredet oder als Fake-News abgetan.

Die Realitätsverweigerung hat auf beiden Seiten ein erschreckendes Ausmaß angenommen: In der arabischen Welt ignoriert und verleugnet man die Massaker vom 7. Oktober, in Israel will man das Leid der Zivilistinnen und Zivilisten im Gazastreifen nicht sehen. Existenzängste vermischen sich mit dem Wunsch nach Vergeltung, der andere wird entmenschlicht, um ihm maximal schaden zu können. So schafft man jedoch keine Sicherheit, sondern mehr Terror und Gewalt.

Das Ziel, die Hamas als Miliz vollständig zu zerschlagen, erscheint nach drei Monaten Krieg unrealistisch. Selbst wenn in Gaza die meisten Kämpfer tot und alle Tunnel und Raketen zerstört sind, werden verbliebene Anhänger sich neu formieren und Nachwuchs finden. Und sie brauchen nicht viel, um als sogenannter spoiler jedes Bemühen um eine Nachkriegsordnung zu torpedieren. Allein deshalb erscheint es sinnvoll, die für die Geiselverhandlungen bestehenden Kanäle zur Hamas-Führung in Doha zu nutzen und Pragmatiker innerhalb der Hamas indirekt mit einzubinden.

Auch als politische Partei, soziale Bewegung und Ideologie wird die Hamas fortbestehen. Die Welt muss deshalb einen Umgang mit ihr finden wie einst mit der Fatah von Jassir Arafat – diese wurden von Terroristen zu Verhandlungspartnern, als es im Zuge des Oslo-Prozesses Hoffnung auf eine politische Lösung des Konflikts gab.

Dass es innerhalb der Hamas Politiker gibt, die zu einer solchen Entwicklung in der Lage sind, zeigen die Dokumente der jüngeren Zeit. Im Gegensatz zur Gründungscharta von 1988 finden sich im Grundsatzpapier von 2017 keine antijüdischen Bezüge mehr, die Hamas erklärte sich bereit, einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zu akzeptieren. Sie führe keinen Krieg gegen Juden, sondern bekämpfe die Besatzung, heißt es darin.

Im Januar veröffentlichte die Hamas eine 16-seitige Stellungnahme, die auch auf den Terrorangriff vom 7. Oktober eingeht. Das Dokument verdient Beachtung – erst recht, wenn man es als Propaganda liest. Die „Operation“ habe sich gegen israelische Militäreinrichtungen gerichtet und darauf abgezielt, Soldaten für einen Gefangenenaustausch festzunehmen. Eigentlich seien die Kämpfer der Al-Kassam-Brigaden verpflichtet, „Zivilisten, insbesondere Kinder, Frauen und ältere Menschen nicht zu verletzen“, Fälle von zivilen Opfern bezeichnet die Hamas als „Versehen“ und „Fehler“ im Zuge des raschen Zusammenbruchs des israelischen Sicherheitssystems. Was nach einer Verhöhnung der Opfer klingt, entspricht dem Narrativ in Nahost.

In der Stellungnahme geht die Hamas auch auf Ermittlungen und Stellungnahmen des Internationalen Strafgerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs ein, damit spricht sie die Sprache des Westens. An die antikoloniale Linke und den Globalen Süden gerichtet schreibt sie, sie kämpfe nicht gegen Juden, weil sie Juden sind, sondern gegen die Zionisten, die Palästina besetzen. Es seien jedoch „die Zionisten, die das Judentum und die Juden ständig mit ihrem eigenen kolonialen Projekt und illegalen Gebilde identifizieren“.

Das Dokument zeigt, dass Mitglieder der Hamas-Führung strategisch denken. Sie werden versuchen, die derzeitige Popularität in politischen Einfluss umzuwandeln, kein Weg zu einer Lösung der Palästinafrage soll an ihnen vorbeiführen. Verhandlungen zwischen Fatah und Hamas laufen bereits, einer übergangsweisen palästinensischen Technokratenregierung soll die Hamas zwar nicht angehören, ihr aber zustimmen. Gegen sie zu regieren, wird nicht funktionieren, die Hamas auszuschließen und zu dämonisieren, macht sie nur stärker. Diese Erkenntnis ist bitter, aber unausweichlich, auch für US-Amerikaner und Europäer.

Die Zweistaatenlösung ist tot, aber ohne palästinensische Souveränität geht es nicht

Für eine Lösung in Gaza, die den Palästinensern ein Leben in Würde und den Israelis Sicherheit bringt, sind der Abzug der israelischen Armee und ein freier, aber international überwachter Waren- und Personenverkehr grundlegend. Denn unter einer dauerhaften israelischen Militärkontrolle wird sich in Gaza kein arabisches Land engagieren. Die finanzielle, politische, wirtschaftliche und womöglich militärische Unterstützung der Nachbarstaaten ist für eine Wiederauferstehung Gazas jedoch unverzichtbar.

Deshalb reist US-Außenminister Antony Blinken regelmäßig nach Saudi-Arabien, Katar, Jordanien und Ägypten, bevor er Gespräche in Tel Aviv und Ramallah führt. Um der israelischen Regierung ein Bekenntnis zu einem souveränen palästinensischen Staat abzuringen, lockt er mit besseren Beziehungen zur arabischen Nachbarschaft. Blinken weiß: Für eine Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel bestehen Saudi-Arabien und andere – im Gegensatz zu früher – auf eine Selbstbestimmung der Palästinenser.

Da diese nicht absehbar ist, muss sie zumindest von Israel in Aussicht gestellt und von den USA und Europa vorangetrieben werden. Am Ende wird nicht die 1993 in Oslo anvisierte Zweistaatenlösung stehen, da die mittlerweile 700.000 israelischen Siedler im Westjordanland und in Ostjerusalem sich nicht in Luft auflösen und nirgendwo hingehen werden. Realistischer erscheint deshalb eine Konföderation zweier Staaten – ein seit Jahren in Fachkreisen diskutierter Vorschlag, der die beiden größten Probleme lösen könnte: das Fortbestehen Israels als jüdischer Staat und das Rückkehrrecht der Palästinenser. Dabei gäbe es einen israelischen und einen palästinensischen Staat (ungefähr in den Grenzen von 1967), deren Staatsbürger im jeweils anderen Land wohnen können, ohne jedoch die dortige Staatsangehörigkeit zu erwerben. Ein Siedler bleibt israelischer Staatsbürger und wählt in Israel, auch wenn er im Westjordanland lebt und den dortigen Gesetzen untersteht. Ein Palästinenser aus Berlin oder Bethlehem wird palästinensischer Staatsbürger und wählt das Parlament in Ramallah, auch wenn er nach Haifa oder Tel Aviv zieht. Dadurch bliebe Israel jüdisch und Palästina arabisch – und doch könnten Menschen wohnen, wo sie wollen, oder bleiben, wo sie sind.

Schwer vorstellbar in der aktuellen Situation, zu groß sind Misstrauen, Angst und Hass auf beiden Seiten. Aber ohne Vision keine Annäherung. Und ohne Annäherung nur mehr Gewalt und Eskalation – in der gesamten Region.