Alle zusammen – für den Status Quo!
Es gibt noch Menschen in den deutschen Landen, merkt man, wenn sie sich tausenderweise auf öffentlichen Plätzen für die Verteidigung des kapitalistischen Staates mit menschlichem Antlitz versammeln. Gut, dass hier überhaupt wer seinen Arsch bewegt für eine Gesellschaftsform, deren Regierungen auf demokratische Weise das Asylrecht aussetzt, Abschiebungen verschärft, die ökologische Apokalypse vertagt, den Superreichen weiterhin Gelder in die Kassen scheffelt und damit die öffentliche Infrastruktur verfallen lässt. Kaum hüpfe ich wieder in Leipzig angekommen aus dem Zug, latschen da Tausende just in diesem Moment vorbei.
Selbstverständliche gehe ich mit meinem schweren Rucksack mit und sofort zu einer Antifa-Fahne und treffe dort einen Bekannten, der sich entschieden hat, heute gut vermummt und in schwarz zu gehen, um das Farbspektrum zu bereichern. Wir quatschen und jetzt kann ich mich halbwegs sicher fühlen, unter alle den Demokratie-Hools – dass viele von ihnen Kinder mitgebracht haben, entspannte die Angelegenheit mitnichten. Einige schwenken EU-Fahnen, weil ihre Großmachtsvorstellungen keine Ekel-Nazi-Fantasie, sondern tägliche Realität sind. Andere kapern die Demo – wie üblich, in altgewohnter Manier und entgegen der ausdrücklichen Bitte im Vorfeld – mit Palästina-Fahnen, um Palästinenser*innen für ihren Befreiungsfetisch zu instrumentalisieren. Auch viele coole linke Kids mit Adidas-Klamotten und so weiter sind dabei, von denen die meisten wohl noch in die Schule gehen. Leider weiß ich, dass viele von ihnen sich ach so „links“ fühlen – und doch von den offensichtlichsten demokratischen Illusionen verblödet sind. Ich nehme es ihnen nicht übel. Eine von sieben schafft den Absprung vom radikal inszenierten Gutmenschentum zu dem, was eine autonome Bewegung sein könnte, wenn wir sie denn aufbauen würden.
Ich verfalle in eine Trotz-Haltung, die sich mit meiner Veranlagung zum Sponti-tum verknüpft. In die Rufe „Nie, nie, nie wieder Faschismus“, flechte ich frech ein deutlich hörbares „Deutschland“ ein – eben weil ich nie wieder Faschismus möchte. Dann müssen alle ihre Handys zücken und mit ihren Lichtern daran wedeln. Immerhin sind wir im 21. Jahrhundert – und haben den Planeten noch nicht vollends zerstört bekommen. Voll bekloppt, finde ich. Solche billige Vergemeinschaftung ertrage ich nur, wenn ich selbst dazu auffordere. Dann sollen wir bitte noch singen: „Heyho, leistet Widerstand – gegen den Faschismus hier im Land – schließt euch fest zusammen, schließt euch fest zusa-ha-mä-hen“ klingt es. Und statt der zweiten Zeile singe ich lauthals „lasst mich ruhig schlafen, lasst mich ruhig schl-ha-hafen“.
Doch auf der Abschlusskundgebung – auf der ein Großteil der besorgten Bürger*innen wohl schon wieder nach Hause gegangen ist – hören wir glücklicherweise noch zwei richtig gute Redebeiträge. Einer von einer BiPoc-Gruppe, die die Abschaffung des Asylrechts auf EU-Ebene anprangert [ProAsyl (1)], als auch an die rassistischen Morde, Angriffen und Mobilisierungen in den ganzen letzten Jahren erinnert, die selten von den Polizei verfolgt werden. Zugegeben, der Stil des Anprangerns ist leider teilweise kompatibel mit dem chronisch schlechten Gewissen der christlich-bürgerlichen Kultur. Aber hier hat jemand Wahrheit gesprochen und das tut gut. In einer weiteren Rede erinnert ein antifaschistischer Genosse an die Auseinandersetzungen in der sächsischen Provinz, die doch deutlich härter und anders gelagert sind, als in den großstädtischen Umgebungen mit ihren Szene-Blasen. Dabei kann ich vollends akzeptieren, dass Leute in den gebräunten Kleinstädten nicht meinen Radikalinski-Vorstellungen folgen. Denn sie arbeiten an bestimmten Sachen – und darum geht es letztendlich. Mein Herz wird angesprochen, denn ich gehöre zu ihnen und nicht zum linksliberalen Hipster- und Yuppietum.
Doch es ist kalt in Deutschland. Meine Füße frieren und mich beschleicht das Gefühl, dass sich die Anwesenden hier grundlegend etwas vormachen und selbst belügen. Es wird Zeit nach Hause zu gehen. In der Straßenbahn muss ich dann aber noch die Schwanztiraden – äh – Schwatztiraden eines „mittelständischen“ Idioten über mich ergehen lassen, weil ich in diesem Moment nicht die Kraft und keinen Bock habe, mich einzuklinken. Erst labert er zwei Studentinnen voll, die Schilder tragen, was sie denn erreicht hätten mit ihrer Demo, unterstellt, sie hätten ja noch gar nichts für „den Staat“ geschafft, quasselt irgendwas von Leistung, von sozialen Missständen, an denen aber die aktuelle Regierung Schuld wäre und irgendwie immer so weiter. Es scheint, als wolle er sich selbst, mit seinen völlig inkonsistenten, aneinander gereihte Gedankenfetzen, zum Aushängeschild für das deutsche Pseudo-Leistungsträger-Idiotentum machen. Doch darin offenbart sich noch mehr: Sein Deutschland hat inzwischen ein Problem mit ihm, nur, weil er ein privilegiertes, patriarchales Arschloch ist, das es nicht aushält, wenn die eigene Herrschaftsposition – abgeleitet aus fragiler Geschlechtsidentität und weißer Vorherrschaft – angekratzt wird. Jetzt kommen aber eben auch noch wirtschaftliche Unsicherheiten dazu. Verständlich, dass er den Neofaschisten dann was abgewinnen kann, oder?
So kommt mir in den Sinn, was aus dem Wortgeblubber der PR-Strateg*innen der Interventionistischen Linken abgeseiert wird: „Wir – müssen kämpfffen – an allllen Fronten“. – Deutschland, dein chronisch schlechtes Gewissen, deine demokratischen Illusionen und dein Phrasengedresche, lässt dich nur sanfter in die Diktatur abgleiten. Statt den Status Quo zu verteidigen, würde uns eine sozial-revolutionäre Orientierung weiterbringen. Doch mit dieser Haltung bin ich wohl ein einsamer Rufer in der Wüste.
1. https://www.proasyl.de/pressemitteilung/fatale-geas-einigung-rechtsruck-in-europa-manifestiert-sich-im-abbau-der-menschenrechte-beim-fluechtlingsschutz/