Rechte Angriffe in Chemnitz: Einstellungen für alle Angeklagten

Ein kurzes Abklatschen, dann ein erleichtertes Strahlen im Gesicht und eine kurze Umarmung. Sichtlich waren die drei Rechtsextremisten, welche sich wegen gefährlicher Körperverletzung am Landgericht Chemnitz verantworten mussten, mit dem Ergebnis zufrieden. Am achten Verhandlungstag wurde das Verfahren gegen alle drei Angeklagten gegen eine Geldauflage von 1.000 Euro eingestellt.

Angeklagt waren die drei Rechtsextremisten wegen schweren Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Laut Anklage sollen sie am 1. September 2018 Teil einer Gruppierung gewesen sein, die nach einer rechten Demonstration in Chemnitz, einem sogenannten Trauermarsch, organisiert von Landesverbänden der AfD und Pegida, mehr als ein Dutzend Gegendemonstrant*innen angegriffen zu haben.

Bereits am zweiten Verhandlungstag wurde das Verfahren gegen den ersten Angeklagten eingestellt. Rico W. gab zu, dass er nach der Demonstration gemeinsam mit der Gruppe unterwegs war. Er wäre damals vor fünf Jahren aufgebracht gewesen über die Situation und dazu noch unzufrieden mit seinem Job. Er hätte nicht gewusst, dass „solche Leute“ mit ihm mitgelaufen sind und berichtet von mindestens einer Körperverletzung aus der Gruppe. Er benennt Lasse R. und Pierre B. als zwei Personen, die bei der Gruppe dabei waren. Nach kurzer Beratung der Richter*innen wird das Verfahren gegen ihn mit einer Geldauflage von 1.000 Euro eingestellt.

Erinnerungslücken nach über fünf Jahren

Außerdem sagte am dritten Verhandlungstag ein Mann aus, welcher von Personen aus der Gruppe geschlagen wurde. Seine Brille ging kaputt, sodass er mehrere Schnitte im Gesicht hatte, welche genäht werden mussten. Vor Gericht beruft er sich jedoch vor allem auf Erinnerungslücken. Ein politisches Motiv möchte er nicht erkannt haben. Hierbei entstand der Eindruck, dass er versehentlich von den Tätern angegriffen wurde, er scheint als einziger Geschädigter kein Gegendemonstrant gewesen zu sein.

Bis zum Ende des Verfahrens fanden sieben Verhandlungstage statt, an denen fast ausschließlich Betroffene und einige Polizeibeamt*innen aussagten. Die Betroffenen schilderten, wie schwer es für sie sei, nach über fünf Jahren ihre Erinnerungen wiederzugeben. Merklich fiel es mehreren Zeug*innen schwer, die mutmaßlichen Täter auf Fotos wiederzuerkennen. Dennoch wurden diese Aufnahmen fast alles Zeug*innen vorgelegt.

Unklarheit über Bewaffnung

Insgesamt scheint es drei Angriffe auf verschiedene Gruppen von Gegendemonstrant*innen gegeben zu haben. Dabei wird sowohl wiederholt von Schlägen ins Gesicht oder auf den Hinterkopf, Tritten und Bedrohungen gesprochen. Einigen wurden Fahnen, die sie mit sich trugen, entrissen und vor ihren Augen zerbrochen. Die Aussagen der Betroffenen unterscheiden sich dabei mehrfach in der Anzahl der Angreifenden und auch in der Frage, ob die Täter bewaffnet waren. Bei den Tätern konnten später keine Waffen festgestellt werden, dabei sprechen verschiedene Betroffene unabhängig voneinander von Knüppeln, Hölzern oder sogar Teleskopschlagstöcken. Gerade deswegen sprechen einige Zeug*innen von Lebensgefahr, die sie in dem Moment des Angriffes gespürt haben.

Drei Personen wurden in den vergangenen Verhandlungstagen immer wieder erkannt, teilweise an den Lichtbildern, teilweise an der Beschreibung der Kleidung, teilweise namentlich – Lasse R. und Pierre B. aus Braunschweig sowie Grigor K. Mehrere Zeug*innen beschrieben sie als Rädelsführer, als die, die vor den Anderen der Gruppe liefen, Ansagen machten und besonders aggressiv wirkten.

Drohgebärden gegenüber weiblichen Betroffenen

Mehrere betroffene Frauen sagten vor Gericht aus, dass sie von einer Person sexistisch beleidigt und bedroht wurden. Die meisten erkannten später bei der Vorlage von Fotos Lasse R. als die Person wieder, die sie „Fotze“ genannt hatte. Eine Betroffene schilderte am vierten Prozesstag, dass ein Mann ihr sehr nah gekommen sei und ihr mitteilte, dass er „normalerweise keine Frauen schlage, aber bei ihr eine Ausnahme machen könne“.

Die Betroffene beschrieb vor Gericht, wie nah R. Vor ihr stand und lachte, als er diese Aussagen tätigte. Auch andere Frauen berichteten ähnliches Verhalten von R. Drei Zeuginnen berichteten nacheinander, dass er vor ihnen gestanden und gerufen hätte: „Ihr könnt froh sein, dass ihr Fotzen seid, sonst würden wir euch behindert schlagen.“ Eine Zeugin berichtete bildlich, wie er dabei einen Gegenstand in der Hand hielt, sich vor ihnen aufbaute und immer wieder Drohgebärden machte.

Lasse R. und Pierre B. als Rädelsführer genannt

Überraschenderweise brachte die Staatsanwaltschaft nach einer ersten Zeugenvernehmung heute ein Angebot erneut ein: Verfahrenseinstellung gegen Geldauflage, wenn die Angeklagten aussagen würden. Dies wurde damit begründet, dass die drei Angeklagten Timo B., Mark B. und Marcel W. Eher Mitläufer seien. Der Staatsanwalt würde nicht davon ausgehen, dass die Rechten bei ihren Angriffen Waffen getragen hätten und es gäbe eher psychische als schwerwiegende physische Folgen bei den Geschädigten. Andere Angeklagte, auch hier fallen immer wieder die Namen Lasse R., Pierre B. und Grigor K., hätten als Rädelsführer agiert, die derzeitigen Angeklagten wären dabei nur mitgelaufen.

Damit startete eine längere Diskussion zwischen Staatsanwaltschaft und den Verteidiger*innen der Angeklagten, was mögliche Aussagen für Konsequenzen hätten. So bestand der Anwalt von Timo B. darauf, dass sein Mandant nicht durch eine Aussage in diesem Verfahren in den anderen noch ausstehenden Prozessen als Zeuge geladen würde.

Keine Distanzierung von Taten

Nach einer längeren Pause betreten alle Beteiligten wieder den Gerichtssaal und die Verteidiger*innen kündigen Erklärungen an. Diese werden von den Rechtsanwälten verlesen, die Angeklagten bestätigen am Ende nur die Aussagen. Alle geben in ihren Einlassungen zu, dass sie an dem Tag sowohl an der Demonstration der AfD teilgenommen hätten als auch im Anschluss mit der Gruppe mitgelaufen seien. Ebenso haben alle Angeklagten bestätigt, dass sie die Gruppe als aggressiv wahrgenommen habe oder Straftaten beobachtet hätten. Keiner der Angeklagten bestätigt dabei mehr, als nicht schon bei der Beweisaufnahme belegt wurde. Niemand nennt dabei Namen der anderen Rechtsextremen, die bei den Übergriffen dabei waren, niemand distanziert sich von den Taten.

Obwohl alle drei Angeklagten nicht mehr zugeben, als ihn nachgewiesen werden konnte, sie niemanden ihrer Mittäter belasten oder sich von der Tat distanzieren, erklärt die Staatsanwaltschaft, einer Einstellung gegen eine Strafzahlung von 1.000 Euro zuzustimmen. Alle Angeklagten stimmen ebenfalls zu. Die Nebenklagevertreterin Kati Lang stellt jedoch klar, dass der Rechtsfrieden durch Einstellungen nicht wiederherzustellen sei und ihr Mandant über fünf Jahre auf das Ergebnis dieser Verhandlung warten musste. Auch Nebenklageanwältin Kristin Pietrzyk benennt dabei den Verfahrensverlauf erneut als besonders belastend für die Betroffenen.

Politische Dimension außen vor

Nach einer kurzen Pause werden die drei Beschlüsse verkündet: Gegen alle drei Angeklagte wird das Verfahren gegen eine Geldzahlung von 1.000 Euro an verschiedene gemeinnützige Organisationen eingestellt. Der Vorsitzende Richter bestätigt zwar, dass es „am 01.09.2018 […] zu Straftaten in der Chemnitzer Innenstadt [kam], steht außer Zweifel“, betonte aber, dass es kein „Gesinnungsstrafrecht“ gebe und er deswegen zu der Entscheidung der Einstellungen gekommen sei. Mit keinem Wort wird dabei im Plädoyer des Richters auf die politische Dimension oder die schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen eingegangen.

Nach dem Verlesen der Begründung klatschen sich die Angeklagten hinter ihren Tischen ab. Allen ist ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht geschrieben, kurz danach folgt noch eine kurze Umarmung.

„Glauben an Rechtsstaat verloren“

Nebenklagevertreterin Onur Özata sprach von „schlampigen Ermittlungen und teilnahmslosen Richtern“. Es sei „ein fatales Signal an die Betroffenen rechter Gewalt, dass die Vollstrecker rassistischer Vertreibungsfantasien völlig straffrei ausgehen.“

Die Betroffenen wurden vor Gericht immer wieder nach den Folgen der Tat für sie gefragt. Viele berichteten davon, dass sie in der Zeit nach dem Angriff verunsichert und ängstlich waren. Einige berichteten von einem mulmigen Gefühl im Dunkeln oder dass sie sich öfter umschauen würden. Viele von ihnen sind nach diesem Vorfall für eine Zeit, oft jahrelang, nicht mehr auf Demonstrationen gegangen oder bereiten sich jetzt viel intensiver auf Veranstaltungen in anderen Städten vor.

Beraterin übt Kritik

Auf die Nachfrage der Nebenklageanwältin Kati Lang sagte ein Betroffener auf die Frage, ob er noch einmal an einer Demonstration in Ostdeutschland teilnehmen würde: „In absehbarer Zeit nicht mehr“. Einige Zeug*innen berichteten außerdem, dass sie das Vertrauen in den Rechtsstaat und ihr Grundvertrauen an einen gesellschaftlichen Zusammenhalt verloren hätten. Eine Zeugin sagte dennoch sehr klar vor Gericht aus: „Belastender als das Erlebnis ist für mich das lange Gerichtsverfahren. Ich konnte so einfach keinen Abschluss finden, muss mich immer weiter mit dem Vorfall beschäftigen“.

„Es ist ein Skandal, dass die sächsische Justiz fünfeinhalb Jahre nach den rassistischen und rechten Ausschreitungen und dieser massiven Tat kaum etwas versuchte, um aufzuklären und Gerechtigkeit im Sinne der dutzenden Betroffenen wiederherzustellen“, so Anna Schramm, Beraterin bei der Betroffenenberatung „SUPPORT“.

Wie geht es weiter?

Trotz der Einstellungen werden sehr wahrscheinlich noch weitere Prozesse folgen. Aktuell gibt es noch zwei weitere Anklagen am Landgericht Chemnitz – in einem Verfahren gegen neun Erwachsene und gegen weitere in einem Jugendverfahren, in welchem das Verfahren aber schon gegen einige Beschuldigte eingestellt wurde.


Hessenschau 19.01.2024

Hetzjagd in Chemnitz – Verfahren um Neonazi-Angriffe auf Gruppe aus Marburg werden eingestellt

Neun Angeklagte und keine einzige Verurteilung: Das ist die Bilanz des ersten Prozesses gegen eine Gruppe von Neonazis, die in Chemnitz Jagd auf politische Gegner gemacht hatte. Unter den Attackierten waren SPD-Mitglieder aus Marburg.

Von Joachim F. Tornau

„Ich hatte noch nie so ein Panikgefühl“, erinnerte sich die junge Frau. „So ein krasses Gefühl der Unsicherheit.“ Die Studentin war am 1. September 2018 von Marburg nach Chemnitz gereist, um ein Zeichen gegen rechts zu setzen. Es war der Tag des großen Schulterschlusses von AfD, Pegida und militanter Neonazi-Szene, als nach dem tödlichen Messerangriff eines Geflüchteten Tausende Rechte in der sächsischen Großstadt aufmarschierten.

Die heute 28-Jährige nahm mit anderen Marburgerinnen und Marburgern, für die der SPD-Bundestagsabgeordnete Sören Bartol einen Reisebus gechartert hatte, an einer Gegenkundgebung mit dem Titel „Herz statt Hetze“ teil. Und was sie danach erleben musste, schilderte sie jetzt, fast fünfeinhalb Jahre später, als Zeugin vor dem Landgericht in Chemnitz.

Bedroht, geschubst, geschlagen

Auf dem Rückweg zum Bus sei plötzlich ein „Pulk“ von Neonazis auf sie und ihre Gruppe losgestürmt, berichtete die Frau. Einer habe sich direkt vor sie gestellt, mit einem Holzknüppel ausgeholt, sie beleidigt und Gewalt angedroht.

Ein Mann, der einzige mit Migrationshintergrund in ihrer Gruppe, sei gejagt worden. Andere wurden geschubst und geschlagen. Bereits zuvor hatten die Rechtsextremen auch andernorts in der Stadt Menschen angegriffen und verletzt, die sie für ihre Gegner hielten, begleitet von Schlachtrufen wie „Adolf Hitler Hooligans“.

Anklage: Gefährliche Körperverletzung und Landfriedensbruch

Gegen insgesamt 27 Männer aus verschiedenen Teilen des Landes hat die sächsische Generalstaatsanwaltschaft deshalb Anklage erhoben, wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch.

Nach acht Verhandlungstagen endete am Freitag in Chemnitz der erste von drei Prozessen, in die die Anklagebehörde den Komplex aufgeteilt hat – und es konnte nach der Beweisaufnahme mit den erschütternden Aussagen der zahlreichen Betroffenen kein Zweifel mehr bestehen, dass die Hetzjagd so stattgefunden hatte wie von der Staatsanwaltschaft angenommen. Dennoch wurde niemand verurteilt.

Statt ursprünglich neun Angeklagten saßen am Ende gerade noch drei auf der Anklagebank, die Staatsanwalt Thomas Fischer lediglich als „Mitläufer“ einstufte. „Ich gehe nicht davon aus, dass sie Rädelsführer waren oder massiv am Geschehen beteiligt waren“, sagte der Anklagevertreter am Freitag und bot an, das Verfahren gegen Zahlung von Geldauflagen einzustellen.

Einzige Voraussetzung: ein Geständnis. Nach kurzer Bedenkzeit gingen Timo B. (30) aus Braunschweig, Mark B. (26) aus Rostock und Marcel W. (44) aus Chemnitz darauf ein. Über ihre Verteidiger räumten sie in dürren Worten ein, dabei gewesen zu sein, aber selbst nicht zugeschlagen zu haben. Bedauern über die Tat oder Distanzierung von der rechten Szene? Fehlanzeige.

Verfahren gegen Zahlung von 1.000 Euro eingestellt

Marcel W. hatte bei der Polizei noch recht freimütig zugegeben, dass die Gruppe „auf der Suche nach Antifa-Leuten“ gewesen sei und dass er als Ortskundiger den Weg gewiesen habe. Nicht einmal das wiederholte er jetzt. Dem Gericht jedoch reichten diese Geständnisse. Gegen Zahlung von jeweils 1.000 Euro für gemeinnützige Zwecke würden die Verfahren eingestellt, verkündete Strafkammervorsitzender Jürgen Zöllner.

Die gleichen Konditionen hatte das Gericht am zweiten Verhandlungstag schon Rico W. (34) aus dem Erzgebirge gewährt, der von sich aus seine Tatbeteiligung gestanden hatte – verbunden mit der Beteuerung, auf keinen Fall rechtsextrem zu sein: „Ich gehöre zu keiner Neonazigruppe, ich war ein besorgter Bürger.“

Angeklagte fehlen beim Auftakt

Die fünf weiteren Angeklagten hatten bereits beim Prozessauftakt im Dezember gefehlt: zwei, weil ihre Verfahren zuvor ebenfalls eingestellt worden waren, einer, weil er in Bulgarien lebt und nicht geladen werden konnte, und zwei, weil sie für das Gericht nicht greifbar waren.

Der Dortmunder Neonazi-Aktivist, Kampfsportler und Youtuber Steven F. (29) war offensichtlich untergetaucht, jedenfalls erschien er nicht zum Antritt einer anderweitig verhängten Gefängnisstrafe.

Und sein Kampfsportkumpel Pierre B. (31), verurteilter Gewalttäter und gescheiterter Oberbürgermeisterkandidat der neonazistischen Kleinstpartei „Die Rechte“ in Braunschweig, befand sich wegen angeblicher Suizidgefahr in der Psychiatrie. Im Internet sollen zum Jahreswechsel allerdings Bilder aufgetaucht sein, die ihn bei einer Silvesterfeier mit seinem Braunschweiger Gesinnungsgenossen Lasse R. (25) zeigen.

Zeugen erkennen Gesichter

Viel deutet darauf hin, dass Lasse R., der wie viele andere der mutmaßlichen Tatbeteiligten noch auf seinen Prozess wartet, und Pierre B. zu den Haupttätern bei der Hetzjagd 2018 gehörten. An ihre Gesichter konnten sich viele der Zeuginnen und Zeugen beim Prozess vor dem Landgericht erinnern.

Die drei Angeklagten, auf die sie im Gerichtssaal trafen, erkannte dagegen niemand wieder. Was nicht zuletzt an der langen Zeit liegen dürfte, die seit dem Geschehen vergangen ist. So ist aus dem noch sehr jugendlich wirkenden Timo B. von damals ein bärtiger Hornbrillenträger mit Seitenscheitel geworden, der kaum noch Ähnlichkeit hat mit seinem jüngeren Ich.

Studentin: „Ein wahnsinn schleppender Prozess“

Immer wieder beklagten Betroffene bei ihren Zeugenauftritten, dass die sächsische Justiz so viele Jahre hat ins Land gehen lassen, ohne die Neonazi-Angriffe zu verhandeln. Nicht nur, weil das die Erinnerungen trübt. Sondern auch weil die Täter so das Gefühl bekommen konnten, dass ihnen keine ernsthaften Konsequenzen drohen.

Die Marburger Studentin formulierte es so: „Was mich langfristig am meisten belastet, ist der wahnsinnig schleppende Prozess. Ich hätte mir eine konsequentere Verfolgung dieser Straftaten gewünscht.“

Keine Erklärung – keine Entschuldigung

Eine Entschuldigung oder Erklärung bekam weder sie noch irgendein anderer der Betroffenen. Richter Zöllner verlor kein Wort über die lange Verfahrensdauer, auch nicht, als er die Verfahrenseinstellung verkündete. Von einem „demokratischen Totalausfall des Gerichts“ sprach Nebenklageanwältin Kati Lang im Anschluss.

Auch der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) reagierte mit scharfer Kritik. „Die fatale Botschaft dieser verschleppten Strafverfolgung ist leider kein Einzelfall“, erklärte Sprecherin Heike Kleffner. „Hier zeigt sich, dass Menschen, die sich Neonazis und rassistischen Mobilisierungen entgegenstellen, nicht auf eine konsequente Strafverfolgung hoffen können, wenn sie dabei angegriffen werden.“


Freie Presse 19.01.2024 Jens Eumann

Prozess zu Chemnitz 2018: Verfahren gegen Mittäter eingestellt

Im Prozess zu den Angriffen marodierender Neonazis nach der „Herz statt Hetz“-Demonstration am 1. September 2018 wurden drei Verfahren jetzt gegen Auflagen eingestellt. Der Prozess gegen den Rädelsführer aus Braunschweig steht noch aus.

Chemnitz.Jeweils 1000 Euro müssen die drei Angeklagten im aktuellen Prozess zu den Chemnitzer Ausschreitungen 2018 an gemeinnützige Einrichtungen zahlen. Im Gegenzug soll das Strafverfahren, das am Landgericht Chemnitz wegen des Vorwurfs schweren Landfriedensbruchs gegen die drei Mittäter lief, eingestellt werden. Am Freitag beschloss die Gerichtskammer um den Vorsitzenden Richter Jürgen Zöllner die Einstellung zunächst vorläufig, nachdem die Angeklagten Timo B., Mark B. und Marcel W. sich geständig gezeigt hatten. Von ihren Verteidigern hatten alle Drei erklären lassen, dass sie zu jener Gruppe gehörten, die nach Ende eines von der AfD angeführten sogenannten Trauermarsches durch die Chemnitzer Innenstadt, am 1. September auf der Suche nach einzuschüchternden und gegebenenfalls zu verprügelnden Gegnern durch die Straßen gezogen war. An mehreren vorangegangenen Prozesstagen hatten zahlreiche Zeugen von Angriffen der Gruppe berichtet, wobei Angaben über die Größe dieser Gruppe variierte. Zwischen acht und 20 Personen pendelte die genannte Anzahl.

Zunächst hatten Opfer berichtet, an der B 95 gleich neben dem Chemnitzer Behördenzentrum Moritzhof angegriffen worden zu sein. Einige Opfer wurden mit Fausthieben geschlagen, andere getreten. Eine junge Frau berichtete von dem Rädelsführer, der die marodierende Gruppe gewissermaßen befehligt hatte. Auch ihr selbst habe dieser Mann, dessen Strafverfahren noch aussteht, Schläge angedroht. Nur, um sie Sekunden später in ganz anderer Form zu bedrängen: Ob er sie küssen solle, habe er gefragt. Der Prozess gegen den inzwischen als ein aus dem Raum Braunschweig stammender Kopf der dortigen Neonaziszene identifizierten Mann steht noch bevor.

Weitere Opfer fanden die Marodeure in einer zum Gegenprotest „Herz statt Hetze“ nach Chemnitz gekommenen SPD-Reisegruppe aus Marburg. Auf Einladung ihres örtlichen SPD-Bundestagsabgeordneten war die Gruppe aus Hessen gekommen, um in Chemnitz einen Kontrapunkt zu den damals angekündigten rechten Demonstrationen zu setzen. Nach der „Herz statt Hetze“-Demonstration auf dem Johannisparkplatz im Zentrum war die Gruppe, in der sich neben jungen Leuten auch Rentner befanden, auf dem Weg zurück zum Reisebus. An der Zschopauer Straße wurde sie von den rechten Angreifern attackiert. Fausthiebe, Tritte, SPD-Fahnen wurden entrissen und zum Teil zerstört. Trotz der teils körperlichen Attacken hatten einige Opfer berichtet, sie hätten Glück gehabt, weil sie wohl nicht ganz ins Opferschema der Angreifer gepasst hätten. Nach ihren Rufen hätten diese nach „Zecken“ Ausschau gehalten. Lediglich als „Volksverräter“ seien auch sie wegen ihrer offenkundigen Teilnahme an der „Herz statt Hetze“-Demo beschimpft worden. Bei mehreren Opfern kam es zu Verletzungen, die allerdings ohne Folgeschäden blieben.

Das Geständnis der drei Angeklagten im aktuellen Prozess erstreckte sich indes nur auf ihre Zugehörigkeit zur marodierenden Gruppe. Sie selbst hätten keinerlei Tätlichkeiten zu verantworten gehabt, betonte alle drei unisono. Seine Schuld sehe er darin, sich auch dann nicht von der Gruppe distanziert zu haben, als es zu Auseinandersetzungen kam, als Fahnen zerbrochen wurden, ließ der Angeklagte Tim B. seinen Anwalt Werner Siebers betonen.

Auch sein Mandant habe wahrgenommen, dass die Stimmung in der Gruppe „stetig aggressiver“ geworden sei, sagte Rechtsanwalt Wolfram Nahrath für den Angeklagten Mark B. Als Personen angegriffen wurden, habe B. „sich weder daran beteiligt, noch zugunsten Angegriffener eingegriffen“ so Nahrath. Ihr Mandant Marcel W. habe mitbekommen, dass hinter ihm ein Mann geschlagen worden sei, führte Rechtsanwältin Janine Hilprecht aus. Doch habe er nicht die Gelegenheit ergriffen, sich von seiner Gruppe zu distanzieren, räumte die Anwältin ein.

Aussagen über Tatbeteiligungen anderer aus ihrer Gruppe machten die drei Angeklagten im Geständnis nicht. Das allerdings entbindet sie nicht davon, in möglichen Folgeprozessen, etwa gegen den mutmaßlichen Rädelsführer Lasse R., als Zeugen geladen zu werden. Anders als die drei aktuellen Angeklagten wurde der Braunschweiger Neonazi-Kopf gleich von mehreren Zeugen auf Fotos identifiziert.

Nebenklageanwältin Kati Lang, die im Prozess eines der attackierten Opfer vertrat, machte Enttäuschung über das Einstellen des Strafverfahrens laut, trotz der jeweils zu zahlenden 1000 Euro. Aus Sicht ihres Mandanten könne „der Frieden durch Einstellung nicht wiederhergestellt werden“. Er habe damals „gewollt, dass die Stadt nicht dem braunen Mob überlassen wird. Und er hat fünf Jahre auf dieses Verfahren gewartet“.

Außerhalb des Gerichstsaals machten neben Lang auch Opferverbände harsche Kritik an der Einstellung des Prozesses laut. Das sei ein Skandal, sagte Heike Kleffner vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt am Freitag. „Die Einstellungen zeigen dramatisch, wie der Rechtsstaat Betroffene rechter Gewalt in Sachsen im Stich lässt.“ Ähnlich äußerte sich Anna Schramm von der Beratungsstelle Support des RAA Sachsen. Die Betroffenen hätten vor Gericht die bedrohlichen Szenen erneut durchleben und wiedergeben müssen. Demgegenüber seien die Täter „nach ein paar emotionslosen Zeilen“ ohne Verurteilung geblieben. „Dies ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen.“


MDR 20.01.2024

Chemnitz: Gewalt gegen linke Demonstranten? Gericht stellt Prozess ein

Das Landgericht in Chemnitz hat einen Prozess zu Angriffen auf Teilnehmer einer „Herz statt Hetze“-Demonstration 2018 in Chemnitz eingestellt. Opfervertreter haben deshalb am Freitag die Justiz scharf kritisiert.

Das Chemnitzer Landgericht hat am Freitag das Verfahren gegen drei mutmaßliche Rechtsextremisten wegen Körperverletzung und Landfriedensbruchs eingestellt. Die Männer im Alter zwischen 26 und 44 Jahren müssen eine Geldauflage von jeweils 1.000 Euro an soziale Einrichtungen leisten. Die Einstellung nach Paragraph 153a Strafprozessordnung erfolgte mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten. Sie ist nicht anfechtbar. Ein vierter Angeklagter hatte zu Beginn des Prozesses ein Geständnis abgelegt, was zur Einstellung seines Verfahrens führte.

Anwältin kristisiert Entscheidung des Gerichts

Nebenklagevertreter sprachen nach dem Prozess von einem Skandal. Rechtsanwältin Kati Lang nannte es einen „Freifahrtschein für den rechten Mob“. Für die Betroffenen sei die Mutlosigkeit der Justiz ein weiterer Schlag ins Gesicht. „Erst die jahrelange Verschleppung des Verfahrens, dann keine Strafen für die an der Tat beteiligten Rechten.“ Ein Betroffener äußerte sich enttäuscht: „Ich habe durch den Prozess immerhin lernen dürfen, dass Nazis in Deutschland nichts zu befürchten haben, wenn sie auf politische Gegner losgehen.“

Gericht nennt keinen Grund

Nach Aussage der Nebenklage begründete das Gericht den Einstellungsbeschluss nicht näher. Allerdings dürfte die lange Verfahrensdauer ausschlaggebend gewesen sein. Wegen Corona hatte sich der Prozessbeginn verzögert. Vom Landgericht Chemnitz hieß es gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, das Vorgehen sei von der Generalstaatsanwaltschaft angeregt worden. Die Männer aus Niedersachsen und Sachsen hätten zuvor über ihre Anwälte eine Erklärung abgegeben.

Bekannter Neonazi vor Prozess untergetaucht

Ursprünglich waren neun Männer angeklagt gewesen. Einer von ihnen ist ein bundesweit bekannter Neonazi. Der Dortmunder ist untergetaucht, seitdem er am 17. November 2023 eine Haftstrafe in anderer Sache hätte antreten müssen. Ein bulgarischer Angeklagter war nach den Recherchen von MDR SACHSEN nicht erreichbar. Ein weiterer steht demnach wegen psychischer Probleme unter Betreuung. Bei zwei Beschuldigten wurde das Verfahren eingestellt, weil sie in anderen Prozessen höhere Strafen zu erwarten haben.

Bei den Ausschreitungen nach dem so genannten Trauermarsch von AfD, Pegida und Pro Chemnitz waren am 1. September 2018 Rechtsextremisten auf Gegendemonstranten losgegangen. Elf Menschen wurden dabei verletzt. Insgesamt ermittelte die Polizei 29 Beteiligte, darunter prominente Rechtsextremisten aus Westdeutschland. Zwei weitere Prozesse am Landgericht sollen folgen. Bisher stehen jedoch noch keine Termine fest.