Neues Flüchtlingsheim im Erzgebirge: „Müssen die alle zu uns kommen?“
Ein neues Flüchtlingsheim steht im Erzgebirge, Grünhain-Beierfeld. Anwohner bewaffnen sich. Schließen sich ein. Wovor sie sich fürchten und weshalb es schwer ist, Fremde auf dem Land unterzubringen.
Das Haus, um das es geht, steht am Waldrand. Es ist rosarot, hat ein spitzes Dach, einen großen Garten und schmiegt sich ins Grüne. Es war ein Kurheim für stotternde Kinder und stand zwei Jahre lang leer. Das interessierte lange niemanden. Bis es hieß, dass Ausländer einziehen werden.
Der 18. Dezember ist ein Montag. Als die Tschetschenin Amina im Chemnitzer Erstaufnahmeheim ihren kleinen Koffer packt, brennen draußen am Kurheim, eine halbe Autostunde entfernt von Amina, stundenlang alle Lampen. An der Terrasse, am Eingang. Licht mitten am Tag. Die Elektriker arbeiten noch, die Tischler, die Trockenbauer.
Morgen sollen die Ersten kommen. Zum Beispiel Amina, 21 Jahre alt. Sie hat den Namen der Stadt noch nie gehört. Grünhain-Beierfeld. Sie kann ihn kaum aussprechen. Sie weiß nichts über die Gegend. Sie macht die Politik nicht, die einige Menschen nicht mehr verstehen. Trotzdem geht es um sie.
Die Rechten marschieren trommelnd durch den Ort.
Ein paar Grünhainer, die nebenan wohnen, überlegen: Wie können sie sich am besten verteidigen?
Grünhain-Beierfeld liegt im Erzgebirgskreis. 6000 Einwohner, kaum Kriminalität, gemütliche Häuschen mit Trampolin und Pool im Garten. Im Sommer sprach sich herum, dass das alte Kurheim zur Flüchtlingsunterkunft werden soll. Seitdem entlädt sich über Grünhain die Spannung der aufgeladenen Bundesrepublik. Nach Coronawut und Angst vor kalten, dunklen Stuben konzentriert sich alles auf Geflüchtete.
Der Anteil der Geflüchteten, die Schutz suchen im Erzgebirgskreis, liegt etwa bei 1,8 Prozent
Matthias Lißke geht durchs Haus, um letzte Sachen zu klären. Mit Handwerkern reden, alles kontrollieren, am Kopf kratzen. Lißke kaufte das Kurheim im Auftrag des Landkreises und richtete es her.
Das ist eigentlich nur sein Nebenjob, sagt Lißke immer. Er ist seit 33 Jahren Wirtschaftsförderer des Erzgebirges und organisiert Fachkräftebörsen. Er soll Menschen zurücklocken, die in grauen Zeiten wegen der Arbeit weggezogen waren. Die wünscht man sich heute hierher zurück. 2015 begann die Flüchtlingskrise. Lißke bekam damals vom Landrat einen neuen Bereich dazu: Unterkünfte für Geflüchtete suchen und herrichten. Der damalige Landrat wollte von den Privaten, die ihm Wohnungen anboten, nicht über den Tisch gezogen werden. Das Geschäft sollte in den Händen des Landkreises bleiben. Lißke war der Mann, dem er zutraute, genügend Betten aufzustellen.
Andere decken Dächer, Lißke sucht warme, trockene Stuben für die Flüchtlinge. Jede Woche bekommt das Erzgebirge vom Bundesamt für Migration um die 50 Leute zugewiesen. Auch dünn besiedelte, abgelegene Landkreise müssen Fremde aufnehmen. Nicht so viele wie Großstädte. Aber ein paar schon. Der Anteil der Geflüchteten, die Schutz suchen im Erzgebirgskreis, liegt etwa bei 1,8 Prozent. Etwa 1200 Menschen stecken mitten im Asylverfahren, noch einmal so viele sind geduldet oder müssten ausreisen.
Während Lißke schon im Haus steht, wartet an der Einfahrt ein Trupp auf den Bürgermeister. Ein Polizist in Uniform, jemand vom Landratsamt, jemand von der Feuerwehr, jemand mit Klemmbrett unterm Arm. Die Sonne scheint, es sind acht Grad. Viel zu warm für Mitte Dezember. An den Schuppen nebenan ist ein lächelnder Teddy gemalt. Er ist so groß wie ein Kind, trägt grüne Latzhosen und winkt stumm rüber. Ein letztes Mal werden sie gemeinsam durchlaufen, bevor es ernst wird.
Zwei Bauarbeiter stehen abseits am Firmenwagen, beißen in Brote und trinken aus dampfenden Bechern. Sie beobachten, wie ein SUV in der Einfahrt parkt. „Zu faul, auf’n Parkplatz zu fahren“, sagt der eine. „Idioten“, sagt der andere.
Es war nicht leicht, Handwerker zu finden. Einige hatten keine Zeit. Einige lehnten ab, weil sie hier nicht gesehen werden wollten. Es wäre geschäftsschädigend, hieß es. Viele Handwerksfirmen, die das Heim umbauen, kommen von auswärts. Ein Einheimischer wollte Hausmeister werden und sprang ab. Nun übernimmt den Job ein Türke.
Lißke fährt viel herum. Er besichtigt Immobilien, die man herrichten könnte. In letzter Zeit bietet ihm kaum jemand was an. Er wird langsam nervös, weil er Platz schaffen muss. Im Herbst forderte der Landkreis alle erzgebirgischen Bürgermeister auf, bezugsfähige Wohnungen und Immobilien zu melden. Es kam fast nichts. Einige Bürgermeister sitzen die Sache aus und halten die Füße still. Sie sagen, dass ihre Bürger keine Fremden mehr im Ort haben wollen. Darüber wollen sie sich als Bürgermeister nicht hinwegsetzen. Am Ende ist es egal, ob sie wollen oder nicht. Wenn sich etwas findet, muss Lißke zugreifen.
Acht Menschen teilen sich einen Herd, zehn eine Dusche und eine Toilette
Es steht viel leer, gerade im Plattenbau, doch viele Wohnungen sind nicht geeignet. Manchmal, weil schon Geflüchtete im Block wohnen und man nicht zu viele von ihnen zwischen die Einheimischen pflanzen will. Oft ist es eine Geldfrage. Es wäre zu teuer, alte Wohnungen vorzurichten, deren Abriss schon beschlossen wurde. 10.000 Euro Sanierungskosten pro Wohnung sind die untere Grenze. Welcher Eigentümer will so viel Geld ausgeben? Matthias Lißke müsste sich auf mehrjährige Mietverträge einlassen. Das will er nicht.
Man kennt den Lißke. Volles, graues Haar, ein kleiner Bauch und der Blick eines Mannes, dem man nichts erklären muss. Er müsste sich einen Pappkarton mit Gucklöchern auf den Kopf setzen, sobald er rausgeht, sagt er. Es gibt immer jemanden, der ihn sichtet. Sofort wabern Gerüchte durch Facebook und Telegram. Mal heißt es, eine alte Schule werde Flüchtlingsunterkunft, mal ist von neu gebauten, schlüsselfertigen Eigenheimen die Rede.
Das alte Kurheim ist für Lißke ein Elfmeter in der Neunzigsten. Es ließ sich ohne großen Aufwand herrichten. Die Regeln sind vorgeschrieben: Acht Menschen teilen sich einen Herd, zehn eine Dusche und eine Toilette. Lißke musste also Duschen und Klos nachrüsten, Küchen einbauen, ein bisschen Trockenbau einziehen und eine neue Brandmeldeanlage installieren. Er bekam hundert Betten rein. In jedem Zimmer stehen vier Stück.
Der Stadtrat war gegen das Heim. Es gab Besprechungen, Krisensitzungen und einen bösen Brief. Den druckte das Gemeindeblatt des Rathauses im September. Das Blatt heißt „Spiegelwaldbote“. Der anonyme Leserbrief ging über die halbe Seite und stand weit vorn im Heft. Die Überschrift hieß: „Sichtweise einer Leserin“. Darunter standen Gerüchte, die die Stimmung aufheizten: „Im beschaulichen Grünhain werden 100 – 150 Asylanten moslemischer Herkunft, überwiegend junge Männer, ab Dezember 2023 in der ehemaligen Eubios-Klinik einquartiert. Ich frage mich, warum so viele junge Männer, die doch mit ihren Kräften ihr Herkunftsland verteidigen, aufbauen und ihre Frauen und Kinder beschützen sollten?!!“
In der Siedlung bewegen sich Gardinen, sobald Fremde auftauchen
Vielleicht liegt es daran, dass Landkreis und Ausländerbehörden so wenig erzählen. In das Haus sollen Familien ziehen, Frauen und Kinder, meldete der Landkreis zaghaft. Das sind die, gegen die keiner was sagt. Einige im Ort glauben, dass sie angelogen werden. Sie glauben, die vom Amt wollen sie bloß ruhigstellen.
Das Reden haben längst die Rechten übernommen. Freitags demonstrieren die „Freien Sachsen“ in Grünhain gegen Ausländer. Eine kleine, laute, rechtsextreme Partei, die grün-weiße Sachsenfahnen mit dem Wappen des alten Königreichs schwenkt und wegen verfassungsfeindlicher Propaganda im Verfassungsschutzbericht auftaucht.
Das Kurheim grenzt an eine winzige Siedlung aus Gartenlauben und Eigenheimen. Es war schon immer eine Waldsiedlung. Sie entstand vor hundert Jahren. Damals wohnten hier Waldarbeiter, später kamen Dienstwohnungen für Förster dazu. Das große Haus, um das es geht, wurde 1929 gebaut und war immer Kurheim gewesen. Als die DDR noch existierte, siedelten sich ringsherum Kleingärtner an. Sie zogen Bungalows hoch, groß genug, um darin den Sommer zu verbringen.
Einige nutzten die chaotische Wendezeit, um ihren Hauptwohnsitz hierher zu verlegen. Das war nicht überall zu hundert Prozent legal, weil die Lage nicht den deutschen Standards entspricht. Weil die Feuerwehr nicht an die Grundstücke kommt und es auch für den Rettungsdienst schwierig wäre. Es gibt nicht mal einen Fußweg an der schmalen Straße. Wer in die Stadt läuft, muss aufpassen, dass er von Autos und Lastern nicht breitgefahren wird. Sie nehmen einiges in Kauf, weil es schön ist draußen bei den Fichten und den zwitschernden Vögeln. Und nun?
In der Siedlung bewegen sich Gardinen, sobald Fremde auftauchen. Einer hat sein Gartentor mitten am Tag abgeschlossen. Er steht hinter einem Busch und hackt Holz. Man hört das dumpfe Geräusch eines Beils, das im Rhythmus schlägt. Man sieht ab und zu den Männerschatten, den die Sonne auf die Wiese malt.
„Ist logisch, dass wir alle Angst haben“, sagt eine ältere Frau. Sie steht am Gartentor ihres Häuschens. Versichert man den Anwohnern, dass ihre Namen nirgendwo auftauchen, sprudelt alles aus ihnen heraus. In weniger als einer Minute fasst die Frau zusammen, was ihr durch den Kopf geht seit der Sache mit dem Flüchtlingsheim:
„Die streifen doch überall rum.“
„Müssen die alle zu uns kommen?“
„Die sind doch ruckzuck übern Zaun.“
„Wir sind für jeden Tag dankbar, wo die nicht da sind.“
„Ich mach alles verrückt, wenn die mich bedrängen.“
Die Polizei fährt langsam vorbei. Das macht sie nun häufiger
Sie lässt eine Pause, um Luft zu holen. Ein Bekannter, der alleinstehend ist, habe eine Ukrainerin aufgenommen. Er habe anbandeln wollen, aber einen Korb bekommen. Sie weiß nicht, warum sie das erzählt. Man habe ihnen gesagt, dass Leute aus allen möglichen Ländern einziehen werden. Vielleicht will sie sich selbst beruhigen.
Vielleicht kommen die gar nicht hoch, weil ihnen die Siedlung egal ist. Was sollen die hier oben? Hier ist nichts, nur der Wald und ein paar ältere Menschen. Trotzdem wollte sie vorbereitet sein. Sie nahm sich einen Stock, der im Schuppen stand. Er besitzt eine Spitze aus Eisen. Sie wollte probieren, wie sie sich mit dem Ding verteidigen würde, und verletzte sich selbst am Kopf. Sie glaubt, das sei ein Zeichen gewesen. Sie soll die bösen Gedanken aussperren, so etwas in der Art. Am Ende alles arme Seelen auf Wanderschaft. Wer weiß, was die erlebt haben. Viele Bekannte versuchten, sie zu beruhigen. Die armen Leute, haben sie gesagt. Aber die wohnen alle nicht nebenan.
Als im Sommer die erste Demo war, sei sie einfach hingegangen. Sie habe hören wollen, was erzählt wird. Die kleine Stadt stand voller aufgewühlter Menschen, unter ihnen ein paar aus der Waldsiedlung. Als sie kapiert habe, dass die Rechten vorndran stehen, sei ihr mulmig geworden. Jemand von denen habe auch noch gefilmt. „Ich will damit nicht in Verbindung gebracht werden“, sagt sie.
Die Polizei fährt langsam vorbei. Das macht sie nun häufiger.
Am Ende einer langen Einfahrt steht ein verwittertes Häuschen. Die Gartenstühle stehen immer noch draußen, obwohl Winter ist und sie die erste feste Schneedecke liegen hatten. Der Mann, der die Tür öffnet, muss in den Sechzigern sein. Pantoffeln, Jogginghosen, Pulli. Er erzählt, dass er überall Schlösser eingebaut habe. Sogar das Tor an der Einfahrt habe er gängig gemacht.
„Die Lebensqualität ist im Arsch“, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust. Alles ist still um ihn herum, man hört nicht mal den letzten Rest eines Fahrgeräusches. Als würde die Welt Platz machen für diesen Satz, den er gerade ausgesprochen hat. Der Grundstückswert sei fünfzig Prozent gesunken. Es steht nirgendwo, er habe das bloß gehört. Er erzählt, dass er früher Hausmeister in einem Flüchtlingsheim im Westen gewesen sei. Zweimal pro Woche hätten sie die Polizei rufen müssen, weil nachts Beschallung war und sich die Bewohner gegenseitig verdroschen haben.
Er spricht von der ersten Fuhre, die komme. Welche aus Vietnam und welche aus Venezuela, habe er gehört. Da weiß er gar nicht, welche Probleme die gerade haben.
Niemand hier oben hält sich für rassistisch und ausländerfeindlich
Niemand hier oben hält sich für rassistisch und ausländerfeindlich. Sie zuckten zusammen, als die Trommler auftauchten, weil sie das an die Aufmärsche unter Adolf Hitler erinnert. Solche Menschen wollen sie nicht sein. Die wollen sie auch nicht in der Stadt haben.
Stefan Hartung, der die Demonstrationen anmeldet, ist ein bekannter Mann im Erzgebirge. Im Frühsommer 2022 hingen überall Plakate mit Hartungs Namen und Hartungs Gesicht, weil er Landrat werden wollte. Hartung kandidierte für die „Freien Sachsen“. Er ist zweiter Vorsitzender der Partei. Seit seiner Jugend ist er außerdem Mitglied in der NPD und sitzt im Kreistag.
Die Trommler sind ein bunter Haufen. Alte, Junge, Frauen, Männer. Sie tragen Westen mit der Aufschrift „Sachsentrommler“ und dem Wappen der „Freien Sachsen“. Sie kommen nicht von hier, sondern aus Thüringen, Greizer Gegend. Das ist nicht weit weg. Sie fühlen sich hier gebraucht. Vom Markt marschieren sie mit den Demonstranten hinüber zum Heim, mitten auf der Straße. Das Kloster liegt auf dem Weg. Im Herbst spielten die Jagdhornbläser zur Hubertusmesse. Die Wände des Klosters schienen zu wackeln, als die Gruppe vorbeimarschierte. Zu den Demonstrationen läuft noch eine Handvoll Menschen aus dem Ort mit, sagen die Grünhainer. Die anderen Gesichter, so um die fünfzig, die kennen sie nicht.
Seit dem Sommer bewacht ein Sicherheitsdienst das leerstehende Heim. Rund um die Uhr passt jetzt jemand auf, dass das Haus nicht überfallen wird.
In den Gärten ist es still im Winter. Niemand grillt, keine Rasenmäher, keine quietschenden Kinder. Aber irgendwo geht immer jemand herum wie ein Hausmeister und schaut nach dem Rechten. Sie haben ihre Gärten noch nie alleingelassen, die ganze Zeit. Eine Frau ist da. Sie lüftet ihren Bungalow, es riecht ja schnell muffig in Bungalows. „Gibt in jedem Land solche und solche“, sagt sie. Eine geballte Ladung Jugendlicher ohne Eltern und Aufpasser mache immer Scheiße, egal, welche Nationalität im Pass stehe.
Sie hat Angst, dass Nazis aufkreuzen hier oben. Was, wenn die eines Tages Stunk anfangen?
Sie kennt Geschichten, in denen Familien ihr ganzes Geld zusammenkratzen und Schleppern in die Hand drücken, damit der Sohn so weit weg wie möglich gebracht wird, nicht zum Kriegsdienst muss. Das schnürt ihr als Mutter die Luft weg. Wenn Eltern ihre Söhne entwurzeln, um sie nicht im Leichensack von der Armee zurückzubekommen, denkt sie an die eigenen Kinder.
In der kleinen Stadt geht die Angst um. Früher waren sie unter sich. Und nun soll ein ganzes Heim mit Fremden her
Was sagt das alles über die Menschen in Grünhain? Viel. Oder wenig. Oder gar nichts. Sie sind eben verschieden. Einer fürchtet, die zukünftigen Nachbarn könnten sein teures Werkzeug stehlen. Der Nächste muss an seine Kindheit unter den Nazis denken, als in den Mathebüchern Textaufgaben standen, in denen man ausrechnen musste, was ein Krüppel das Land an Geld kostet. Der alte Mann hängt Grünzeug an den Holzzaun eines Nachbarn, für die Kaninchen. So halten sie es hier.
Während die Bauabnahme drüben im Heim läuft, fährt ein Mann mit einem Elektromoped aus der Waldsiedlung. Bernd heißt er, das kann man ruhig schreiben. Bernd ist Rentner. Auf dem Anhänger liegt die Mülltonne. Die Müllabfuhr kommt nicht den ganzen schmalen Berg hinauf. Also bringt er sie runter. „Wenn die Bambule machen, ziehen wir weg. Die vertreiben die eigenen Deutschen“, sagt Bernd.
Er weiß nicht, wohin die Reise für ihn und seine Frau gehen würde. Er will ja gar nicht weg. Er liebt es hier, die idyllische Lage. Aber er ist frustriert. Er sagt, der ganze Staat gehe flöten. Seinem Enkel seien in Aue auf dem Postplatz Drogen angeboten worden von Ausländern. „Da herrschen die schon“, sagt er. Er habe zu Hause ein paar Werkzeuge liegen, mit denen er sich verteidigen könnte. Er wirkt aufgekratzt.
Bernd, die ältere Dame, der ehemalige Hausmeister. In der kleinen Stadt geht die Angst um. Früher waren sie unter sich. Und nun soll ein ganzes Heim mit Fremden her.
Es hätte anders kommen können, erzählt man sich. Aber was stimmt überhaupt?
Einer, der früher in der Siedlung gewohnt hat, wollte etwas für seine Pferde bauen. Ein Heim, einen ordentlichen Stall, Wohnungen vielleicht. Er schrieb ein Konzept, wie es aussehen könnte. Er erzählt, dass es riskant gewesen wäre für ihn als Privatmann. Er hätte viel Geld reinstecken müssen. Sein Name soll hier nicht stehen. Das Projekt sei am Ende eine Nummer zu groß gewesen. In Grünhain erzählt man die Geschichte anders. Es geht das Gerücht herum, dass der Landkreis eine Stange Geld gezahlt habe, um dem Privatmann das Haus vor der Nase wegzuschnappen.
Am nächsten Vormittag biegen zwei Reisebusse aufs Grundstück. Ein kurzer Moment, der seltsam ist. Hier hielten noch nie Busse an. Frauen steigen aus und Kinder, die verloren wirken. An der rosafarbenen Fassade klebt ein weißes Blatt mit einem dicken, blauen Pfeil. In sieben Sprachen steht das Wort „Eingang“ um den Pfeil herum geschrieben.
Die Behörden haben die Nachricht vom Einzug einen Tag lang zurückgehalten. Vielleicht weil sie verhindern wollten, dass jemand mit Fackeln vorm Haus steht, trommelt oder gegen Busse spuckt.
Alik spricht fließend Deutsch und sagt, dass er schon länger in Dresden lebe und dort als Wachmann arbeite
Matthias Lißke schreibt ein paar offizielle Sätze, die auf der Internetseite von Grünhain-Beierfeld hochgeladen werden: „Anwesend sind derzeit 49 Frauen und Kinder, dabei 24 Kinder von 0 bis 15 Jahren. Dies entspricht unseren Planungen, die Gemeinschaftsunterkunft Grünhain weitestgehend mit Familien zu besetzen. Die Nationalitäten sind breit gefächert, von Vietnam über Indien, Syrien, Türkei, Kamerun bis Venezuela und andere Nationen.“
Lißke braucht noch mehr Platz. Er weiß nicht mehr wohin mit den Geflüchteten, die sein Landkreis bekommt. Es gibt eine neue Idee, Betten freizukriegen. Seit ein paar Tagen verschickt das Landratsamt Briefe an Ukrainerinnen, die schon länger da sind. Viele belegen immer noch Flüchtlingswohnungen. Sie sollen sich nun selbst etwas mieten.
Lißke hat neue Sorgen, die wohnen nun in Grünhain. Drei Hochschwangere, eine Frau mit gebrochenem Fuß, ein Kind mit Atemnot, eine Mutter mit fünf Kindern. Am besten wäre jemand, der dauernd da ist, Deutsch spricht und in der Not einspringen kann. Lißke ist Geschäftsführer einer Firma namens DGE, einer kreiseigenen Gesellschaft, die das Heim betreibt. Er hat auch das Personal eingestellt. Es gibt einen Objektleiter, einen Hausmeister und halbtags eine Hauswirtschafterin. Die kinderreiche Mutter fuhr Lißke im Schneechaos zum drei Kilometer entfernten Supermarkt. Er wollte nicht, dass sie die ganzen Einkaufstüten durch halb Grünhain schleppen muss.
Der Tag, an dem Amina zum ersten Mal durch Grünhain-Beierfeld läuft, ist grau und stürmisch. Sie sieht blass und müde aus. Im Haus hinter ihr weinen Kinder, als sie hinausgeht. Sie trägt einen langen, schwarzen Steppmantel, ein Kopftuch und dünne Schuhe, die nass geworden sind. Amina verließ Tschetschenien im Oktober und kam zuerst nach Chemnitz. Sie wollte endlich mit Alik zusammenleben. Alik spricht fließend Deutsch und sagt, dass er schon länger in Dresden lebe und dort als Wachmann arbeite. Seine Eltern flüchteten damals mit ihm und seinen beiden Brüdern, weil sie einen Arzt brauchten, den sie sich in Tschetschenien nicht hätten leisten können. Mehr will Alik nicht sagen. Auch die echten Namen sollen nicht im Text erscheinen. Man kann die Geschichte nicht nachprüfen, doch warum sollte er lügen?
In den nächsten Tagen will die Grünhainer Kirchgemeinde einen Helferkreis gründen
Alik und Amina erzählen, dass sie verheiratet sind. Eigentlich. Die Sache ist kompliziert. Sie besitzen keine offizielle Eheurkunde und werden Anträge ausfüllen müssen, um zusammenleben zu dürfen.
Amina ist niemand, an den man denkt, wenn es um Flüchtlinge geht. Ein Mädchen aus einer russischen Republik, das einen Mann liebt, der in Deutschland wohnt. Das Flüchtlingsbild, das sofort im Kopf auftaucht, ist der testosterongesteuerte junge Araber mit teurem Handy, schicken Sneakers und Klappmesser, von dem man glaubt, dass er eine kurze Zündschnur besitzt. Vielleicht ist das der Punkt. Vielleicht gibt es den klassischen Flüchtling genauso wenig wie den klassischen Grünhain-Beierfelder.
Alik steht neben Amina. Der Wind bläst ihm ins Gesicht. Als Amina im Bus saß, nahm sie das Handy und schickte Alik ihren Standort. Er sah Amina auf dem Display als blauen Punkt, der sich langsam über die Straßen bewegte. Alik musste nur hinterherfahren mit seinem Auto. Nun hat er ein Zimmer in einer Grünhainer Pension gemietet, um die ersten Tage bei ihr zu sein. Amina darf nicht zu ihm nach Dresden. In den ersten Monaten darf sie den Erzgebirgskreis nicht verlassen. Alik will die wichtigsten Wege mit ihr abgehen. Eigentlich ist es nur die Strecke zum Norma. Man läuft eine halbe Stunde.
In den nächsten Tagen will die Grünhainer Kirchgemeinde einen Helferkreis gründen. Lißke glaubt, dass sich alles zum Guten wenden wird. Man müsse Druck aushalten und Ruhe bewahren, sagt er. Es sei besser, man hält das eine Weile aus und hält die Klappe.
Rentner Bernd sah aus der Ferne, wie Frauen und Kinder aus dem Bus stiegen. Er steht neben seinem kleinen Moped vor der Garage an der Waldsiedlung. Bernd sagt, er fühle sich beruhigt. Er habe nur was gegen Halbstarke. Trotzdem bleibe das ungute Gefühl, sagt er. „Irgendwann drücken die uns andere Leute aufs Auge“, sagt Bernd. Dann fährt er davon.