Tag X in Leipzig: Was bleibt vom „Tag X“?
Fünf Menschen erzählen, wie sie die linksextremen Proteste in Leipzig erlebt haben.
Am vergangenen Samstag kam es in Leipzig zu gewalttätigen Ausschreitungen. Laut Polizei wurden 50 Beamte verletzt, drei davon waren tags darauf nicht dienstfähig. Hunderte Demonstranten wurden bis zu elf Stunden im Freien festgehalten. Im Stadtteil Connewitz brannten in der Nacht Barrikaden, Steine flogen auf Polizisten. Anlass war ein Urteil des Oberlandesgerichts Dresden von voriger Woche. Das Gericht verurteilte die Studentin Lina E. wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und gefährlicher Körperverletzung zu fünf Jahren und drei Monaten Haft. Sie soll gemeinsam mit anderen Linksextremen Überfälle auf tatsächliche und vermeintliche Neonazis geplant und durchgeführt haben. Lange wurde – samt Aufrufen zu Gewalt – europaweit für den sogenannten Tag X in Leipzig mobilisiert, den Samstag nach dem Urteil. Die Stadt untersagte mehrere Demonstrationen. Die befürchteten Massenkrawalle blieben aus. Seither wird vor allem eines debattiert: War der Einsatz der 3.200 Polizisten angemessen?
„Eindeutig gefährlich“
Es war schon verrückt, das vergangene Wochenende in Leipzig. Wir hatten ein großes Konzert von Herbert Grönemeyer, RB Leipzig ist Pokalsieger geworden, das Stadtfest wurde in der Innenstadt gefeiert – und obendrein die Demonstrationslage. Aber insgesamt ist die öffentliche Sicherheit durch die Polizei gewährleistet worden, und dafür bin ich dankbar.
Hinterher wird jetzt nur diskutiert, was die Polizei alles falsch gemacht hat. Da vergisst man ganz und gar, welche Androhungen im Internet standen: dass die Stadt in Schutt und Asche gelegt werden sollte! Natürlich schränkt niemand das Recht auf Versammlungsfreiheit gerne ein, natürlich will niemand Grundrechte beschneiden. Aber die Lage war eindeutig, und zwar war sie eindeutig gefährlich.
Man darf hier nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Und in diesem Fall lag die Ursache eindeutig bei den Gewaltandrohungen im Internet, weshalb die Polizei so deutlich Präsenz zeigen musste. Dass da im Einzelfall Unrecht erlebt wird, dass Minderjährige etwa von der Polizei eingekesselt werden und ihre Eltern nicht zu ihnen gelassen werden – das sollte selbstverständlich nie passieren. Aber ich fürchte, in solch einer Lage lässt sich so etwas nicht ganz vermeiden. Trotzdem wird die Polizei ihren Einsatz nun kritisch hinterfragen, und das ist auch richtig so.
Ich frage mich, was das vergangene Wochenende nun für die Stadt bedeutet. Ich würde nicht sagen, dass es immer so viel Härte braucht. Es kommt auf den Einzelfall an. Dieses Mal hat sich jedenfalls gezeigt, dass ein starker Staat ab und an vonnöten ist.
Burkhard Jung, 65, SPD, ist seit 2006 Oberbürgermeister von Leipzig.
„Keine Gefährdung“
Man kann das vergangene Wochenende auf zwei Ebenen betrachten. Einerseits gab es zwar Ausschreitungen, das ist unglücklich und hilft niemandem weiter. Aber diese Ausschreitungen fanden längst nicht in der Dimension statt, wie sie herbeigeredet worden waren. Und andererseits gab es eine massive Präsenz der Polizei, Demonstrationen wurden verboten, Menschen wurden verdachtsunabhängig kontrolliert. Wie leichtfertig die Grundrechte eingeschränkt worden sind, das empfinde ich als besorgniserregend für eine freiheitliche Demokratie.
Wer nun sagt, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen dem Auftritt der Polizei und den vergleichsweise kleinen Ausschreitungen, dem muss ich widersprechen. Ich denke, das Gegenteil ist der Fall: Hätte man sich eher zurückgehalten, dann hätte man den Druck aus der Stadt genommen. Es gab ja auch viele, die friedlich demonstrieren wollten, um ihren Unmut über das Urteil gegen Lina E. zum Ausdruck zu bringen. Man hat diesen Menschen das Recht genommen, ihre Meinung kundzutun.
Dass der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) nun ein Konzept gegen Linksextremismus fordert, ist nicht angemessen. Es ist populistisch. Die linke Szene ist plural und keine Gefährdung, wie behauptet wird. Das hat das Wochenende wieder einmal gezeigt. Wir als Linkspartei in Sachsen nehmen uns nun vor, die polizeilichen Maßnahmen parlamentarisch aufzuarbeiten. Es wird in den kommenden Tagen eine Sondersitzung im Innenausschuss geben, in der es um die Grundrechtseingriffe gehen soll.
Juliane Nagel, 44, sitzt für die Linke im Sächsischen Landtag. Der Leipziger Stadtteil Connewitz liegt in ihrem Wahlkreis.
Entwürdigt im Kessel
Ich bin da einfach so reingeraten. Ich war mit ein paar Bekannten am Rande des Alexis-Schumann-Platzes, wir haben darauf gewartet, dass die Demo losgeht. Wir standen neben Vermummten. Aber ich habe mir deswegen keine Sorgen gemacht. Normalerweise gehe ich zu Fridays-for-Future-Demos. Auch da gibt es so etwas wie einen schwarzen Block. Da ist aber noch nie etwas passiert, er ist einfach besonders laut. Ich laufe immer neben ihm.
Am Samstag jedenfalls bewegte sich erst einmal nichts. Irgendwann ging in einer Nebenstraße eine Rakete hoch, und die Menge hat sich in Bewegung gesetzt. Ich bin dann mitgelaufen, ohne groß darüber nachzudenken. Als vom Ende der Straße Polizisten auf uns zustürmten, bewegte sich die Masse in eine andere Richtung. Wir haben versucht, an der Seite rauszukommen, aber wurden mitgeschoben. Auf einmal ging alles ganz schnell. Überall standen Polizisten. Und plötzlich waren wir im Kessel, ein paar Hundert Leute. Das war um kurz nach 18 Uhr. Es sollten alle unsere Personalien festgestellt werden, was ewig dauerte. Ich musste bis etwa vier Uhr dort bleiben, zehn Stunden. Es war schlimm.
„Mir kam das alles sehr entwürdigend vor“
Ich stand hinten, am Gebüsch. Am Anfang konnten wir uns nicht einmal hinsetzen. Eine Person vor mir ist ohnmächtig geworden, eine andere wurde mit einer Panikattacke rausgetragen, weinend und zitternd. Niemand hat uns gesagt, was passiert. Ich hatte kein Handy dabei, deswegen konnte ich meine Eltern nicht anrufen. Der Polizei habe ich das nicht gesagt. Denn zuerst rechnete ich nicht damit, dass es so lange gehen würde. Später hatte ich zu große Angst.
Wir haben kein Essen bekommen und nur wenige Wasserflaschen von den Sanitätern. Dass die Polizei uns Trinken zur Verfügung gestellt haben soll? Davon habe ich nichts gehört. In der Nacht wurde es dann sehr kalt. Die Polizei hat wohl Toiletten bereitgestellt, das habe ich aber erst im Nachhinein erfahren. Durchgesagt wurde es nicht. Am Anfang hatten wir einen Busch ausgemacht. Aber als es dunkel war, hat die Polizei angefangen, dort mit Taschenlampen hinzuleuchten, sobald den jemand benutzen wollte. Obwohl sie genau sahen, was dort passierte. Das war eklig. Deswegen bin ich nicht ein Mal auf die Toilette gegangen, obwohl ich meine Periode hatte. Mir kam das alles sehr entwürdigend vor. Wofür ich aber dankbar bin, sind die vielen Leute, die auf uns vor dem Kessel gewartet haben und uns in Empfang nahmen, als wir endlich rauskamen.
Lara, 17, Schülerin. Auf ihren Wunsch hin haben wir ihren Namen geändert. Ihr echter Name ist der Redaktion bekannt.
Es ging nicht anders
Es gibt den Vorwurf, dass die Polizei die Situation am Samstag bei der Demonstration eskaliert habe. Dem muss ich entschieden entgegentreten. Wir wollten diese Demonstration gewährleisten. Letztlich ist aber genau das eingetreten, wovor ich den Versammlungsleiter gewarnt hatte. Statt der angezeigten hundert Teilnehmer sind mindestens 1500 erschienen, davon viele Personen mit Gewaltpotenzial. Es kam zu Vermummungen, Steine wurden aufgehoben. Und eins ist doch klar: Es gibt keine friedlichen Steinewerfer.
Irgendwann sind wir mit der Versammlungsbehörde zu dem Schluss gekommen: Wenn wir diesen Zug laufen lassen, dann erhöht sich das Risiko für einen Gewaltausbruch in der Stadt immens. Und ich bin ganz einfach nicht bereit, dieses Risiko einzugehen. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin dafür da, Risiken zu minimieren. Manchmal ist es bei solchen Einsätzen auch die Strategie, als Polizei gar nicht zu handeln. Aber das war hier keine Alternative vor dem Hintergrund, was angekündigt war. Wir konnten keinen marodierenden Mob in Leipzig zulassen.
Mit dem Kessel, in dem wir die Teilnehmer nach dem Gewaltausbruch umschlossen haben, konnten wir einen Großteil der Störer festsetzen und die Personalien aufnehmen. Das war mit der Staatsanwaltschaft so abgestimmt, weil es den Verdacht des schweren Landfriedensbruchs und tätlicher Angriffe gab. Es tut mir um jeden leid, wenn er oder sie dort grundlos Stunden ausharren musste. Das bedaure ich, aber es ließ sich nicht vermeiden.
Das Ziel unseres Einsatzes war es, größtmögliche Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten. Das haben wir erreicht. Zufrieden kann ich trotzdem nicht sein. Auch weil fast 50 Kollegen verletzt wurden. Wir werden nun alles dafür tun, dass denjenigen, denen wir Straftaten nachweisen können, auch der Prozess gemacht wird.
René Demmler, 51, ist seit zwei Jahren Leipzigs Polizeipräsident. Er hat den Einsatz am Samstag geleitet.
Es war unverhältnismäßig
Ich war bis tief in die Nacht in Leipzig, um mir die Geschehnisse anzuschauen. Zwar bin ich erleichtert, dass es nicht zu den heftigen Gewaltausbrüchen kam, wie sie befürchtet worden waren. Dennoch bedrücken mich die Gewalttätigkeiten, aber auch die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und der Auftritt der Polizei.
Ich muss das noch einmal klar sagen: Es gab Gewalt von Linksextremen, das ist kriminell, das muss konsequent verfolgt und bestraft werden. Aber ich möchte – und da spreche ich auch als ehemaliger Polizist –, dass die Polizei über jeden Zweifel erhaben ist, dass sie nicht selbst zur Eskalation beiträgt. Und diesen Vorwurf muss sie sich jetzt gefallen lassen.
Nach dem Wochenende habe ich viele Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern erhalten, die nun von der Polizei enttäuscht sind, die sie als beängstigend wahrgenommen haben. Und das ärgert mich. Wir brauchen ein Vertrauen in die Institution, und das sehe ich gefährdet durch Aktionen wie die stundenlange Einkesselung von teils minderjährigen Menschen. Das war unverhältnismäßig.
Ich halte es aus meiner eigenen Erfahrung für eine Mär, dass die Demonstration von Stärke aufseiten der Polizei zur Deeskalation führt. Natürlich muss sie präsent sein und sich auf solche Lagen gut vorbereiten. Aber dazu gehört für mich auch, nach außen etwas defensiver aufzutreten, als sie es in Leipzig getan hat. Das ist der Grund, weshalb ich nun eine Kleine Anfrage an das sächsische Innenministerium stellen werde. Ich finde, wir müssen den Einsatz noch einmal kritisch aufarbeiten, um am Ende daraus zu lernen.
Albrecht Pallas, 43, sitzt für die SPD im Sächsischen Landtag. Früher arbeitete er als Kriminaloberkommissar in Dresden.