„Vermummt euch!“ – Der „Tag X“ in Leipzig wird noch nachwirken

Am „Tag X“ und um diesen herum eskalieren Proteste, kommt es zu gewaltsamen Zusammenstößen – vor allem im Leipziger Süden. Leipzig wird noch Tage brauchen, um alles aufzuarbeiten. Ein vorläufiger Bericht von den LVZ-Demo-Reportern.

Leipzig. Am Ende dieser Samstagnacht, etwa gegen 0 Uhr, zieht ein Pizzalieferant Barrikaden von der Straße. Dass seine Pizzeria ausgerechnet „Revolution“ heißt, ist ein witziger Zufall. Interessanter ist, dass gewaltsame Proteste in Connewitz so alltäglich geworden sind, dass einige angesichts brennender Straßenbarrikaden denken, das Leben ginge einfach so weiter.

Connewitz ist von Hunderten Polizisten aus ganz Deutschland umstellt – und ein Mann denkt, er fährt jetzt seine Pizza aus.

Der 3. Juni – von linken Kreisen als „Tag X“ beschworen – hatte schon viel früher begonnen. Vielleicht am Dienstag, als langsam durchsickerte, dass eine Demonstration auf der Wolfgang-Heinze-Straße wohl verboten wird. Das Urteil gegen Lina E. war da noch nicht gesprochen, dabei war es der Anlass für den „Tag X“: Vom „größten staatlichen Angriff auf Strukturen der radikalen Linken“ seit Jahrzehnten war die Rede. Die geplante Antwort: ein „deutliches militantes Zeichen“.

Mittwoch, Dresdner Oberlandesgericht. Lina E. wird verurteilt, zu mehr als fünf Jahren, aber vorerst wegen einer Rheumaerkrankung freigelassen. In Leipzig organisierte unterdessen der Grünen-Stadtrat Jürgen Kasek eine neue Demo am Kant-Gymnasium, Titel: „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“. Wer wollte, konnte in der Kasek-Demo eine Ausweichstrategie für den verbotenen Connewitz-Aufmarsch sehen.

Stadt sieht „die öffentliche Sicherheit“ bedroht

Und so kam es auch. Der Connewitzer „Tag X“ wurde am Donnerstag verboten. Die Stadt begründete, es sei „die öffentliche Sicherheit“ bedroht. Eine „unfriedliche Versammlung“ sei nicht vom Grundgesetz geschützt. Die Anmelder hatten angekündigt, sie wollten „autonomen Antifaschismus verteidigen“. Oberverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht bestätigten das Verbot.

Am Freitagabend dann die Ouvertüre. In der Bornaischen Straße liegen brennende Plastikteile einer Baustelle auf der Straße. Wasserwerfer rücken in den linken Stadtteil vor. Steine und Flaschen fliegen. Polizisten rücken mit Helmen und Schildern ausgestattet vor. Irgendwo hat jemand eine Box aufgestellt, Techno dröhnt, Menschen tanzen. Der ganz normale Wahnsinn.

Doch am späten Samstagnachmittag scheint alles friedlich. Auf der Wiese des Alexis-Schumann-Platzes sitzen kleine Grüppchen zusammen. Doch es gibt auch Hektik. Ordner laufen umher und versuchen, weitere Freiwillige zu rekrutieren – denn 25 sind für die 700 Teilnehmer zu wenig. Und bereits jetzt treffen sich in den Seitenstraßen einzelne Grüppchen, die sich Schlauchschals über Mund und Nase ziehen.

„Vermummt euch!“ – „Entmummt euch!“

„Vermummt euch!“, flüstern sie einzelnen Passanten im Vorbeigehen zu. „Entmummt euch!“, bittet Versammlungsleiter Jürgen Kasek per Lautsprecherdurchsage. Eher könne man nicht loslaufen.

Inzwischen haben sich 1500 Menschen im Park und auf der Straße versammelt. Weit mehr als angemeldet. Eine Entscheidung fällt: Die Demo darf nicht loslaufen. Erste Steine werden gesammelt. Die Polizei kündigt Zwangsmaßnahmen an: „Schaulustige“ mögen sich von „Störern“ distanzieren.

Schließlich bricht eine Gruppe Vermummter in Richtung Scharnhorststraße aus. Es fliegen Böller, rote Rauchschwaden ziehen über den Leipziger Süden hinweg. Polizisten drängen die Menschen zurück. Irgendwo an der HTWK stehen vier Wasserwerfer und ein Räumpanzer im Stau: Ein Münchner Polizist hat mit seinem Wagen versehentlich die Straße blockiert. Die schweren Fahrzeuge passieren übers Gleisbett, greifen den schwarzen Block an.

Die Leipzigerin Lisa war bei der Urteilsverkündung am Mittwoch auch schon dabei mit „Free Lina“-Socken – Soli-Merch, deren Erlös zum Teil den verurteilten Linksextremen um Lina E. zugutekommt. „Es wird viel zu wenig gegen Rechts getan“, sagt sie. Rechtsextreme könnten in Sachsen unwidersprochen agieren. „Jeder weiß das, aber keiner tut was.“ Das Urteil gegen Lina E. findet sie ungerechtfertigt. „Im Kampf gegen Faschismus ist Gewalt ein Mittel“, sagt sie. „Zumindest dann, wenn alle demokratischen Mittel ausgeschöpft sind.“

Es gibt in Leipzig, auch in Connewitz, viele, die das anders sehen. Die den Rechtsextremismus bekämpfen wollen – aber mit demokratischen Mitteln. Sebastian Menchen, 57 Jahre, ist Architekt und beobachtet das Geschehen etwas abseits auf seinem Fahrrad. „Ich hoffe, dass es ruhig bleibt und dass niemand zu Schaden kommt“, sagt er. Für den Protest hat er teilweise Verständnis. „Ich denke mir, dass es anders gekommen wäre, wenn die Polizei in Sachsen in den letzten zehn, fünfzehn Jahren mit derselben Vehemenz gegen Rechts ermittelt hätte, wie sie es gegen Links tut.“

30 Personen werden festgenommen

Über die Frage, warum schließlich alles eskalierte, wer die Schuld trägt, gehen wie immer die Meinungen auseinander. Noch bis zum Morgengrauen wird die Polizei Dutzende Menschen in der Südvorstadt umzingeln und identifizieren – nach einigen Berichten auch Minderjährige. In Connewitz wird es, wie am Abend zuvor, abermals Scharmützel geben. Zwei Dutzend Polizeibeamte wurden verletzt, zwei davon sind nicht mehr dienstfähig. 30 Personen werden festgenommen. Es wird Leipzig noch Tage beschäftigen, die Vorgänge aufzuarbeiten.

Letztlich steht ein etwas ratloser Jürgen Kasek auf der Karl-Liebknecht-Straße. „Es ist das eingetreten, was wir eigentlich verhindern wollten“, sagt er. „Durch die Entscheidung, uns nicht laufen zu lassen, wurde hier unnötig Druck aufgebaut.“ Man habe kaum Zeit gehabt, mit einzelnen Gruppen zu reden, Ordnung reinzubringen. Kasek sagt: „Es tut mir leid“.

Für Sonntagabend hatte das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ eine neue Versammlung angemeldet. Sie wurde am Mittag verboten.