Konfliktforscher zum „Tag X“: Eskalation ist nicht aufgrund der Polizeistrategie ausgeblieben

Straßenschlachten wie bei G20 einst in Hamburg oder regelmäßig in Frankreich waren am Wochenende in Leipzig nicht zu sehen. Im Vorfeld war dies allerdings befürchtet worden. Warum der „Tag X“ in Leipzig nahezu ausfiel, erklären die Konfliktforscher Nele Hellweg und Andre Schmidt im LVZ-Interview.

Leipzig. Der von Linksradikalen ausgerufene „Tag X“ am vergangenen Samstag in Leipzig ist weitaus glimpflicher abgelaufen als befürchtet. Straßenschlachten und anhaltende Randale gab es nicht, auch vom angekündigten „großen schwarzen Block“ der autonomen Szene und anreisenden ausländischen Aktivisten kann keine Rede sein. Behörden machen dafür das enorme Aufgebot an Polizei im Stadtgebiet verantwortlich. Die Konflikt-Forscher Nele Hellweg (31) und Andre Schmidt (33) vom Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Uni Leipzig machen eher andere Gründe verantwortlich.

Wie sehen Sie die Ereignisse am Wochenende in Leipzig?

Andre Schmidt: Im Vorfeld wurde ein großes Schreckensszenario an die Wand gemalt, von G20 in Hamburg oder französischen Verhältnissen war die Rede. Tatsächlich hat es seit G20 2017 eine gewisse Routine, im Zusammenhang mit linken Demos Schreckensszenarien heraufzubeschwören – ich kann mich etwa an eine Antifa-Demo in Wurzen erinnern, bei der deshalb SEK-Beamte mit Maschinenpistolen auf wenige Hundert Demonstranten warteten. Es gab an diesem Wochenende in Leipzig natürlich auch Auseinandersetzungen – aber bei Weitem nicht die Gewalteskalation, die erwartet wurden.

„Der Einsatz von Kesseln führt oft zur Eskalation“

Die Polizei macht vor allem die eigene, sehr massive Präsenz dafür verantwortlich.

Nele Hellweg: Wenn wir G20 als Vergleich heranziehen, gab es diese Präsenz dort so ja auch. Allerdings hat diese Strategie der Stärke – also ein massiver Einsatz von Personal und Technik – damals überhaupt nicht funktioniert. Ganz im Gegenteil hat sie 2017 zur Eskalation beigetragen. Mich hat tatsächlich am Wochenende in Leipzig überrascht, dass die viele Polizei und aufgefahrene Technik nicht noch weiter zur Eskalation beigetragen haben. Eine polizeiliche Machtdemonstration wird in der Regel als Einladung zu einer Kraftprobe wahrgenommen.

Andre Schmidt: Offensichtlich ist es Polizei und Verwaltung mit einer repressiven Linie gelungen, den Wirkungskreis der Proteste und auch das Spektrum der Teilnehmenden zu beschränken. Demokratiepolitisch geht das allerdings mit Kollateralschäden einher, wenn die Versammlungsfreiheit dafür massiv eingeschränkt wird. Wir müssen fragen, ob sich der Erfolg eines Protestwochenendes vorrangig an sicherheitspolitischen Kriterien misst. Zudem ist es schlicht nicht vorhersehbar, ob eine repressive Linie Gewaltpotenzial eindämmt oder nicht vielmehr das Gegenteil bewirkt. Gerade der Versuch, eine Demo örtlich zu binden und durch den Einsatz von Polizeikesseln „gute“ von „schlechten“ Demonstrierenden zu trennen, führt oft erst recht zur Eskalation. Bei der „Welcome To Hell“-Demo 2017 in Hamburg war das der Auftakt der Gewalteskalation. Dazu ist es in Leipzig nicht gekommen. Wir müssen fragen, wie realitätsnah die heraufbeschworenen Szenarien im Vorhinein waren? Die Gründe für die ausgebliebene Eskalation sehe ich nicht vorrangig in der polizeilichen Machtdemonstration.

Wo sonst? Hat die Mobilisierung nicht geklappt, ist der angekündigte „Black Block“ einfach zu Hause geblieben?

Nele Hellweg: In Leipzig konnte vor allem in der autonomen Szene und unter Bewegungslinken mobilisiert werden. Bei den Ausschreitungen zu G20 war das Spektrum deutlich breiter und heterogener. Aus meiner Sicht kam es in Leipzig auch wegen der Kurzfristigkeit kaum zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Lange war der Tag der Urteilsverkündung unklar, und das Verbot für die Demo am Samstag erfolgte wenige Tage vor dem Protest. Die Kurzfristigkeit ermöglichte es kaum, die Verbote breit zu skandalisieren und dagegen zu mobilisieren. Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit hätte sicherlich auch ein bürgerlicheres Spektrum angezogen. Diese Konflikte konnten am Wochenende noch gar nicht ausgehandelt werden. Ich bin nun aber gespannt, was diesbezüglich im Nachhinein noch passiert.

„Ereignisse vom Wochenende werden weiterwirken“

Zumindest für Lina E. gab es ja im Vorfeld enorme Solidarisierung in weiten Teilen der Gesellschaft.

Andre Schmidt: Diese Solidarisierung scheint mir komplexer. Die Menschen sympathisieren weniger mit dem militanten Antifaschismus, den die Demonstrierenden in den Mittelpunkt ihrer Außendarstellung gerückt haben. Stattdessen geht es oft eher um ein Unbehagen mit dem Prozess und der Verhältnismäßigkeit des Urteils. Viele Menschen in Leipzig und Deutschland teilen den Eindruck, dass Justiz und Behörden gegen Linke scharf vorgehen – während rechtsextreme Gewalt milde oder gar nicht bestraft wird. Obwohl gerade auch Sachsen damit vielfach zu tun hat. Dazu kommt, dass viele die Aussetzung der Versammlungsfreiheit am Wochenende sehr kritisch sehen, dies aber noch zu kurz wirken konnte. Es wurden in Leipzig sicherheitspolitische Erwägungen über demokratiepolitische gestellt. Wir wissen aus unseren Forschungen, dass Ereignisse wie jene vom Wochenende in einer Stadtgesellschaft weiterwirken.

In den Gefahrenprognosen wurde der militante Antifaschismus hervorgehoben. Gab es diese Zuspitzung bei der Mobilisierung tatsächlich auch?

Andre Schmidt: Zu autonomer Politik gehört die Zurschaustellung von Militanz dazu – auch dass man sich selbst vielleicht stärker darstellt, als man in Wirklichkeit ist. Die kolportierte Behauptung, dass es eine Million Sachschaden pro Urteilsjahr geben werde, ist ein Beispiel. Wir haben allerdings im Vorfeld in den Aufrufen auch eine weitaus differenziertere Auseinandersetzung wahrgenommen. So hat sich zum Beispiel das LinXXnet öffentlich gegen diesen martialischen Gestus mancher Protestierender positioniert. Aus meiner Sicht muss man schon auch fragen: Wer trägt im Vorfeld wie zur Eskalation bei? Der Staat, der über massive Macht und Gewaltmittel verfügt und auch die Aufgabe hat, Versammlungsfreiheit zu garantieren, sollte meines Erachtens besonnen reagieren. Auf eine Drohgebärde mit einer noch größeren zu antworten, gehört nicht dazu. Damit wird die Eskalationsspirale weiter angefacht.

Zu den Personen

Nele Hellweg und Andre Schmidt sind Mitarbeiter des Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung Sachsen an der Uni Leipzig, das bundesweit vor allem durch seine regelmäßigen Autoritarismus-Studien bekannt geworden ist. Beide Wissenschaftler forschen seit den Ausschreitungen während der G20-Proteste im Juli 2017 in Hamburg vor allem zu sozialen Konflikten, Protesten und Gewalt im öffentlichen Raum.

Brüche in der Zivilgesellschaft möglich

Wie bewerten sie die Situation mit Blick auf künftige Versammlungen in Leipzig?

Nele Hellweg: Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit wird wohl noch ein Thema bleiben – nicht nur in Leipzig. Es gab am vergangenen Wochenende praktisch keine Möglichkeit, den Protest auf die Straße zu tragen und sich politisch zu äußern, das hat demokratiepolitische Konsequenzen. In unserer Forschung zu den Auswirkungen von dem G20-Gipfel haben wir gesehen, dass genau so etwas zu Brüchen führt, Spuren in der Zivilgesellschaft hinterlässt und Verwaltung, Politik und Polizei an Legitimität verlieren.

Andre Schmidt: Es wird innerhalb des autonomen Spektrums sicher sehr unterschiedliche Bewertungen des Wochenendes geben. Es mag Menschen geben, die resigniert und desillusioniert reagieren, aber auch welche, die es antagonistisch als Erfolg werten. Ich glaube nicht, dass bei zukünftigen Anlässen nicht mehr nach Leipzig mobilisiert wird, nur, weil die Polizei am Samstag die Menschen so lange eingekesselt hat. Dafür sind Leipzig und Connewitz in der Szene auch als Symbol für antifaschistischen Widerstand zu wichtig. Für die Stadt besonders relevant dürfte dabei werden, wie künftig über die Verhältnismäßigkeit des Urteils und Repressionen gegen Antifaschistinnen sowie die Frage der Versammlungsfreiheit öffentlich verhandelt wird.