Anwalt fordert Freispruch für Lina E. in mehreren Fällen
Die Ermittlungen einseitig, die Bundesanwaltschaft gar nicht zuständig, das Gericht desinteressiert: Im Prozess um mutmaßlich linksextreme Attacken auf Neonazis hat ein Anwalt von Lina E. sein Plädoyer begonnen – mit heftiger Kritik an Polizei und Justiz.
Was wäre, wenn es schlicht stimmen würde, was der mutmaßlich linksextremen Bande um die Leipziger Studentin Lina E. vorgeworfen wird? Wenn das Ergebnis von fast 100 Verhandlungstagen vor dem Oberlandesgericht Dresden, das Ende allen Streits um Beweismittel, um Verrat und um die Redlichkeit von Neonazis wäre: Ja, genau so war es – Lina E. hat zusammen mit anderen Linksextremisten vermeintliche und tatsächliche Neonazis ausgespäht und überfallen?
Auf dieses Gedankenexperiment lässt sich Ulrich von Klinggräff, einer der Anwälte der 28 Jahre alten Lina E., in seinem Plädoyer am Mittwoch für einen Moment ein. „Wenn man von der Täterschaft der Angeklagten überzeugt ist“, sagte er, „könnte man es als strafmildernd anerkennen, dass es ihnen nicht um Eigennutz ging, sondern darum, die faschistische Gefahr zu bekämpfen.“
Seit September 2021 wird in Dresden gegen Lina E. und drei Männer verhandelt. Sechsmal sollen sie in Sachsen und Thüringen Neonazis oder Menschen, die sie dafür hielten, überfallen und teilweise schwer verletzt haben. Ihnen wird neben gefährlicher Körperverletzung die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Aus der linken Szene bekommen die Angeklagten beständig Unterstützung – und weit über die radikale Linke hinaus schwingt in diesem Fall der Gedanke mit: Die Nazis, die haben es doch verdient.
„Naziterror“ in Eisenach
Darum, auch das sagt Rechtsanwalt Ulrich Klinggräff in seinem Plädoyer, gehe es ihm nicht. Es gehe auch keinesfalls darum, Gewalt zu rechtfertigen. „Es geht um den Vorwurf, die Angeklagten hätten mit den mutmaßlichen Taten den demokratischen Meinungskampf verlassen“, sagte er. So hatte der Generalbundesanwalt von Anfang an begründet, warum er das Verfahren an sich gezogen hat – und die zuständige Staatsanwältin hat diese Sichtweise in ihrem Plädoyer vor drei Wochen wiederholt.
Für Anwalt Klinggräff verkennt diese Auffassung die tatsächlichen Verhältnisse im Land. „Einen friedlichen Meinungskampf hat es in Eisenach nie gegeben”, sagte er und sprach von „Naziterror“ in der Thüringer Stadt. Die mutmaßliche Gruppe um Lina E. soll den rechtsextremen Kneipenwirt Leon R. aus Eisenach zweimal attackiert haben. R. sitzt inzwischen selbst in Haft, er soll der Kopf einer gewalttätigen rechtsextremen Kampfsportgruppe mit Kontakten zu Neonazi-Terroristen sein.
Anwalt Ulrich von Klinggräff wiederholte seine Kritik, beim Fall Lina E. handele es sich um ein politisches Verfahren. Er kritisierte eine gefährliche und politisch motivierte Gleichsetzung von rechter und linker Gewalt durch den Generalbundesanwalt. „In Zeiten der Morde des NSU, der Taten von Hanau und Halle von einer gefährlichen Spirale der Gewalt zwischen links und rechts zu sprechen, zeugt von atemberaubender Ignoranz“, sagte Klinggräff. Auch das Gericht sei zu unkritisch mit den Ermittlungsergebnissen umgegangen, habe sich bei Kritik der Verteidigung stets schützend vor Polizei und Bundesanwaltschaft gestellt.
Anwalt fordert Freispruch für Lina E. in vier Fällen
Konkret ging Klinggräff in seinem Plädoyer auf mehrere Fälle ein – unter anderem auf den einen, der herausragt aus den zur Rede stehenden Attacken: 2019 war in Connewitz ein Kanalarbeiter angegriffen worden – weil er die Mütze eines bei Rechtsextremen beliebten Labels trug. „Das ist auch nach unserer Auffassung der schwerste der vorgeworfenen Fälle“, sagte Klinggräff – nicht nur wegen der Verletzungen des Mannes, sondern auch, weil das Opfer schon lange nichts mehr mit der rechten Szene zu tun gehabt habe.
Klinggräff hält es aber für nicht belegt, dass Lina E. an der Attacke beteiligt war. Die Bundesanwaltschaft interpretiere abgehörte Gespräche falsch und ziehe sogar die kurze Distanz zwischen dem Tatort in Connewitz und der Wohnung von Lina E. als stichhaltigen Beweis heran. Seiner Auffassung nach ist Lina E. in diesem Fall freizusprechen – ebenso wie in drei weiteren Fällen: für den Angriff auf einen Wurzener Neonazi, für den auf die Eisenacher Neonazi-Kneipe von Leon R. und für eine Attacke am Bahnhof Wurzen.
In keinem dieser Fälle gebe es einen stichhaltigen Beweis für eine Beteiligung von Lina E. – und überhaupt: Insgesamt falle die Forderung der Bundesanwaltschaft von acht Jahren Haft für Lina E. „massiv aus dem Rahmen“, sagte Klinggräff.
Die Verteidigung von Lina E. will ihr Plädoyer am Mittwoch fortsetzen, weitere Vorträge von Verteidigerinnen und Verteidigern der anderen Angeklagten sind geplant. Das Urteil in dem Fall wird für den 10. Mai erwartet.