„Die Beamten sind einander ausgeliefert“ – Nach Rassismusvorfall bei der Polizei in Sachsen: Wie steht es um die Prävention?

Ein jüngster Vorfall in Dresden zeugt wieder von Rassismus im Polizeialltag. Doch Sachsen ist wenig interessiert an Anti-Rassismus-Schulungen. „Sachsen hätte es nötig, Rassismus in den eigenen Reihen zu thematisieren, hat aber offenkundig kein Interesse“, sagt der Kriminologe Thomas Feltes.

Ein Anruf einer Zeugin: eine Schlägerei, einer der Beteiligten hat ein Messer gezogen. Die Polizistin am Telefon fragt: „Wie viele Menschen sind beteiligt?“ Und dann, immer wieder: „Wer prügelt sich denn da, Deutsche oder Ausländer?“ Unsere Autorin Linde Gläser hat diesen Vorfall von Weihnachten 2022 in Dresden detailliert geschildert. Die hiesige Polizeidirektion will den Vorfall „kritisch auswerten“. Dass dieser Vorfall kein Einzelfall ist, zeigen Zwischenergebnisse einer Polizeistudie, die in der vergangenen Woche vorgestellt wurden. Es gebe „mehr als nur Einzelfälle, bei denen die individuelle Einstellung kaum mit den Leitbildern der Polizei in Einklang zu bringen“ sei, heißt es in dem Bericht.

Doch wie kann die Polizei verhindern, dass es überhaupt zu rassistischen Äußerungen oder gar Polizeigewalt kommen kann? Eine Möglichkeit wären grundsätzlich Fortbildungen zu Rassismus und Antisemitismus. In Sachsen haben laut dem Mediendienst Integration 2021 drei Menschen die einzige Fortbildung des Jahres zu dem Thema besucht. Module in der Ausbildung sind, Stand August 2022, überhaupt nicht vorgesehen. Eine Antwort auf eine Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) zu aktuellen Zahlen steht noch aus.

Zwei-Tage-Workshops reichen nicht

Doch Thomas Feltes, bis 2019 Professor für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum, bezweifelt den Erfolg solcher Fortbildungen. „Wenn ich als Beamter mich irgendwo in einen Raum setze und mich zwei Tage lang berieseln lasse, bringen diese Fortbildungen nichts“, sagt er im Gespräch mit dem RND. Dazu komme, dass die Fortbildungen in der Regel freiwillig seien – und da sie nicht mit konkreten Neuerungen im Polizeialltag wie EDV- oder Waffensystemen zu tun haben, unbeliebt seien.

Feltes plädiert für eine andere Form der Prävention, die folgende Prämisse hat: Jeder Vorgesetzter oder jede Vorgesetzte kenne das Revier und die Mitarbeitenden. Er oder sie wisse genau um die politische Einstellungen der Beamtinnen und Beamten. Deshalb müsse ein Gespräch vor Ort stattfinden, denn es mache einen Unterschied, ob ein Revier in einem sozialen Brennpunkt liege oder auf dem Land. Doch das reiche nicht: Das Gespräch müsse unter Anleitung stattfinden. „Polizeigewalt, auch übermäßige Polizeigewalt geht einher mit der politischen Einstellung. Genau da müssen Fortbildungen direkt vor Ort ansetzen – mit Supervision durch Psychologen oder Sozialpädagogen“, erklärt Feltes. „Die Mehrheit der Polizisten ist nicht rassistisch, sodass ein Gespräch unter Anleitung kontrovers geführt werden kann.“

Doch sei diese Form der Weiterbildung direkt in den Revieren nicht nachgefragt – „da würde es ja ans Eingemachte gehen.“ Nur in Bremen gäbe es ein derartiges Projekt. „Die Bundesländer, die es am nötigsten hätten, haben aber offenkundig kein Interesse, Rassismus in den eigenen Reihen zu thematisieren. Sachsen ist eines dieser Bundesländer“, sagt Feltes deutlich. Und er sieht die Politik ganz klar am Zug: „Wenn man sieht, was in den letzten zwei, drei Jahren in Sachsen bei der Polizei vorgefallen ist, sieht man, dass es ein deutliches Problem hat. Das Ministerium hätte längst Maßnahmen ergreifen müssen.“

Die Politik müsse bei der Bekämpfung von Rassismus in der Polizei einen ethisch-moralischen Ansatz verfolgen, der von oben nach unten Klarheit verschaffe. „Sie darf bei dem Thema nicht im Ungefähren bleiben“ – und dies gilt nicht nur für Sachsen.

Ein blinder Fleck?

Doch was hindert die Polizei, den Blick nach innen zu richten? „Die Polizei möchte nicht dahin schauen, wo es wehtut, weil sie eine geschlossene Gesellschaft ist, eine Subkultur. Die Beamten sind auf Gedeih und Verderb einander ausgeliefert.“ Das führe zu einem Grundsatz: Der Betrieb muss ohne größere mediale Wahrnehmung laufen. Über das eigene Handeln nachzudenken, Veränderungen oder kritisches Nachdenken könnte das gefährden.“ Weiterhin gebe es klare Akteure, die eine neue Handhabung der Aufarbeitungen verhindern wollten: „Die Polizeigewerkschaften blockieren Veränderungen, aber auch die Politik hat Angst, dass ihnen Veränderungen auf die Füße fallen könnten“, erklärt Feltes, der seit 50 Jahren in diesem Bereich forscht.

Über die politische Einstellungen der Beamtinnen und Beamten bei der Polizei gibt auch die neue Studie Auskunft. Politisch ordnen sich demnach die meisten in einer Links-rechts-Skala mittig ein, mit einer Tendenz nach rechts. Doch der erfahrene Kriminologe Thomas Feltes ist skeptisch, was die Aussagekraft der Studie betrifft: „Nur 17 Prozent der Befragten haben auf die Fragen geantwortet. Wer sind die anderen 83 Prozent? Das macht für mich die Ergebnisse der Studie überhaupt nicht aussagekräftig.“ Er geht davon aus, dass sich deutlich rechts positionierende Beamtinnen und Beamte nicht auf die Umfrage reagiert haben. Außerdem sei die Wahl der Methode auch besonders kritisch, sonst antworteten die Befragten nur das, was sowieso gewünscht sei – eben eine Positionierung in der Mitte.

Appell: mehr Zivilcourage bei der Polizei

Doch das Umfeld, das wegschaut und nichts sagt, sei das Hauptproblem. „Wenn ein Polizist im Dienst gewalttätig wird, gibt es immer fünf andere und den Vorgesetzten, die daneben stehen und nichts tun“, so Feltes. Er appelliert an alle Angehörige der Polizei: „Mir fehlt die Zivilcourage, auf unterer und mittlerer Ebene, ebenso wie bei den Leitungsfunktionen. Der Skandal ist nicht, dass es Rechtsextremismus gibt, sondern, dass nichts dagegen getan wird.“ Ihm könne keiner erzählen, dass Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzte nichts von rechtsextremen Chatgruppen wüssten. Doch werde während der langen Schichten bei der Polizei wie bei einem Kaffeekränzchen geredet.

In den vergangenen Jahren kommen in den Medien immer wieder Berichte über rassistische Vorfälle bei der Polizei auf. Im September 2022 beleidigte ein Beamter während eines Einsatzes bei einer syrischen Familie in Berlin die Ehefrau: „Das ist mein Land, du bist hier Gast.“ Währenddessen ist im Video zu hören, wie Kinder wimmern. „Geh in dein Schweineland zurück“, sagt ein Polizist in einem Video, das im Juni 2022 bei Tiktok verbreitet wurde und dessen Authentizität von den Behörden bestätigt wurde. In einem weiteren Fall soll sich ein Wachleiter im September 2022 gegenüber einem Mitarbeiter geäußert haben. Dies sind nur einige der Fälle aus den vergangenen Jahren – und häufig spielt auch deren Verbreitung über die soziale Medien eine große Rolle. Ist die Sensibilität für Rassismus bei der Polizei gestiegen? „In den letzten fünf Jahren ist die Sensibilität für Rassismus bei der Polizei und Polizeigewalt schon gestiegen – aber auch der Widerstand innerhalb der Polizei, diese Themen gegenüber Außenstehenden anzusprechen.“


Linde Gläser 11.04.2023 RND

„Wer prügelt sich denn da, Deutsche oder Ausländer?“ – ein verstörendes Gespräch mit der 110

Journalistin Linde Gläser von den „Dresdner Neuesten Nachrichten“ wird Zeugin einer Prügelei, die zu eskalieren droht. Sie ruft die Polizei – und wird mit einer irritierenden Frage konfrontiert, die sie noch lange danach beschäftigt.

Dresden. Weihnachten 2022, zwei Uhr morgens. Ich bin mit einigen Freunden auf dem Albertplatz in Dresden unterwegs, als dort zwei Gruppen junger Männer aufeinandertreffen – angetrunken, testosterongeladen, politisch entgegengesetzt einzuordnen. Es kommt zum Schlagabtausch, auf wüste Beschimpfungen folgen Faustschläge ins Gesicht. Als einer der Beteiligten plötzlich ein Messer in der Hand hat, wähle ich die 110.

Eine Disponentin der Notrufzentrale nimmt meinen Anruf entgegen. Sie fragt, wie viele Menschen am Geschehen beteiligt sind. Und dann: „Wer prügelt sich denn da, Deutsche oder Ausländer?“ Ich bin perplex. Woher soll ich das wissen? Warum ist das relevant? Ich kann – und will – die Frage nicht beantworten. Noch mehrmals drängt die Beamtin mich dazu. Als ich weiterhin keine Antwort gebe, legt sie auf. Wenig später sehe ich aus der Ferne, wie mindestens zehn Polizeiautos anrücken.

„Wir haben ja einen Grund, warum wir das fragen“

Das Erlebte beschäftigt mich noch eine Weile. Die Beamtin hat den Notruf beendet, ohne mich nach Verletzten zu fragen (es gibt dem Anschein nach einige Platzwunden und blaue Augen). Und ohne mir zu sagen, ob Einsatzkräfte im Anmarsch sind oder nicht. Stattdessen beharrte sie auf ihrer Frage. Und wurde mit jeder ausbleibenden Antwort ungehaltener. „Wir haben ja einen Grund, warum wir das fragen“, hat sie am Telefon gesagt. Der Grund will sich mir nicht so recht erschließen. Was wäre die Konsequenz einer Antwort? Eine schnellere, langsamere oder vielleicht sogar ausbleibende Reaktion? Weniger oder mehr Beamte beim Einsatz? Anderes Equipment?

Ich frage bei der Polizeidirektion Dresden an. Schnell stellt sich heraus, dass das Grübeln gar nicht nötig gewesen wäre: „Nach einer Auswertung des benannten Notrufes bleibt festzustellen, dass sich unsere Mitarbeiterin nicht korrekt verhalten hat“, lautet die Antwort. Ihre Fragen würden in keiner Weise dem Fragenkatalog der Notrufzentrale entsprechen, der eigentlich die üblichen W-Fragen enthalte. Auch ihre Gesprächsführung sei nicht professionell gewesen – weder die Art und Weise der Abfrage noch das unvermittelte Beenden des Telefonats.

Polizei will Vorfall „kritisch auswerten“

Die Mitarbeiter der Notrufzentrale seien zwar angehalten, Situationen zu ergründen, und müssten deshalb nach Anzahl der Beteiligten, nach Verletzten oder nach erkennbaren Waffen sowie einem Stimmungsbild am Ort des Geschehens fragen. „Zur Identifizierung von Tatverdächtigen, Opfern oder Zeugen ist es weiterhin notwendig, sich die Beteiligten beschreiben zu lassen. Eine Klassifizierung nach ,Deutschen‘ oder ,Ausländern‘ spielt dabei grundsätzlich keine Rolle“, stellt die Polizei klar.

Und kommt zu dem Schluss: „In Gänze zeigt sich die Bearbeitung des besagten Notrufs als nicht zufriedenstellend.“ Man werde das Thema mit der Mitarbeiterin kritisch auswerten und auch mit den anderen Beamtinnen und Beamten der Notrufzentrale besprechen.