„Flexibles Geflecht“ bis Budapest?
Die Beteiligung von Johann G. an Überfällen auf Neonazis in Ungarn könnte neue Informationen über linksextreme Strukturen liefern. Er gilt nach MDR-Informationen als Drahtzieher hinter Straftaten, die der Leipzigerin Lina E. zur Last gelegt werden.
Der Linksextremist Johann G. soll nach MDR-Recherchen an Angriffen auf Rechtsextremisten in Budapest im Februar beteiligt gewesen sein. Dies könnte den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse über linksextreme Strukturen und Organisationsformen bringen. Der Leipziger wird vom Bundeskriminalamt (BKA) als „linksextremistischer Gefährder“ eingestuft. Er soll an zahlreichen Überfällen und Angriffen auf Rechtsextremisten beteiligt gewesen sein, unter anderem auf den rechtsextremen Wirt einer Szenekneipe in Eisenach.
In Ungarn waren Anfang Februar am Rande des rechtsextremen „Tag der Ehre“ mehrere Rechtsextremisten teils schwer verletzt worden. Mindestens sieben deutsche Staatsbürger sollen sich an den Taten beteiligt haben. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden ließ deswegen Mitte März mehrere Wohnungen in Jena und Leipzig durchsuchen.
Verbindungen zum Dresdner Lina-E.-Prozess
Johann G. ist der Verlobte von Lina E. Die Leipzigerin steht derzeit mit drei weiteren Angeklagten vor dem Dresdner Oberlandesgericht. Auch ihnen werden gewalttätige Angriffe auf Rechtsextremisten sowie die Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Last gelegt. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen insgesamt sieben gewalttätige Überfälle auf Rechtsextremisten vor. An den Taten waren teilweise bis zu 20 Personen beteiligt. Zahlreiche Ermittlungen laufen noch. Laut Bundesanwaltschaft gilt Johann G. als Drahtzieher hinter den Straftaten. Er steht somit im Verdacht, Rädelsführer der mutmaßlichen linksextremistischen kriminellen Vereinigung zu sein. Seit mehr als zwei Jahren befindet er sich auf der Flucht.
Nach MDR-Recherchen soll der Leipziger auch zu einem Kreis von mindestens elf Verdächtigen zählen, die in Budapest zugeschlagen haben sollen. Offiziell ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft Dresden derzeit gegen sieben deutsche Staatsbürger, die mehrheitlich aus Sachsen und Thüringen stammen. Darunter ist Tobias E. aus Berlin, der in Budapest in Untersuchungshaft sitzt.
Kronzeuge Johannes D.
Auch die mutmaßliche Beteiligung von Tobias E. an den Angriffen in Budapest führt den Ermittlungsbehörden Verbindungen zwischen den gewalttätigen Geschehnissen in Ungarn und dem Strafverfahren gegen Lina E. vor Augen. Denn so wie der mutmaßliche Drahtzieher Johann G. soll sich auch der Berliner Tobias E. im Jahr 2019 in Eisenach an einem gewalttätigen Angriff auf den rechtsextremen Kneipenwirt Leon R. beteiligt haben – wie auch Johannes D.: Der 30-Jährige ist deswegen vom Landgericht Meinigen bereits wegen gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung verurteilt worden. Dem Bundesamt für Verfassungsschutz hat er sich als Informant zur Verfügung gestellt. Derzeit befindet er sich im Zeugenschutzprogramm des sächsischen LKAs. Im Prozess gegen Lina E. hat er mehrfach als Kronzeuge ausgesagt.
Die Aussagen des Kronzeugen Johannes D. in dem Dresdner Strafprozess und beim der sächsischen LKA sind für die Ermittlungsbehörden von Bedeutung, weil Polizei und Verfassungsschutz im Bereich Linksextremismus – anders als beim Rechtsextremismus – nur wenig über Strukturen und Organisationsformen wissen. Im vergangenen Herbst im Dresdner Gerichtssaal wurde Kronzeuge D. an mehreren Verhandlungstagen zu solchen mutmaßlichen Strukturen befragt.
Dabei ging es auch um eine Aussage, die er beim LKA Sachsen gemacht hatte: „Meine Erfahrung im Bereich militanter Politik ist, dass eine Gruppe ein flexibles Geflecht ist“, sagte er in der Vernehmung. Vor Gericht sprach er in diesem Zusammenhang von „keinen Muss-Zusammensetzungen“. Dies bedeute, dass „man nicht immer mit den gleichen Leuten was unternimmt oder was macht.“ Als Beispiel nannte er den Überfall auf Leon R.: „In Eisenach waren Leute dabei, die ich vorher gar nicht kannte.“
Strukturen schwer durchschaubar
Kronzeuge Johannes D. zählt aus Ermittlersicht zum inneren Kreis der mutmaßlichen linksextremistischen kriminellen Vereinigung um Lina E. und Johann G. Wie schwierig es für die Sicherheitsbehörden ist, linksextreme Strukturen und Organisationsformen aufzuklären, zeigte während des Dresdner Strafprozesses auch die Aussage des LKA-Beamten, der Johannes D. vernommen hatte.
Vor Gericht sagte der Kriminalhauptkommissar: „Letztlich war das Problem für uns: Wir hatten uns nach der Vernehmung am Vortag besprochen und festgestellt, dass für uns diese Personenstruktur nicht greifbar ist.“ Johannes D. hatte in dieser Vernehmung zwar Namen potentieller Mittäter genannt – gegenüber dem Verfassungsschutz hatte er mindestens acht Personen mit Straftaten in Verbindung gebracht – wie diese Menschen aber zueinander standen oder miteinander agierten, blieb für die Polizisten unklar. Deswegen entwarfen die Vernehmer selbst ein dreiteiliges Schaubild.
LKA vermutet innere und äußere Kreise
Ihr Modell zeigte drei Kreise, in die sie Namen von Verdächtigen einsortiert hatten. Das Ziel: die „Aussagen in ein Modell zu bekommen, dass man das besser greifbar machen kann“. Und so findet sich im Zentrum des polizeilichen Schaubilds die in Leipzig verortete „Kerngruppe LE, die Organisatoren waren, die Anfragen verschickt haben, Trainings organisiert haben“.
In den mittleren Kreis sortierten die Polizisten „Personen, die öfter schon mit der Kerngruppe zusammengearbeitet haben. Leute, die nah dran sind.“ Der äußere Kreis speiste sich schließlich aus „Personen im Bundesgebiet“, die „man dazu hole, weil man die kennt“. Vor Gericht gab der Polizeibeamte an, das Schaubild Johannes D. vorgelegt zu haben. Dieser habe daran „nur Modifizierungen vorgenommen und korrigiert“, das Modell aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt.
Angeklagte sollen kriminelle Vereinigung bilden
Den Vorwurf gegen die vier Dresdner Angeklagten um die Verlobte von Johann G., Lina E., Mitglieder einer kriminellen Vereinigung zu sein, begründet die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift ausführlich. Darin ist die Rede von einem „in und um Leipzig bestehenden Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, der sich aus dem linksextremistischen militant-antifaschistischen Spektrum rekrutiert“. „Vereinigungszweck“ sei „die Planung und Begehung körperlicher Angriffe gegen den politischen Gegner oder jedenfalls die Beteiligung an solchen Taten“.
Um zu belegen, dass die Beschuldigten mehr als einen lockeren Zusammenschluss dargestellt und tatsächlich eine feste Vereinigung gebildet haben, führen die Bundesanwälte zahlreiche Argumente an. So gehen die Ankläger etwa von einem „durchgängigen Bestehen“ der Gruppierung seit 2018 aus, weil in diesem Jahr der erste Überfall stattgefunden hatte. Zudem soll es eine Art „Rollenverteilung in Grundzügen“ gegeben haben. Dabei sollen Lina E. und Johann G. eine „herausgehobene Stellung“ innegehabt haben. Die anderen sollen für die „Aktionstelefone“, „Späh- und Wachfunktionen“ oder „aufgrund von Physis und Erfahrungen als Kampfsportler“ für die „unmittelbaren Tatausführung“ zuständig gewesen sein.
Dazu kommt laut Bundesanwaltschaft ein hohes Maß an „Konspiration und Abschottung nach Außen“. Laut Anklageschrift zeichneten sich die Tatorte durch das „auffällige Fehlen kriminaltechnisch verwertbarer Spuren“ aus, „was auf nachhaltige, unter den Tatbeteiligten abgestimmte Vorsichts- und Schutzmaßnahmen“ hindeute. Für die Ankläger sind solche mutmaßlichen Belege von zentraler Bedeutung, damit ihre Vorwürfe vor Gericht Bestand haben.
Noch viele Fragen offen
Das Prinzip des „flexiblen Geflechts“ könnte bei den Angriffen in Budapest eine Rolle gespielt haben. Wie lange vor der Tat kannten sich die Verdächtigen untereinander? Haben sie sich teilweise erst in der ungarischen Hauptstadt kennengelernt? Wie spontan war ihr Zusammenschluss? Gab es Wortführer und Mitläufer?
Auffällig ist, wie unterschiedlich die Verdächtigen sind. Tobias E. und Johann G. sind routinierte Aktivisten. Beide gelten als gewaltaffin. Immer wieder waren sie in Attacken auf extreme Rechte verwickelt – so wie Johann G. bereits im Jahr 2015 bei einem Angriff auf „Legida“-Demonstranten in Leipzig. Tobias E. ist mit 29 Jahren in etwa so alt wie Johann G. Merklich jünger sind dagegen die flüchtigen Moritz S. (21) aus Leipzig, die Hamburgerin Clara W. (22) und Emilie D. (21) aus Weimar. Gegen sie wurde bis vor der Tat in Budapest noch nicht wegen Gewaltdelikten ermittelt.