Kritisches Denken und autonome Politik

Klimawandel, die Situation an den EU-Außengrenzen, Verdrängung, Ausbeutung, Krieg; Probleme gibt es genug – und damit auch mehr als genug Gründe gegen diejenigen zu stellen, die dafür die Verantwortung tragen. Aber: Das Problem sind nicht nur einzelne Politiker:innen, sondern das Problem ist der Staat, in der die Einzelnen ihre Position einnehmen. Das bedeutet, dass nicht einzelne schlechte Politiker:innen bekämpft werden müssen, sondern das System. An die Stelle des Bestehenden muss etwas Neues treten und es gibt einige Bewegungen, die hierfür kämpfen.

Eine der Bewegungen, die sich für eine gute Zukunft für Alle und ein freies und selbstbestimmtes Leben einsetzt, sind die „Autonomen“. In ihren sehr unterschiedlichen Ausprägungen eint unsere Bewegung, dass sie sich unabhängig von bürgerlichen Parteien, sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften oder anderen dogmatischen Gruppierungen organisiert. Die zukünftig angestrebte Autonomie wird also schon im Organisationsansatz versucht vorwegzunehmen und folgt der Einsicht, dass sich eben jene Struktur, die es zu bekämpfen gilt, in Parteien, Gewerkschaften und ähnliche Gruppierungen hinein fortsetzt. Sie sind damit für unsere Kämpfe ganz ungeeignet, denn sie tragen in sich das Problem, dass sie vor allem dafür taugen, dass falsche Bestehende zu modernisieren und immer weiter fortzusetzen. Außerdem stehen diese Gruppierungen immer auf der Seite des Erlaubten und Konformen. Es ist jedoch abwegig, dass sich gegen das falsche Bestehende kämpfen, dass sich eine grundsätzliche Veränderung erwirken lässt, wenn wir unser Handeln am Erlaubten orientieren und mit dem Bestehenden konform gehen. Autonomie, dass heißt, dass wir unser Handeln nicht am Bestehenden und nicht am Erlaubten, sondern an uns selbst und unserem Wunsch nach Freiheit und einem guten Leben für Alle ausrichten.

Doch autonomes Handeln ist schwieriger umzusetzen, als es sich postulieren lässt. Gegen Konventionen, Regeln oder auch Gesetze zu verstoßen, ist nicht immer leicht, auch wenn es geboten ist. Und auch wenn es gelingt, heißt es nicht, dass es auf die Weise gelingt, wie es wünschenswert wäre. Überhaupt: aus Regelverstößen und gesetzeswidrigem Verhalten lässt sich keine allgemein gültige Formel ableiten, die fester Orientierungspunkt für autonomes Handeln sein könnte. Autonomes Handeln ist vielmehr etwas, dass sich erst durch eigene Praxis und deren Reflexion ergibt.

Analog hierzu verhält es sich mit autonomen Denken. Es ist mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert wie die autonome Praxis. Denn so wie das falsche Bestehende und die dazu gehörende Struktur erstarrt und verhärtet ist, wodurch das Leben der Menschen auf ein So-und-nicht-Anders festgelegt wird, ist in dieser gesellschaftlichen Struktur auch das Denken erstarrt und verhärtet. Dieses Denken legt ebenso fest, was gedacht werden darf und was nicht. Das betrifft zum einen die Inhalte des Denkens: Gesellschaftlich wird festgelegt, welche Themen behandelt werden und was für Positionen dazu akzeptabel sind. Es trifft zum anderen aber auch Festlegungen darüber, welche Formen und Ziele des Denkens abgelehnt werden und welche nicht.

Es ist nicht nur die politische Praxis, welche durch Einschränkungen in der Anpassung erstarrt. Sondern eben auch das Denken, welches in Form und Inhalt so organisiert ist, dass das Bestehende erhalten und gegen grundsätzliche Veränderungen abgedichtet wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine „Updates“ gibt und eine erstarrte Theorie und Praxis an ihr Ende gekommen wäre. Ganz im Gegenteil: Gerade um sich selbst zu erhalten, muss sich das Bestehende immer und immer wieder aktualisieren, und andererseits müssen Denkformen und Denkinhalte, die „gefährlich“ sind, aufgeweicht oder aussortiert werden. Einer autonomen Bewegung stellt sich also auch die Frage, wie sich im Denken orientiert werden kann. Autonomie heißt also, dass wir unser nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Denken nicht am Bestehenden und nicht am Erlaubten, sondern an uns selbst und unserem Wunsch nach Freiheit und einem guten Leben für Alle ausrichten.

So wie es in der jüngeren Geschichte zum Beispiel viele Auseinandersetzungen um die Akzeptanz und Sinnhaftigkeit der Illegalität im politischen Handeln gab, so wurde auch um die Konformität im Denken gerungen. Eine besonders folgenschwere Entwicklung in Bezug auf die Diskussion über richtige und falsche Denkformen und -inhalte fand ihren Ausdruck schließlich im sogenannten Positivismusstreit der 1960er Jahren. Und es wäre gar nichts dabei gewesen, wenn es sich hierbei nur um einen akademischen Streit im Elfenbeinturm in Wolkenkuckucksheim gehandelt hätte. Aber die Folgen des Positivismusstreits entfalteten sich in alle Bereiche der Gesellschaft. Da es sich um einen schleichenden Prozess handelte, der nicht unbedingt die Titelseiten der Tageszeitungen und Nachrichtensendungen ansprach, blieb diese umfassende Entfaltung eines sogenannten positivistischen Denkens nicht als ein Wendepunkt oder Bruch in Erinnerung. Dennoch sind die Folgen bis heute deutlich spürbar.

Was aber war der Positivismusstreit, welche Debatten mündeten in ihm und warum sollte diesem Streit auch aus einer autonomen Perspektive eine besondere Bedeutung beigemessen werden?

Im Grunde genommen ging es hier um einen Streit in den Sozialwissenschaften, also denjenigen Forschungsfeldern, die sich mit dem Menschen und seinem Zusammenleben beschäftigen. Es ging um die Frage, nach welchen Methoden die Sozialwissenschaften, als Wissenschaften von der Gesellschaft, zu betreiben seien. In der ersten Hälfte des 19. Jh. entwickelte sich die Soziologie so beispielsweise im Gedanken an eine soziale Physik. Im Zuge und Rausch des Fortschritts in den exakten Naturwissenschaften und damit einhergehenden technisch-industriellen Entwicklungen, setzte sich ein Denken durch, nach welchem Sozialwissenschaften im weitesten Sinne nach den Methoden der Naturwissenschaften zu betreiben seien. Das mag plausibel klingen, allerdings gibt es grundlegende Unterschiede zu den Naturwissenschaften: Zum einen sind die gesellschaftlichen Verhältnisse eben menschengemacht und deswegen gerade kein Naturverhältnis. Sie folgen keinen ahistorischen Gesetzmäßigkeiten, sondern sind vielmehr historisch gewachsene Strukturen.

Dass etwa, um ein einfaches Beispiel zu nehmen, Menschen aus wohlhabenden Haushalten bessere Schulabschlüsse machen als Menschen aus armen Haushalten, ist keine natürliche Begebenheit, sondern die Folge der falschen Verhältnisse und für diese ist der Mensch verantwortlich. Zum anderen gibt es gesellschaftlich keine so starren Gesetzmäßigkeiten, wie sie in der Natur vorherrschen. So existieren etwa in allen Gesellschaften der Erde unterschiedliche Gesetze, aber die Naturgesetze sind immer die Gleichen; der Mensch macht sich seine Gesetze selbst. Die Frage nach dem „Warum“ hinter Erscheinungen wie der ungleichen Verteilung des Wohlstandes und der Existenz verschiedener Rechtssysteme ist jedoch für eine naturwissenschaftliche Methode, die nur erfassen und so genau wie möglich darstellen will, nicht von Belang.

Die Naturwissenschaft operiert auf der Grundlage von äußeren Naturgesetzen, deren Auswirkungen und Zusammenhänge ergründet werden können. Allerdings folgt die Gesellschaft als Forschungs- und Erkenntnisfeld keinen ebenso einsehbaren, äußeren Naturgesetzen. Vielmehr kann es gerade als die Aufgabe der Geisteswissenschaften begriffen werden, diese gesellschaftlichen Entwicklungen oder die hinter den bloßen Erscheinungen liegende „Totalität“ kritisch zu ergründen um ihre Naturhaftigkeit so zu bestreiten und zu widerlegen. Ziel wäre dann, um beim ersten Beispiel zu bleiben, zu verstehen, warum der Wohlstand ungleich verteilt ist und eine Gesellschaft anzustreben, in der dies nicht so ist, anstatt lediglich zu erfassen, wie der Wohlstand verteilt ist und wenn überhaupt noch zu ergründen wie dieser technisch gut verteilt werden könnte. In dieser Unterscheidung werden zwei grundlegend unterschiedliche Denkformen über die bürgerliche Gesellschaft erkennbar. Neben einer kritischen Gesellschaftswissenschaft, welche nicht bloß beschreibt, sondern in der Tradition der großen Fragen nach Autonomie, Glück und Freiheit versucht zu verstehen, wie die Gesellschaft aufgebaut ist, warum sie so ist, wie sie ist und was daran falsch ist, hat sich zunehmend eine positivistisch genannte Theorie der Gesellschaft durchgesetzt. Diese begnügt sich damit zu beobachten und zu messen, um dann entsprechend der naturwissenschaftlichen Methode quantitative Ergebnisse wie detaillierte Wohlstandsberichte zu liefern, die sich an der messbaren Oberfläche des Bestehenden orientieren und dabei an diese anpassen. Dabei gelten die gesellschaftlichen Verhältnisse dem Positivismus als unerkennbar oder natürlich. Die positivistische Gesellschaftswissenschaft ist dann absurderweise eine, die keinen Begriff von der Gesellschaft hat.

Es ist zu erkennen, dass sich spätestens seit dem Positivismusstreit der 1960er Jahre in den Sozialwissenschaften, zu denen früher eben auch zahlreiche Schriften der kommunistischen und anarchistischen Bewegung gehörten, das positivistische, konformistische Denken und Verfahren durchgesetzt hat. Im Zuge des Positivismusstreits wurde sich wissenschaftlich so zugleich einer ganzen Reihe von ganz grundsätzlich gesellschaftskritischen Positionen entledigt. Da viele linksradikale Überlegungen und Kritiken nicht messbar sind, sondern die Grundlagen des vermeintlich Messbaren ergründen und über das Bestehende reflektieren wollen, wurden sie ins Reich der Fantasie und Literatur verbannt und damit als gesellschaftlich irrelevant gebrandmarkt. Die Folgen dürften allen bekannt sein: Wer etwa bei einer Familienfeier mal mit jemandem über grundsätzlich andere Gesellschaftsformen reden will, die ohne unsinnigen Arbeits- und ökonomischen Zwang auskommen oder nicht den Wettbewerb als Allheilmittel sehen, der dürfte das im besten Fall noch milde Lächeln kennen, mit dem die Unsinnigkeit des Gesagten dann abgetan wird.

Alles in allem ist das positivistische Denken das Denken, das zu den erstarrten bestehenden Verhältnissen passt. Es ist selber starr und verhärtet und feiert sich als rational und neutral, weil es sich an die naturwissenschaftlichen Methoden klammert. Ein Denken, dass den Menschen zum Ding, zum Naturgegenstand degradiert und ebenso die gesellschaftlichen Verhältnisse als ein Verhältnis zwischen Dingen betrachtet. Ein positivistisches Denken der Gesellschaft ist dann nicht mehr als Technokratie im Mantel der Wissenschaft.

Welchem Denken sich in dieser Zeit und ausgedrückt eben im Positivismusstreit entledigt wurde, lässt sich besonders am dialektische Denken aufzeigen. Zwar gab es gegen das dialektische Denken auch eine Reihe anderer Angriffe, was dann seine heutige Bedeutungslosigkeit zur Folge hatte; zudem ist es auch schon ohne äußere Anfeindung schwer zugänglich. Aber es befindet sich zum positivistischen Denken im größten Widerspruch. Damit ist schon etwas wesentliches über das dialektische Denken gesagt, denn überhaupt ist es ein Denken in Widersprüchen. Und dies nicht, weil Widerspruch so etwas Schönes ist, sondern weil die Welt, also das, worüber wir nachdenken, gar nicht eindeutig und abschließend fest bestimmbar oder messbar, sondern selbst widersprüchlich und durch die Zeit hindurch veränderlich ist. Um sich über die Welt Rechenschaft abzulegen und sich im Denken orientieren zu können, muss dieses (Nach-)Denken eine dementsprechende Form haben. Das haben wohl alle schon auf alltägliche Weise erlebt oder verspürt: Wenn etwa zwei Personen im Streit miteinander sind und wir hören uns erst die eine und dann die andere Position an, so können wir leicht beide Positionen nachvollziehbar finden und auch in sich „richtig“, aber sie stehen in einem unvermittelbaren Widerspruch zueinander. Es mag so scheinen als hätten beide irgendwie recht, oder eben keiner, und trotzdem behalten beide Positionen ihr eigenes „Recht“. Das dialektische Denken ist das Denken, dass beiden ihren Berechtigung lässt, ohne einem Recht zu geben; es ist das Denken, welches die Widersprüche aushalten und die Bewegung, die sich aus dem Widerspruch entfaltet, nachzeichnen kann.

Für eine Veränderung der Welt ist es wesentlich, die Welt zu verstehen und zwar so weit wie irgend möglich; das bedeutet aber ganz zentral, dass wir über Widersprüche nicht hinweggehen dürfen, denn damit würden wir versuchen, uns eine Welt zu denken, wie sie uns passt und eben nicht wie sie ist. Wer eine Welt so denken will, wie sie einem eben passt, der tritt aber immer auch in ein autoritäres Verhältnis gegenüber der Welt ein und wird damit viel mehr der Welt und dem Leben auf der Welt Unrecht tun, als dass er zur Befreiung etwas beiträgt. Das bedeutet eben auch: Damit unsere Angriffe im Kampf um eine freie Welt treffen, damit unsere Kämpfe keine Spiegelfechterei sind, müssen wir uns auch gegen das verhärtete und ein das Falsche beschützende Denken wenden. Autonomie ist auch ein Kampf um die Autonomie im Denken.

Wir wollen hierzu einen Beitrag leisten und uns deswegen gemeinsam mit der Dialektik als Denkform auseinandersetzen. Nicht nur, jedoch auch im Gegensatz zu seinem positivistischen Konterpart. Hierzu möchten wir zuerst einmal besondere Stationen der Geschichte des dialektischen Denkens nachvollziehen. Mit einem Einblick in ihr Werk möchten wir versuchen die Dialektik bei Hegel, Marx und Adorno nachzuvollziehen. Drei Autoren, die nicht nur einfach sehr prominent sind, sondern deren Denken auch das Leben von Millionen Menschen direkt oder indirekt mitgeprägt hat. Am Ende möchten wir dann noch in einem vierten Vortrag den Positivismusstreit genauer betrachten und sowohl die Entwicklungen zu, als auch die Folgen dieser Auseinandersetzung nachvollziehen.

Veranstaltungsreihe: Einführung in die Dialektik