„Deeskalation ist kein Allheilmittel“ – Sachsens Innenminister Schuster im Interview

Im LVZ-Interview erklärt Innenminister Armin Schuster (CDU) seine Strategie für den Leipziger Stadtteil Connewitz, die Vorbereitungen für die Energiekrise und Sachsens neue Pläne beim Brandschutz.

Leipzig. Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) ist nicht mal vier Monate im Amt – und hatte schon die ersten Krisen zu meistern. Erst unlängst hat er seinen Sommerurlaub wegen der Waldbrände abgebrochen. Im LVZ-Interview spricht Schuster über die neuen Herausforderungen für die Feuerwehr, aber auch über die Sicherheitslage in Leipzig und die Energie-Krise.

Herr Schuster, woran denken Sie zuerst, wenn Sie in Ihrem Amt als Innenminister nach Leipzig kommen: an die Friedliche Revolution, die Eisenbahnstraße oder Lina E.?

Weder an das eine noch das andere. Ich denke nicht an die Friedliche Revolution, weil das anmaßend wäre – ich war damals nicht dabei, ich bewundere es nur. Ich denke bei Leipzig an eine unglaubliche Hochleistungsregion: Leipzig ist eine Wirtschaftsmetropole.

Mit den Themen Eisenbahnstraße und Lina E. haben Sie dennoch in Ihrem Ressort derzeit häufig zu tun. Kürzlich wurde in der Eisenbahnstraße wieder eine Person angeschossen. Ist das für Sie ein Problemquartier?

Die Eisenbahnstraße ist mit dieser Form von offener Gewalt in Sachsen singulär, wir haben also noch gute Möglichkeiten. Deswegen bin ich froh, dass die Stadt und die Leipziger Polizei neue erfolgversprechende Wege gehen.

„Wir forcieren Präsenz und Kontrolldruck“

Sie meinen die Aufhebung der Waffenverbotszone?

Ja, das auch. Aber die Polizei bezieht nun wieder unmittelbar auf der Eisenbahnstraße Position mit einem Polizeiposten. Wir forcieren Präsenz, Kontrolldruck, aber auch den kooperativen Ansatz.

War die Waffenverbotszone ein Fehler?

Die Wirkung war nicht die, die man sich versprochen hat. Aber das Instrument auszuprobieren, war nicht falsch. Meinem Geschmack entspricht der neue Ansatz mehr.

Die Anwohner haben kritisiert, dass das Viertel stigmatisiert worden sei. Wie wollen Sie verhindern, dass der neue Polizeiposten ähnliche Gefühle hervorruft?

Ich habe noch nie erlebt, dass die Bevölkerung sich beklagt, wenn genügend sympathische Polizistinnen und Polizisten vor Ort sind. Auch in Connewitz wird der weit überwiegende Teil der Anwohner die Polizei mögen.

„Ich werde weiterhin vor Ort Gesicht zeigen“

Die Polizei hat in Connewitz nicht immer viel dafür getan, dass das Bild von einem Problemviertel beseitigt wird, sondern hat oftmals mit ihrem Auftreten dazu beigetragen.

Ich spreche beim Stadtteil „Connewitz“ prinzipiell nicht von einem Problem oder gar Problemviertel, dann würde ich ja alle Connewitzerinnen und Connewitzer verunglimpfen. Es ist völlig unangemessen, pauschal über ein ganzes Viertel und seine Menschen zu schimpfen.

Würden Sie auch durch den Stadtteil schlendern, wie der Ministerpräsident es dann und wann tut?

Ich kopiere jetzt nicht den Ministerpräsidenten. Aber ganz klar habe ich und werde ich auch weiterhin vor Ort Gesicht zeigen. Und wenn die Polizei sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag vor Ort ist, gibt es hoffentlich auch einen Hyposensibilisierungseffekt: Man lernt sich gegenseitig besser kennen. Das wird der Großteil der Connewitzer schätzen. Und der Teil, mit dem es Probleme gibt, wird davon auch nicht unbeeindruckt bleiben. Vielleicht können wir so auch Überreaktionen abbauen.

„Diese Bilder sind nicht nur schädlich für Leipzig“

Das Auftreten der Polizei wird aber durchaus als martialisch empfunden.

Der Leipziger Polizeipräsident René Demmler macht das richtig. Er schenkt Vertrauen und wartet auf die Reaktion. Wird das Vertrauen mit Vertrauen beantwortet, geht das Zug um Zug so weiter. Wird das Vertrauen enttäuscht, muss die Polizei umschalten. Das möchte ich auch so. Deeskalation ist kein Allheilmittel. Wenn es darauf ankommt, sind wir selbstverständlich bereit, unser gesamtes Repertoire einzusetzen. Unser Ziel bleibt aber, Vertrauen aufzubauen.

Das klingt nach „Auge um Auge“?

Nein. „Auge um Auge“ wäre ein hartes Prinzip außerhalb des Rechts. Mir geht es um ein gedeihliches Miteinander auf der Basis der geltenden Gesetze. Wenn das nicht auf Gegenliebe stößt, muss die Polizei konsequent agieren. Ich habe als Innenminister zuvorderst dafür zu sorgen, dass man unbescholtenen Bürgern nicht die Autos abbrennt, Läden plündert oder Barrikaden gebaut werden. Diese Bilder sind letztlich ja nicht nur schädlich für Leipzig.

„Wann kommt die Person, der Reden nicht mehr reicht?“

Sondern?

Auch für ganz Sachsen. Die Bilder von brennenden Autos, rechtsextremen Aufmärschen und Demonstrationen, bei denen Steine fliegen, beschädigen den Ruf eines wunderbaren Bundeslandes massiv. Wir müssen für Sachsen dieses weit verbreitete Label loswerden, dass hier rechte wie linke Extremisten ihr Unwesen treiben. Das ist meine Aufgabe. Und die können wir nur dann mit Deeskalation lösen, wenn das Gegenüber darauf überhaupt anspricht.

Ihre Amtsvorgänger haben befürchtet, dass eine linksextremistische Terrorzelle in Connewitz entstehen könnte. Teilen Sie diese Befürchtung?

Ich stelle mir anhaltend die Frage, wann der Linksextremismus die Grenze zum Terrorismus überschreitet. Nehmen Sie den Fall Lina E.: An den vergangenen Verhandlungstagen wurde vor dem Gericht und im Netz ein Zeuge brutal bedroht, letztlich wurde ihm ein Kopfschuss gewünscht, wenn nicht sogar angedroht. Da fragt man sich: Wann kommt die Person, der Reden nicht mehr reicht?

„Die Soko hat einen absoluten Treffer gelandet“

Der Verlobte von Lina E. ist unauffindbar: Er ist erfolgreich untergetaucht.

Wir reden vom mutmaßlich gewalttätigsten Mitglied der Gruppe. Er ist untergetaucht und wird bundesweit gesucht. Allein, dass die Bundesanwaltschaft das Verfahren führt, ist ein Indiz, um welche Dimensionen es hier geht. Aus den Erkenntnissen zum Fall Lina E. wird sich auch zeigen, wie nahe wir dem linksextremistischen Terror tatsächlich sind.

Teilen Sie die Kritik an der Arbeit der Sonderkommission Linksextremismus („Soko Linx“)? Ihr wird vorgeworfen, viel Aufwand zu betreiben, aber wenig Ergebnisse zu liefern.

Wir erhalten von den Sicherheitsbehörden aus Bund und Ländern viel Zuspruch, Interesse am Fall und Lob für die Arbeit der Soko wegen des Lina-E.-Prozesses – da kann die Arbeit des LKA wirklich nicht schlecht gewesen sein. Die Soko hat in einem schwer zugänglichen Phänomenbereich einen absoluten Treffer gelandet.

„Wir wollen den Böhmermann-Test selber machen“

Neben Linksextremismus ist auch der Rechtsextremismus in Sachsen ständiges Thema. Allein in den ersten sechs Monaten 2022 gab es wieder sechs rechtsextremistische Verdachtsfälle bei der Polizei. Sie haben betont, dass auch wegen solcher Fälle die Polizei ein neues Leitbild bräuchte. Was soll das bringen?

Mit dem Leitbild wollen wir drei Fragen beantworten: Wohin will die Polizei in den nächsten zehn Jahren? Wie bewerkstelligen wir das? Welches Selbstbild haben wir? Wir wollen damit klar formulieren, was geht – und was nicht.

Ist nicht klar, dass ein Polizist nicht rechtsextrem sein darf?

Doch. Aber mit einem Leitbild kann ich präziser führen. Daraus ergeben sich für uns ja auch strategische bis zu gesetzgeberischen Konsequenzen: Mache ich einen Verfassungstreue-Check vor der Einstellung? Was genau mache ich in der Aus- und Fortbildung zur Prävention?

Das ist immer noch abstrakt.

Machen wir es konkreter: Jan Böhmermann hat in seiner TV-Show gezeigt, dass auch in Sachsen Anzeigen gegen Hass im Netz unterschiedlich ernst genommen wurden. Ich will, dass wir so etwas, wie Herr Böhmermann es gemacht hat, demnächst als Polizei selbst bewerkstelligen. Damit Herr Böhmermann mit solchen Aktionen in Sachsen keinen Erfolg mehr hat, braucht es eine neue Verbindlichkeit. Es geht beim Leitbild auch um den eigenen Qualitätsanspruch und die Qualitätssicherung. Wir wollen den Böhmermann-Test künftig selbst machen und bestehen.

„Wir stellen uns auf verschiedene Szenarien ein“

Das Innenministerium ist am Krisenteam beteiligt, das den Freistaat auf die Gas-Situation im Herbst/Winter vorbereiten soll. Bisher hört man sehr wenig dazu. Was macht dieses Team denn?

Wir haben zwei Teams. Im Energieministerium gibt es ein Team, das sich mit der Energiemangellage beschäftigt. Daran ist das Innenministerium beteiligt. Entscheidender ist für mich der Vorbereitungsstab im Innenministerium: Der soll die Vorbereitungen für die Situation treffen, dass der Bund eine Energiemangellage nicht abwehren kann.

Auf was bereiten Sie sich vor?

Unser Job ist es, uns auf verschiedene Szenarien einzustellen. Es könnte vermehrt zu Versammlungen kommen, Priorisierungen bei unserer kritischen Infrastruktur notwendig werden, vielleicht müssen wir Aufenthaltsräume für die Menschen anbieten, die ihre Versorgung nicht mehr ausreichend sicherstellen können, und so weiter. Es gibt aber ein Problem.

„Uns erreichen kaum Informationen vom Bund“

Welches?

Uns erreichen kaum Daten und Informationen vom Bund. Vom Corona-Krisenmanagement sind die Bundesländer es gewohnt, vom Robert Koch-Institut oder vom Bundesgesundheitsministerium täglich mit Verläufen, Prognosen und Kennziffern versorgt zu werden. Das war hervorragend. Auf dieser Basis konnte man arbeiten, planen, vorbereiten. Auf einem vergleichbaren Niveau bekommen wir zur Energiemangellage derzeit gar nichts.

Von niemandem?

Von niemandem. Die öffentlich zugänglichen Daten – unter anderem zu den Füllständen der Gasspeicher – reichen nicht aus. Ich glaube, dass die Bundesnetzagentur bereits jetzt sehr genau sagen könnte, wie einzelne Szenarien konkret aussehen: Ich hätte beispielsweise gerne viel genauer gewusst, von welchen Gasreserven und potenziellen Verläufen man wirklich ab Herbst prognostisch ausgehen muss. Deswegen würde ich mir wünschen, dass der Bundeskanzler schnellstmöglich wieder den Krisenstab reaktiviert, den er während der Corona-Krise im Kanzleramt eingerichtet hatte.

„Auf Waldbrände nicht ausreichend vorbereitet“

Was würde das ändern?

Eine deutlich bessere Ressortkoordinierung und eine deutlich bessere Bund-/Länderabstimmung. Es kommt jetzt auf konzertiertes Handeln und vor allem intensive und seriöse Krisenkommunikation an. Heizung runterdrehen und Spar-Duschköpfe sind politische Empfehlungen, die wegen ihrer Trivialität die Menschen eher verunsichern.

Sie mussten Ihren Urlaub abbrechen, weil es in Sachsen in Größenordnung brannte. Zuletzt haben Sie 30 Millionen Euro zusätzlich für den Brandschutz gefordert. Wo muss Sachsen noch zulegen, um solche Großlagen zu bewerkstelligen?

Sachsen hat in den vergangenen fünf Jahren 200 Millionen Euro in den Brandschutz investiert. Das ist herausragend. Die Summe wurde aber in die klassischen Aufgaben der Feuerwehr investiert: neue Löschfahrzeuge für den Hausbrand, neue Gerätehäuser. Auf großflächige Vegetations- und Waldbrände sind wir in Deutschland und in Sachsen aber noch nicht ausreichend vorbereitet.

„Ich könnte mir einen Orden vorstellen“

Man braucht neue Gerätschaften?

Und eine präventive Waldbewirtschaftung, die sich beim Freihalten von Wegen, Schneisen, Riegeln oder beim Totholz an die Entwicklung anpasst. Bei den Geräten brauchen wir 10.000-Liter-Gefährte, um dort hineinfahren zu können. Das machen wir bisher mit landwirtschaftlichen Fahrzeugen oder Wasserwerfern. In der Sächsischen Schweiz hätten wir zudem kleine geländegängige Fahrzeuge mit Wassertank benötigt. Große mobile Wasserbassins wären wertvoll, damit Löschhubschrauber dort Wasser aufnehmen können. Unsere Konzepte dafür sind fertig.

Könnten Sie sich länderübergreifende Lösungen vorstellen?

Ich habe schon mit Brandenburg gesprochen. Wir wollen uns mit Sachsen-Anhalt treffen, um über eine gemeinsame Lösung zu reden. Für besonders teure Technik wäre das sicher ein Ansatz.

In Brandenburg hat die Regierung für die freiwilligen Helfer, die beispielsweise die Waldbrände dort bekämpfen, vor Jahren schon ein Prämiensystem eingeführt, um ihnen für den Einsatz zu danken.

Das steht definitiv auf unserer To-do-Liste. Es ist völlig klar, dass es so etwas geben muss. Die Freiwilligen Feuerwehren, das THW, Bundeswehr und Bundespolizei haben geholfen, ein wertvolles Stück Sachsen zu retten. Ob es Geld sein muss, weiß ich nicht. Ich war für die Bundespolizei 2002 bei der Oderflut im Einsatz. Danach hat Brandenburg die Helfer mit einem Flutorden ausgezeichnet. Vielen Helfern hat dieser Orden an der Uniform mehr gegeben als Geld. Ich könnte mir das auch in Sachsen vorstellen. Der Ministerpräsident wird das Richtige tun.