Arbeit drucken, Druck abschütteln. Bakunin stattet mir einen Besuch ab, um mich zu agitieren

Selbstreflexion in Umbruchszeiten

Während diese Reihe von Kurzgeschichten entsteht, wartet der Autor auf die Prüfung seiner Arbeit, mit welcher eine Lebensphase abgeschlossen wird und nach der eine ebenso ungewisse Zukunft bevorsteht. Während dessen begegnen ihm verschiedene anarchistische Denker, die ihn geprägt und beeinflusst haben. Er freut sich, sie wieder zu treffen, muss aber auch schauen, wie er mit ihnen weiter macht. Denn es ist klar, dass es sich um einen Verein weißer Typen handelt, die – wie der Autor ebenfalls – einige Probleme in ihren Leben und in ihrer Geschlechtsrolle haben… Dies gilt es zu reflektieren um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die besagten eigenwilligen Leute auf ihn wirken. Im selben Zuge wird auf einige Aspekte ihres theoretischen und aktivistischen Denkens hingewiesen, die wiederum auf subjektivistische Weise mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Damit wird auch eine Brücke durch Zeit und Raum geschlagen. Ganz schön irre alles. Diese und ganz andere Texte sind bereits auf paradox-a.de erschienen.

 

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Bakunin stattet mir einen Besuch ab, um mich persönlich zu agitieren (zweite Geschichte)

 

So, jetzt ist’s fertig. Nach viereinhalb Jahren reiche ich meine Doktorarbeit zur politischen Theorie des Anarchismus ein. Zu überqualifiziert und eigenbrötlerisch für Maloche-Jobs, zu unterqualifiziert und politisch-weltanschaulich positioniert für die Academy, wird es spannend, wie ich dann den Rest meines Lebens an Ressourcen komme. Doch das beschäftigt mich eigentlich nicht. Da ich ohnehin immer arm war, sind meine materiellen Ansprüche gering. Wichtige andere Fragen werde ich stattdessen in näherer Zukunft wälzen müssen: Wo kommt überhaupt die Kohle her? Wie kann ich mich langfristig gut organisieren, um meine Fähigkeiten und Perspektiven einzubringen? Was fühlt sich überhaupt sinnvoll an für mich? Was hat das Leben noch zu bieten, außer meine Umtriebigkeit, Heimatlosigkeit, meinen Veränderungswunsch und Tatendrang in intellektuelle Arbeit zu kanalisieren? Und was ist mit der Liebe?

In den letzten zwei Wochen, der wirklich letzten Phase der Arbeit an meiner Dissertation, habe ich merkwürdig und unruhig geschlafen. Die schrecklichen Kriegsereignisse verfolgte ich weiter, wusste aber dennoch, was nun dran und endlich fertig zu stellen ist. So spielte sich wieder eine alte Szene vor meinem inneren Auge ab. Etwas naiv, zurückhaltend und gelegentlich schreckhaft wie ich bin, saß ich da und sann darüber, wie ich mich sinnvoll engagieren könnte. (Ich weiß nicht warum, aber solche Situationen spielen dann entweder immer verlassenen Landhäusern, auch wenn ich nie in einem gelebt habe oder mich in einem aufhielt. Oder in verruchten Kaschemmen in dämmrigen, verwinkelten Gassen von Altstädten, wie in diesem Fall…)

Während ich unzufrieden mit der Welt und mir darin vor mich hin sinniere, zerrt es plötzlich an der Holztür und eine riesenhafte, verwegene Gestalt betritt den Raum. Sie setzt sich neben mich und fährt sich durch den Bart. Eine leichte Alkoholfahne weht zu mir rüber, während der grobe Kunde in seiner Geldkatze kramt und dann Rotwein beim Wirt bestellt. Dann blickt er auf, mich an und ich erkenne ihn: Es ist Bakunin. Der gute Mann hatte auch schon mal bessere Tage gesehen. Schweigend sitzen wir da und trinken den Wein. Die leicht beklemmende Ruhe überrascht mich, kenne ich doch sein aufbrausendes Temperament, seine rastlose Aktivität. Und natürlich war es nicht so, dass Bakunin mich grundlos aufgesucht hat. Gerade, weil ich recht klein bin, erscheint mir, als wäre es ein Bär, der bedächtig seinen Arm um meine Schulter legt und mich vertrauensvoll zu sich heran zieht.

Der Berufsrevolutionär spricht von mir, von großen Schlachten, die zu schlagen seien, vom Geheimbund, der sich weiter organisieren und vorbereiten müsse, von den Genoss*innen an allen Orten, die sich bereit machten für die kommenden Ereignisse. Die unterdrückten Völker würden aufbegehren, ihr Sehnen sei auf die Zukunft gerichtet, ihr Hass auf Obrigkeit verbittert und entschlossen wie lange nicht mehr. Dann schweift er in philosophische Gewässer ab und erläutert neben einigen Hasstiraden gegen den Gotteswahn und das Pfaffentum, warum die Sozial-Revolutionäre unweigerlich siegreich aus dem sozialen Krieg hervor gehen müssten: Trotz mancher Niederlage in der letzten Zeit und der Inhaftierung einiger unserer Besten, müsse sich das Lager der Negation unaufhaltsam Bahn brechen, da dass Positive sich mit jedem Repressionsschlag selbst untergraben und der sozialen Demokratie weitere Vorlagen schaffen würde…

Gebannt und eingeschüchtert lausche ich den bewegenden Worten, dieses von Gefangenschaft, Verfolgung und Aktionismus gezeichneten Mannes. Dann überkommt ihn ein Hustenanfall. Als er um Luft ringt frage ich ihn schließlich: „Michail, ich verstehe, was du sagst. Aber sag mir bitte, warum erzählst du mir das alles? Was möchtest du von mir?“ – Und bis jetzt könnte ich nicht sagen, ob es tatsächlich sein Anliegen war. Oder ob er einfach nicht aus seiner Rolle als Premiumagitator heraus kam, sich nicht einfach mal einen Abend freinehmen und eingestehen konnte, dass seine Pläne gescheitert waren. – Mich wieder unangenehm an sich heranziehend, sprach er in verschwörerischem Tonfall: „Du hast gehört, wovon ich gesprochen habe. Nun überlege dir gründlich, was dein Platz in der sozialen Revolution ist. Und wenn du Zerdenker, Zweifler und Glückssucher dich gerade gekriegt hast, melde dich und wir schauen, was du für den Geheimbund taugst“!

Dann fuhr er fort von Barrikadengerangel, vom Befreiungsdrang der unterworfenen Volksklassen, von der klassenlosen Gesellschaft zu erzählen. Schließlich zog er noch über einige wankelmütige Ex-Genossen her, die die Sache verraten oder aufgegeben hatten, richtet sich vom Stuhl auf, sodass dieser laut knarzte, schwankte zur Tür, deren Rahmen der fast völlig ausfüllte, warf einen letzten Blick aus seinen manisch glänzenden Augen zu mir, und verließ die Kaschemme. Wieder allein, war ich erfüllt von gemischten Gefühlen. Wie sollte es auch anders möglich sein, bei so einer eindrucksvollen Wesenheit?

Doch als ich zu mir kam und aufwachte, überkamen mich wieder die Zweifel. War dies ein Weg, den ich gehen sollte? Die ganze Geheimbündelei und Aufständerei? Ja und nein. Bakunins Weg war nicht meiner. Aber Wege suchen Menschen sich auch nicht immer aus. Sie ergeben sich beim Gehen, aber nicht beim Zuhause bleiben. Und die Wege der Herren sind oft unergründlich in ihrer ganzen Rechthaberei. Deswegen fand ich auf jeden Fall seine Art super unangenehm, also dieses väterlich-patriarchale Ich-bin-ein-Idol-Ding, was er ausgestrahlt hat. Und dann auch dieses Kader-Bro-mäßige coole-Kids-sind-halt-bei-der-sozialen-Revolution-Geschwafel. Nun ja, ich weiß nicht… Die einen faseln vom Weltgeist, Bakunin dagegen hat tatsächlich den Teufel im Leib. Das beeindruckt schon und ich habe ehrlicherweise nicht die gleiche Scheiße gesehen und gefressen wie er. Aber trotzdem auch genug plus in Verbindung mit dem radikalen Humanismus ist es nun mal nicht meine Schuld, das die Welt ist wie sie ist, aber meine wäre es, wenn sie so bliebe.

So bleibt meine Frage also offen, wo es hingeht, wo ich mich sinnvoll einbringen kann, wo mein Platz ist. In den letzten kanalisierte ich meinen Veränderungswunsch und Tatendrang in eine große Arbeit über die politische Theorie des Anarchismus. Niemand hat mich danach gefragt. Nur wenige wird es in Zukunft interessieren. Der Titel – wenn ich denn bestehe – ist mir persönlich auch sowas von egal. Doch ich habe das gleichermaßen nur für mich, wie nur für die Sache getan. Und es war verdammt anstrengend aus verschiedenen Gründen. Damit will ich sagen: Ich habe wie immer einige Ideen, was ich anfangen könnte. Und trotzdem sage ich auch: Bitte verwendet mich! Wenn ihr mal einen anarchistischen Intellektuellen braucht: Hier hab ihr einen!

 

Solange niemand interveniert wird diese Reihe in sieben weiteren Folgen fortgesetzt. Darin begegnen werden uns: Pjotr Kropotkin, Gustav Landauer, Max Stirner, Émile Pouget, Johann Most, Errico Malatesta und Emma Goldman.