Die Sonne, der Krieg, die Bibliothek. Sorel betritt den Raum durch die Hintertür

Kurzgeschichten-Reihe: „Selbstreflexion in Umbruchszeiten“

Während diese Reihe von Kurzgeschichten entsteht, wartet der Autor auf die Prüfung seiner Arbeit, mit welcher eine Lebensphase abgeschlossen wird und nach der eine ebenso ungewisse Zukunft bevorsteht. Während dessen begegnen ihm verschiedene anarchistische Denker, die ihn geprägt und beeinflusst haben. Er freut sich, sie wieder zu treffen, muss aber auch schauen, wie er mit ihnen weiter macht. Denn es ist klar, dass es sich um einen Verein weißer Typen handelt, die – wie der Autor ebenfalls – einige Probleme in ihren Leben und in ihrer Geschlechtsrolle haben… Dies gilt es zu reflektieren um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die besagten eigenwilligen Leute auf ihn wirken. Im selben Zuge wird auf einige Aspekte ihres theoretischen und aktivistischen Denkens hingewiesen, die wiederum auf subjektivistische Weise mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Damit wird auch eine Brücke durch Zeit und Raum geschlagen. Ganz schön irre alles. Diese und ganz andere Texte sind bereits auf paradox-a.de erschienen.

 

Die Sonne, der Krieg, die Bibliothek

Sorel betritt den Raum durch die Hintertür (erste Geschichte)

Es kommt mir vor als würde ich auf den letzten Metern aus einem langen Winterschlaf erwachen. Der Frühling kommt, die Welt steht in Flammen und ich pfeife auf meinem Fahrrad auf dem Weg zur Bibliothek. Das müssen die Hormone sein. Täglich vernichtet die von Menschen gemachte mehr oder weniger anonyme, doch sehr konkret spürbare Herrschaftsordnung das Leben auf diesem einzigartigen Planeten. Ich denke an einen Menschen, den ich wohl etwas begehre – aber ich weiß noch nicht wie, warum, wozu – und freue mich, solches Begehren überhaupt noch oder wieder empfinden zu können.

Derweil zerfetzen Projektile Leiber in der Ukraine und explodieren Raketen in Wohnhäusern, Krankenhäusern und Einkaufszentren. Nicht so weit weg. Nicht so weit weg von mir. Doch das waren Syrien und Afghanistan auch nie. Eben mal wird die Militarisierung der deutschen Gesellschaft postdemokratisch beschlossen und durchgewunken. Die Stimmung ist gut um den Nationalstaat zu erneuern. Die Leute besoffen vor humanistischem Geseiere und Hilfsbereitschaft in Fahnenmeeren – als Kompensation der Leidenschaften, welche die Politik der Angst in ihnen einpflanzt und auslöst. Im Herzen der Bestie Kratos steht der Militärapparat und pure Gewalt zerschmettert das nackte Leben. Darin gleichen, ergänzen und stützen sich Staat, Kapitalismus und Patriarchat: Dass sie Leben verdinglichen, bewerten, hierarchisch anordnen und im Zweifelsfall vernichten können.

Was ist denn los? Wie kann die Sonne nur wieder so wunderbar scheinen? Ich bin ein Kind dieser Welt und die Hälfte meines kurzen Lebens, dieses chaotisch-träumerisch-sensiblen Windhauchs, ist bereits vorbei – wenn ich Glück habe. Und das habe ich. Denn ich lebe im privilegierten Teil dieser Welt und habe lange Zeit eigene Strategien gefunden, mich so gut es ging den Zumutungen dieser grausamen Realität aus Lohnarbeit, Unterwerfung und Schlachterei zu entziehen. Ich kenne Menschen, die darauf verweisen, dass es Entwicklungen zum Positiven hin gibt. Und das schätze ich, weil es in unserem Potenzial liegt die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Um die Enteignung und Vergesellschaftung des Reichtums werden wir dabei aber nicht herum kommen. Wie zu allen Herrschaftszeiten erzürnt dies das progressive Bürgertum in seinen moralisch aufgeladenen Debatten um die Weltverbesserung.

Ich freue mich innerlich-äußerlich. Denn für mich wird es anders werden. Was auch immer kommt, anderes kündigt sich an. Der Erwachsene in mir weiß: Dieses Gefühl wird rasch verwehen. Neue Anforderungen, Rückschläge, Ängste und Zurückweisungen werden kommen. Allzu sehr neige ich ja selbst dazu mir Probleme zu verschaffen – wohl, weil ich es so gewohnt bin. Umgekehrt gilt es die Flüchtigkeit der Freude im Beenden, Auftauen, Ausbrechen, Aufbrechen zu genießen wie sie mich nun einmal überkommt. Her mit dem schönen Leben sag ich mir da! Her mit der ganzen Bäckerei! Und so lache ich kurz. Und statt mich um die Unterbringung von Geflüchteten zu kümmern oder sonst wie die Welt retten zu wollen freue ich mich auf die Gewalt.

Bei all den Merkwürdigkeiten, die mir so begegnen, überraschte mich nämlich, dass ich gestern – aus heiterem Himmel und kurz vorm Ziel – noch einmal bei George Sorel anlangte in meinem Arbeiten und Nachdenken. Die Windungen des Hirns sind unergründlich, denke ich einerseits. Und andererseits aber, dass ich mit meiner intellektuellen Tätigkeit in den letzten Jahren aktiv im thematischen Bereich der politischen Theorie des Anarchismus eine Anordnung meiner Neuronenstruktur geschaffen habe, welche kollektives und damit intersubjektiv geteiltes Wissen abbildet. In diesem Zusammenhang mag es daher logisch erscheinen, dass ich auf der Suche nach der Benennung einer methodisch vorausgesetzten Arbeitsdefinition von Politik, wieder auf Sorel stoße, ja stoßen muss.

In meiner Arbeit geht es um die anarchistische Kritik der Politik, weswegen ich – um einen theoretischen Ankerpunkt zu haben – erst mal von einen Politikbegriff ausgehe, den ich (ultra-)realistisch genannt habe. Nicht „mehr“, „bessere“, „endlich wieder“ oder „demokratischere“ Politik soll damit betrieben, sondern die ganze Politikmacherei selbst infrage gestellt werden. Das führt dann im Anarchismus zu allerlei Paradoxien, doch dazu an anderer Stelle mehr… Weil Sorel so unerwartet reinkam gestern, gibt es noch einmal ein kleines Blingbritzelfunkel in meinen Synapsen, bekomme ich noch einen latent manischen Kick im Erkenntnisprozess, in meinem bescheidenen Dasein geschenkt. Toll! Während Menschen auf Menschen schießen für die Interessen der jeweils herrschenden Fraktionen. Wie ich ebenfalls ausgiebig erarbeitet habe sind anti-politische Tendenzen, Praktiken, Denkweisen und Stile vielfach in allen Varianten des Anarchismus vorhanden. So dass die Frage gestellt werden kann, ob sich darin ein gemeinsamer Nenner dieser so verwirrend pluralistischen Strömung finden lässt.

Also: Wir finden eine anarchistische Kritik der Politik besonders ausgeprägt bei Stirner (Individualismus), bei Proudhon (Mutualismus), bei Most (Kommunismus), Pouget (Syndikalismus) und bei Landauer (Kommunitarismus). Selbstredend auch im Insurrektionalismus, den ich theoretisch allerdings als Kehrseite bzw. Negativfolie des Anarch@-Kommunismus gefasst habe und ihn für meine Untersuchung beiseite lasse, weil er in der reinen Negation verbleibt und ich mich stattdessen für eine sozial-revolutionäre Perspektive entschieden habe. Doch wie auch immer, warum also Sorel? Es gibt ja noch genug andere Typen mit Geltungsbedürfnis und kleinbürgerlicher Kränkung in diesem ganzen Verein (#Ironie).

Immerhin war Sorel kein Vordenker des Anarch@-Syndikalismus – sondern höchstens ein Nachdenker. Seine theoretischen Einsichten gewann er in Reflexion über die starke bestehende anarch@-syndikalistische Bewegung seiner Zeit. Doch die Bekanntheit seines Buchs Über die Gewalt ist in gewisser Weise ein Treppenwitz der anarchistischen Theoriegeschichte, da seine Übersetzer und Rezensenten ihn als kryptische und phantasierende Strohpuppe für das anarchistische Denken aufbauten, während die genuinen Faschisten – allen voran Mussolini – sich an darin enthaltenem Heroismus, Kampf, der Dekadenz und dem Gewaltfetisch erbauten. Wohlgemerkt in Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg, aber während seiner Ankündigung in der Phase imperialistischer Hochrüstung – Was mir wiederum auf skurrile Weise eine Parallele zur heutigen, politisch herbei gefaselten, journalistisch herbei geschriebenen und militärisch herbei gebombten Blockkonfrontation aufzeigt.

Hier ist nicht der Ort, um ins Detail zu gehen. Einen weiteren Einblick habe ich vor einer guten Weile schon formuliert – weswegen ich ja wie gesagt gerade überrascht bin, dorthin zurück zu kehren. So schließt sich ein Kreis in den Windungen des Denkers. (Aber nur ein einzelner, denn da ziehen verschiedene Gedankenströme ihre Bahnen …) Was mich an Sorels Buch fasziniert und worin es theoretischen Gewalt besitzt, ist die Reflexion der in Politik enthaltenen Gewalt – mit der (völlig übersteigerten) Androhung diese den Herrschenden zurück zu bringen. Die proletarische Gewalt sei dabei deutlich weniger brutal als die institutionalisierte Gewalt des liberalen Bürgertums, als auch der politischen Revolutionär*innen, welche aus Rachebedürfnis zur Grausamkeit tendierten.

Ein gutes Stück Rachebedürfnis ist bei Sorel durchaus noch enthalten. Doch er reflektiert und entfernt sich gerade daher von der politischen Gewalt – und schafft somit die Grundlage für eine fundierte, proletarische Anti-Politik. Für die Androhung und Durchführung ihrer Sezession vom Bürgertum und verbürgerlichten sozialistischen Politiker*innen, ist Gewalt nicht entscheidend, aber eben ein wesentliches Element im Streben nach Autonomie. Bedeutend fast noch stärker in ihrer Fiktion, die aber nur durch Taten generiert werden kann. Leider haben dies vor allem die Feinde – die Kubitscheks der Welt – erkannt bzw. in den letzten zweidrei Dekaden praktiziert.

Darin steckt aber eine politisch-theoretische Wahrheit, die uns Anarchist*innen nicht mit dem Faschismus „auf dem anderen Extrem“ vergleichbar macht – wenn sie verstanden und entsprechend sinnvoll angewandt wird. Und darin liegt übrigens auch Sorels Fehler, welcher Gewalt als Selbstzweck fetischisiert und sie heroisiert, damit also Anlass für das Umkippen von Antiautoritarismus in den Autoritarismus gibt. Entscheidend ist, gemeinsam mit vielen den Bruch zu wagen und die Balken im morschen Herrschaftsgebäude zu brechen. Statt irgendwie linke Politik zu betreiben oder sich noch etwas von sozialstaatlichen Reformen zu erwarten, gilt es einen völlig anderen Weg einzuschlagen: Die Selbstorganisation der Betroffenen von Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung und Zerstörung. Ihr Streben nach Autonomie, mit welchem (wiederum im strikten Gegensatz zum Faschismus) auch die Ermächtigung der Einzelnen und die Wiedererlangung ihrer Würde einhergeht.

Für Aktive in emanzipatorischen sozialen Bewegungen heute gilt es gezielt die Konfrontation einzugehen – anstatt diese (auf instrumentelle Weise) an kleine, radikale Aktionsgruppen zu delegieren und sich sonst den Anschein von Vernunft und Vermittlung zu geben. Die multiple Krise der Gegenwartsgesellschaft spricht eben sehr dafür, solche Wege zu beschreiten. Statt der omnipräsenten Angst, nicht mehr Anteil zu haben, nicht mehr mitreden und mitsein zu können, gilt es, sich mit den Anteillosen und Ausgeschlossenen gemein zu machen und – dort wo wir stehen und mit den Mitteln, die wir haben – die libertär-sozialistische Gesellschaft aufzubauen.

Dies lässt sich auch in anderen Kategorien denken als dem „sozialen Krieg“. Denn ja, das Thema ist selbstredend komplexer und die Schreiberlinge und Redner*innen dürfen anderen Betroffenen nicht ihre Sichtweise aufzwingen und sie instrumentell für ihr Geltungsbedürfnis und ihre Wahnvorstellungen verheizen. Und überhaupt, was ist das: Konflikt, Kampf, Kämpfen, Klassenkampf? Es kann eben vieles verschiedenes sein und ist den Kämpfer*innen selbst zu überlassen, was sie darunter verstehen und wie sie ihre Auseinandersetzungen führen wollen. (Abgesehen von den Rahmenbedingungen, die uns Möglichkeiten schaffen, Grenzen setzen und gewaltvolle Bedingungen auferlegen …) Aus eigenen Erfahrungen würde ich aber sagen: Wenn du eine Auseinandersetzung führst und – im Sorel’schen Sinne weitergedacht – kämpfst, dann merkst du es. Du merkst den Unterschied zum Politikmachen. Und dies ist im Übrigen etwas ziemlich anderes als gerade hauptsächlich in der Ukraine stattfindet. Denn damit wird der nationalstaatliche Rahmen der bestehenden Herrschaftsordnung gesprengt wird um einem eminenten Antipatriotismus nachzugehen, wie ihn Sorel – trotz all der problematischen Implikationen, die sein Denken mit sich bringt – selbst leidenschaftlich verfolgt.

Epilog. Sonne, Krieg und Bibliothek. In der Endphase von einem seltsamen fünfjährigen Traum, der mein Leben war (und sein wird, haha) britzeln die Synapsen noch einmal. Ich freue mich über mein Dasein. Ich freue mich, den Raum zum Denken zu haben und denken zu können in einer Welt, in der Medienheinis, weltfremde Politiker*innen und die Hools der herrschenden Klasse in ihren anerkannten Institutionen (Theatern, Hochschulen, Kirchen, Berufsverbänden etc.) uns die Birne weich machen mit ihrem Propagandafeuer. Ich freue mich in-gegen-und-jenseits dieses Wahnsinns denken zu können und das ist bitter nötig. Gegen den realen Krieg, der täglich das reale Menschenleben vernichtet – Und damit vor allem Ausdruck der Gewalt im angeblich friedfertigen 21. Jahrtausend ist – wie ein Kasper wie Steven Pinker behauptet. Aber auch gegen dem Krieg in unseren Herzen und Köpfen, installiert, um uns zuzurichten und einzugliedern in dieses verrottete, elende System.

Ich freue mich, so mehr oder weniger, so halbhalb, so wie es halt geht, raus sein zu können. Mit allen Folgen, die es mir schwer machen, hier noch sein zu können. So gut es eben geht draußen von den Zwangsinstitutionen und den idiotischen Käfigen der bürgerlich-liberalen, der staatlich-kapitalistischen Herrschaftsordnung sein zu können. In meinem Fühlen, in meinem Sehnen, in meinem Denken zumindest. So gut ich’s eben schaffe wegzukommen von den patriarchalen, weißen und Mitwelt-zerstörenden Denk-, Verhaltens- und Seinsweisen; weg von den Institutionen der Erniedrigung und Schande. Auch wenn ich weiß, dass ich immer Teil davon sein werde, bin ich motiviert weiter zu kämpfen. Und ich ahne zumindest wie schwierig es ist, lachend und würdevoll unterzugehen.

Auch das eigenständige, häretische Denken kann dazu einen Teil beitragen. Damit meine nicht die Querdenker*innen und sonstigen Verschwörungsfreaks, die glauben, das sie denken, weil sie denken, was sie glauben – nicht aber wie Sorel, der über den Mythos reflektiert und ihn damit transparent macht. Die Bibliothek ist eine komische Umgebung, gerade bei Frühlingsbeginn und vor der Fertigstellung eines wirklich irren Buches. Meine Gedanken schweifen ab und mein Begehren irrlichtert wieder zur Person, der ich letztens begegnet bin. Denn die war so eigenartig verrückt, dass sie einen Eindruck bei mir hinterließ. Daran merke ich, dass ich sehr beziehungsorientiert bin – Denn ich suche nach Menschen mit denen ich gemeinsam verrückt sein kann, um gegen den Wahnsinn der bestehenden Herrschaftsordnung zu bestehen.

 

Solange niemand interveniert wird diese Reihe in acht weiteren Folgen fortgesetzt. Darin begegnen werden uns: Michail Bakunin, Pjotr Kropotkin, Gustav Landauer, Max Stirner, Émile Pouget, Johann Most, Errico Malatesta und Emma Goldman.