Bericht vom 19. Prozesstag – 15.12.2021

Am 19. Verhandlungstag wurde der Zeuge und Geschädigte Karl Jonas Kaden zum Tatkomplex Wurzen II angehört. Die Rechtsmedizinerin Stefanie G. berichtete in diesem Zusammenhang als sachverständige Zeugin von der von ihr durchgeführten rechtsmedizinischen Begutachtung der Verletzungen der Geschädigten. Darüber hinaus wies der Vorsitzende Richter einen Antrag der Verteidigung zurück, die Rechtswidrigkeit der PKW-Innenraumüberwachung festzustellen.

Fast pünktlich um 9.35 Uhr eröffnete der Vorsitzende Richter Schlüter-Staats den Prozesstag und begann sogleich mit der Zeugenvernehmung des Geschädigten Karl Jonas Kaden, heute 18 Jahre alt. Anwesend waren am heutigen Tag die Nebenklageanwälte Tripp und Colini. Der Vorsitzende bat Kaden, zunächst frei von seinen Erlebnissen am 15. Februar 2020 zu berichten. So sei Kaden an diesem Tag mit Marcel A. verabredet gewesen, um zum sogenannten Trauermarsch nach Dresden zu fahren. Kaden sei in Machern in den Zug gestiegen, in Wurzen sei er dann zu einer Männergruppe dazugestoßen, von denen er aber jedoch nur die Spitznamen kenne. Im Laufe der Vernehmung stellte sich heraus, dass die Gruppe aus Benjamin Schwelnus, Ben Heller, Lucas Zahner, Marcel A. und einem weiteren Mann, dessen Namen Kaden laut eigener Aussage nicht kannte, bestand.

Er habe die anderen „eher zufällig“ am Bahnhof getroffen, erklärte Kaden auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters. Dieser hielt ihm daraufhin eine Aussage aus seiner ersten polizeilichen Vernehmung vor, in der Kaden geäußert haben soll, dasss „Ben“ am Bahnhof auf ihn gewartet habe. Wie er Heller denn politisch einordne, möchte Schlüter-Staats wissen: Rechts, er sei bei den „Jungen Nationalisten“ aktiv. Er kenne ihn vom „Stadtfest“, ein Neonazi sei Heller nicht. Sondern eher für Trinkverhalten und Sachbeschädigungen bekannt.

Laut Aussage Kadens sei der Aufmarsch in Dresden seine erste Demo gewesen – hier sei ihm zufolge alles „ohne besondere Vorkommnisse“ verlaufen. Auch auf der Rückfahrt aus Dresden habe er in der Bahn nichts Nennenswertes beobachtet, seine Augen seien zu diesem Zeitpunkt aber auch nicht „geschult für so etwas“ gewesen. Bis auf eine von ihm als links eingeordnete Person („bunte, zottelige Haare“, „Bilderbuchlinke“), die aus der Gruppe angepöbelt worden sei. Derweil seien andere Rechte im Zug gewesen, die er zwar nicht gekannt, aber sich dennoch mit ihnen unterhalten habe. Im Zug und auf der Demo sei auch ein etwas älterer Mann mit einer Reichsfahne bei der Gruppe gewesen. Kaden behauptete vor Gericht ihn nicht zu kennen, auch dessen Namen nicht.

Als sie am Bahnhof in Wurzen aus dem Zug gestiegen seien – der Mann mit der Reichsfahne vorneweg – habe sie eine Gruppe schwarz vermummter Personen überfallen. Dabei seien „typische Beschimpfungen“, wie „Nazischweine“ aus der Angreifergruppe gefallen, eine Person habe „Lulu“ gerufen – Lucas Zahners Spitznamen. Er habe männliche Stimmen vernehmen können, so Kaden auf Nachfrage. Er habe wegrennen wollen, sei dann aber zu Boden gedrückt und mit einem nicht näher definierbarem Schlagwerkzeug auf den Kopf geschlagen worden. Mit einer Glasflasche habe er sich wehren wollen. Diese hielt er bereits in der Hand. Er habe sie zuvor aufgesammlt, um den Bahnhof „sauber zu halten“, so Kaden auf Nachfrage des Vorsitzenen. Um wie viele Personen es sich gehandelt habe, konnte Kaden nicht schätzen. Als er sich habe aufrappeln wollte, sei ihm ein Angreifer entgegengekommen und ihm das Angrisffswerkzeug entgegengehalten, habe sich dann aber abgewendet und sei verschunden. (Rechtsanwalt von Klinggräff hält ihm später einen Auszug aus seiner Vernehmung vor, in der er angab, dass es ein Gummistab gewesen sei. Denn wäre es eine Metallstange gewesen, hätte er ein Loch im Kopf gehabt, erklärte Kaden seinen Gedankengang.)

Als der Angriff – laut Kadens Schätzung nach ein oder zwei Minuten – vorbei gewesen sei, sei er mit Lucas Zahner oder Ben Heller Richtung Netto gelaufen. Auf dem Weg sei ein Auto mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbeigefahren, an das Modell könne er sich aber nicht mehr erinnern, es sei kein Transporter gewesen. Als der Vositzende ihm später eine Aussage aus seinem polizeilichen Vernehmungsprotokoll vorhielt, in der Kaden angab, es habe sich um einen roten Ford gehandelt, will er sich auch daran nicht mehr erinnern können.

Sie hätten dann bemerkt, dass eine Person aus der Gruppe fehle und seien daraufhin wieder zurück zum Bahnhof gelaufen, wo ein Krankenwagen bereits eingetroffen war. Kadens Kopfwunden seien im Krankenhaus behandelt worden. Dort sei er auch schon von zwei Polizeibeamten befragt worden. Insgesamt sei Kaden zwei Mal polizeilich vernommen worden, zuletzt im Februar diesen Jahres.

In der Gruppe habe man sich im Nachgang über den Vorfall unterhalten. So habe Lucas Zahner Vermutungen angestellt, wer unter den Angreifern gewesen sei. Dieser sei selbst mal Punk und in der linken Szene gewesen. Dass sein Spitzname fiel, habe er als Indiz dafür gewertet, dass er den/die Angreifer eventuell gekannt habe.

Zu der Gruppe habe er mittlerwile wenig Kontakt, erzählte Kaden. Marcel Ackermann sei mittlerweile nach Leipzig gezogen und ein „glühender Kommunist“ (lacht). Benjamin Schwelnus habe ihn einmal gefragt, ob die beiden gemeinsam zum Prozess gehen wollen. Schwelnus, der ebenfalls als Zeuge im Prozess aussagen sollte, war wiederholt nicht vor Gericht erschienen. Er habe wohl „Muffensausen“, dass er wieder „abgefangen“ werde, äußerte Kaden auf die Frage Schlüter-Staats, ob er wisse, wieso Schwelnus nicht erschienen sei.

Im Anschluss an die eineinhalbstündige die Zeugenvernehmung stellte Verteidigerin Weyers einen Antrag darauf, Frau Stefanie L. als Zeugin im Kontext des Tatkomplexes Wurzen II zu laden. Diese wohnt mit der minderjährigen Zeugin Lisa S. (Name geändert)., welche am vergangenen Verhandlungstag von ihren Beobachtungen am 15. Februar 2020 in der Nähe des Wurzener Bahnhofs berichtete, und deren Mutter in einem Haushalt.

Nach einer vorgezogenen Mittagspause wurde die Verhandlung um 12.40 Uhr fortgesetzt. Verteidiger Christian Mucha gab eine Erklärung betreffend mehrerer Aspekte der heutigen Zeugenaussage Kadens ab: So habe der Zeuge angegeben, auf der rechten Demo in Dresden gewesen zu sein und aus dem antifaschistischen Gegenprotest heraus von keinen Angriffen mitbekommen zu haben. „Die Antifa“ sei seiner Wahrnehmung nach „immer vermummt“. In diesem Zusammenhang zeige sich, so Rechtsanwalt Mucha, dass der Besitz von „Vermummungsgegenständen“ kein Indiz für die Planung von Gewalttaten darstellt. Darüber hinaus sei es laut Zeugenaussage erwartbar gewesen, dass Rechte an diesem Tag in Wurzen aus dem Zug aus Dresden aussteigen würden, da es in Wurzen viele Rechte gäbe. Anhand der schwarz-weiß-roten Fahne, die ein Mann aus der Gruppe der Faschisten am Gleis prominent vorweg trug, sei außerdem klar erkennbar gewesen, dass es sich bei der Gruppe um Rechte gehandelt habe. Einer vorherigen Ausspähung habe es dafür nicht bedurft. Durch den vor dem Angriff geäußerten Ruf „Scheiß Nazis“, sei der darauffolgende Übergriff erwartbar gewesen, was auch durch den Versuch Kadens bekräftigt wird, sich mit einer Glasflasche zu wehren. Nach ständiger Rechtsprechung bestünde in diesem Fall also kein durch Hinterlistigkeit gekennzeichneter Überfall. Schließlich zeige sich an dem vom Zeugen beschriebenen Sachverhalt, dass ein Angreifer vom sich gerade vom Boden aufrappelnden Kaden abließ – obwohl der Täter mit dem schlagstockartigen Gegenstand in seiner Hand die Möglichkeit zur weiteren Körperverletzung gehabt habe – dass täterseits ein bestimmtes Eskalationlsevel bewusst nicht überschritten werden sollte.

Es folgte ein richterlicher Beschluss: Der am 8. Dezember vonseiten aller Verteidiger:innen gestellte Antrag, dass die Feststellung personenbezogener Daten aus der akustischen PKW-Innenraumüberwachung sowie deren Nutzung durch Oberstaatsanwältin Geilhorn rechtswidrig sind, wird abgelehnt. Der Vorsitzende Richter beharrt somit auf seiner und Geilhorns am 17. Prozesstag vorgetragenen Auffassung. So habe der von der Bundesanwaltschaft eingeleitete Prüfvorgang, im Rahmen dessen die Daten aus jener Überwachungsmaßnahme aus einem anderen Ermittlungsverfahren hinzugezogen wurden, sich auf die Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 und deren Mitgliedschaft bezogen. Da es sich bei letzteren um eine Katalogstraftat handelte, bedürfe es keiner weiteren Voraussetzungen, um die erhobenen Daten im hiesigen Verfahren zu verwenden – auch ohne, dass ein Ermittlungsverfahren in Sachen § 129 zum entsprechenden Zeitpunkt eingeleitet war. Schlüter-Staats verwies auf ein Urteil des OLG Hamburg aus dem Jahr 2021 und auf eines des BGH aus dem Jahr 1983.

Hiernach verfügte der Vorsitzende Richter, dass weitere Urkunden inklusive eines Vermerks der Kriminalkommissarin Möller vom 22.09.2021 zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden – der Senat habe diese bereits gelesen und auch die anderen Prozessbeteiligten hätten Gelegenheit dazu gehabt. Am folgenden Prozesstag solle die Inaugenscheinnahme folgen.

Desweiteren wurde verfügt, die Videoaufnahmen der über dem Bahnhofskiosk befindlichen Überwachungskamera vom Abend des 15.02.2020 in Augenschein zu nehmen. Es folgte die Inaugenscheinnahme der zwei kurzen Videosequenzen, beide mit Blick auf einen Ausschnitt des Wurzener Bahnhofsvorplatzes in der Dunkelheit. Das erste Video von nicht mal einer Minute Dauer, beginnend beim Zeitstempel 19:33 Uhr, zeigt mehrere hauptsächlich dunkel gekleidete, vermummte Personen, die teils schneller, teils langsamer durch das Bild laufen. Über die Anzahl der auf dem Video erkennbaren Personen folgte eine kleine Debatte. Rechtsanwalt der Verteidigung Aufurth erklärt, dass allerhöchstens sechs Personen auf dem Video zu sehen sind, woraufhin das Video nochmal abgespielt wird, um die Personen einzeln zu zählen. Der Vorsitzende Richter stellt im Widerspruch zu Aufurth fest, dass mitnichten erkennbar sei, ob es sechs, sieben oder gar noch mehr Personen sind. Über diese Hochrechnung regte sich Irritation auf der Verteidiger:innenbank und im Publikum. Es folgte die noch unspektakuläre Sichtung des zweiten Videos der Überwachungskamera, welches etwa zehn Minuten später aufgezeichnet wurde. Hier ist über etwa fünf Minuten hinweg der in Blaulicht gehüllte Bahnhofsvorplatz zu sehen. Rechtsanwalt Aufurth merkte noch kurz an, dass die Verteidigung bereits länger auf die Videodateien warte, woraufhin der Vorsitzende Richter die morgige Übergabe eines entsprechenden Datenträgers in Aussicht stellt.

Im Anschluss war Dr. med. Stephanie G. vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Leipzig als sachverständige Zeugin geladen. G. hatte drei Tage nach dem Angriff am Bahnhof Wurzen im Auftrag des LKA Sachsen die rechtsmedizinischen Gutachten über die Verletzungen der vier Geschädigten Kaden, Leder, Zahner und Heller angefertigt. Nun sollte sie über die begutachteten Verletzungen, die zugehörigen Verletzungshandlungen und deren Gefährlichkeit aussagen. Unter Zuhilfenahme der im Rahmen des Gutachtens erstellten Fotos ging die Rechtsmedizinerin die Verletzungen jedes Geschädigten im Detail durch und ordnete diese durch das jeweilige Verletzungsbild – mal spezifischer, mal unspezifischer – der Einwirkung durch Faustschläge, Tritte, stumpfe Gegenstände oder Stürze zu. Alle vier Geschädigten wiesen nach dem Angriff Verletzungen an Rumpf und Extremitäten in unterschiedlicher Intensität und Menge auf, auch trugen alle Vier Kopfverletzungen davon, die teils medizinisch versorgt und zum Teil geklammert wurden. Vom Vorsitzenden Richter, den Verteidiger:innen und Oberstaatsanwältin Geilhorn wurden an einigen Stellen Nachfragen gestellt – insbesondere zu der Stärke und Lebensbedrohlichkeit jener Verletzungen, welche laut Sachverständiger plausibel durch schlagstockartige Gegenstände verursacht worden seien, wurde nachgehakt. G. erklärte auf Nachfrage mehrfach, dass allein von der Verwendung von Schlagwerkzeug nicht auf eine lebensbedrohliche Körperverletzung geschlossen werden könne – sondern, dass es hierfür immer auf die im konkreten Fall aufgewendete Kraft des Angreifenden sowie das spezifische Gewicht und Material eines Gegenstandes ankäme. Also immer mehrer Faktoren einbezogen werden müssten. So könnten mit einem Gummiknüppel genauso schwere Verletzungen wie mit einem Schlagstock verursacht werden, wenn nur stark genug zugeschlagen würde – und selbstverständlich wären auch nur leichte Verletzungen mit derartigen Gegenständen möglich, veranschaulichte sie. Zusammenfassend kam die Rechtsmedizinerin zu dem Schluss, dass bei keinem der vier Geschädigten von konkreter Lebensgefahr durch die zugefügten Verletzungen auszugehen ist. Ebenso seien keine gesundheitlichen Langzeitfolgen durch die jeweiligen Verletzungen zu erwarten, da keiner der Geschädigten nach dem Angriff die dafür spezifischen Symptome vorwies.

Uneinigkeit kam bei einer Nachfrage von Verteidiger Aufurth auf: Er merkte an, dass auf einem vorgeführten Lichtbild die Hand des Geschädigten Matthias Leder aussehe, als würde sie Hämatome auf den ersten Fingergliedern vorweisen – ähnlich wie typische Streifen verursacht durch die Nutzung eines Schlagrings. Ob im Falle Leders auf eine solche zu schließen sei, wollte der Verteidiger von der Sachverständigen wissen. Diese verneinte und meinte, dass es sich hierbei nur um Schatten handele. Sie sei selbst bei der Untersuchung Anfertigung und den Fotoaufnahmen anwesend gewesen, die Originalfotos, die ein:e Fotograf:in der Gerichtsmedizin angefertigt habe, habe sie heute nicht dabei. Später korrigiert G., dass sie selbst wohl die Bilder gemacht habe, da keine andere Person im Gutachten vermerkt sei. Aufurth bittet darum, ihm zur Überprüfung der Sachverständigeneinschätzung die Lichtbilder digital und in Farbe zukommen zu lassen, denn diese lägen der Verteidigung bislang nur in schwarzweiß vor. Während vonseiten der Bundesanwaltschaft das Stellen eines Beweismittelantrags hierfür gefordert wurde, zeigte Richter Schlüter-Staats kein Verständnis für die kritische Position Aufurths, ließ das Vorgehen aber zu.

Nachdem die Befragung der sachverständigen Zeugin abgeschlossen war, baten die Verteidiger von Lina E., den Vorsitzenden Richter darum, den Prozesstag zu einem baldigen Ende zu bringen, da ihre Mandantin unter starken körperlichen Beschwerden litt, welche ihr das konzentrierte Folgen des Prozessgeschehens unmöglich machten. Schlüter-Staats entgegnete mit dem Vorschlag einer halbstündigen Pause, in der die Angeklagte sich ja in ihrer Zelle vor Ort hinlegen oder an die frische Luft gehen könne. Die Verteidiger kritisierten diesen Vorschlag, da ein Hofgang in Handschellen oder eine Zelle mit elektrischem Licht keine angemessene Erholung bieten.

Der Vorsitzende verfügte noch die Hinzufügung von Urkunden (Konvoluten 7 bis 9) zur Beweisaufnahme ins Selbstleseverfahren und verkündete den Beschluss, dass die Verlesung des polizeilichen Vernehmungsprotokolls des Zeugen Cedric Scholz vom 30.10.2018 als Ergänzung der Vernehmung in der Hauptverhandlung zulässig sei, da diese insbesondere der Überprüfung der Aussagekontinuität diene.

Um 14.30 Uhr verkündete der Vorsitzende schließlich doch, dass die Sitzung unterbrochen werde bis zum morgigen Prozesstag.

gefunden am 23.12.2021 auf https://www.soli-antifa-ost.org/bericht-vom-19-prozesstag-15-12-2021/