Prozessbericht vom 21. Prozesstag im Antifa-Ost-Verfahren – 22.12.2021

Am 21. und damit letzten Verhandlungstag des Jahres begann das tatsächliche Prozessgeschehen mit bisher unübertroffener Verspätung. Es wurde stundenlang erfolglos auf den Zeugen Lucas Zahner gewartet. Hunderte Fotos von den Wohnungsdurchsuchungen bei zwei der Angeklagten wurden in Augenschein genommen, ebenso wie diverse Videos von den Zugüberwachungskameras im Zug von Dresden nach Wurzen am 15.02.2020. Außerdem wurde ein behandelnder Arzt bezüglich der Verletzungen Enrico Böhms als sachverständiger Zeuge befragt und die neu angesetzten Verhandlungstermine bis Ende Juni 2022 wurden angekündigt.

Am 21. Prozesstag sollte der Zeuge Lucas Zahner zum Tatkomplex Wurzen II aussagen. Zu Beginn der Verhandlung verkündete der Vorsitzende, dass sich der Verhandlungsbeginn verzögern werde, da der Zeuge an der falschen Gerichtsadresse erschienen sei. Da Zahner nach einer Stunde immer noch nicht erschienen war, eröffnete der vorsitzende Richter Schlüter-Staats die Verhandlung gegen 10.30 Uhr ohne dessen Anwesenheit.

Zunächst verkündete der Vorsitzende weitere Verhandlungstermine für die Fortsetzung des Verfahrens ab dem 6. April bis zum 30. Juni des kommenden Jahres. Dabei werden die Prozesstermine weiterhin jeweils wöchentlich mittwochs und donnerstags angesetzt.

Rechtsanwalt Aufurth führte im Anschluss an, dass er durch seinen Kanzleikollegen, der einen Beschuldigten im abgetrennten §129-Verfahren vertritt, erfahren hat, dass das Verfahren bezüglich seines Mandanten vom Generalbundesanwalt an die Staatsanwaltschaft Gera abgegeben worden sei. Ob das bedeute, dass nun kein Vorwurf einer kriminellen Vereinigung im Sinne des §129 mehr vorliege, wollte Aufurth von Alexandra Geilhorn, der Staatsanwältin der Bundesanwaltschaft wissen. Geilhorn erwiderte, in ihrer Verfügung werde deutlich werden, aus welchem Grund dieses Verfahren abgebeben wurde, sie lege diese zu den Akten. Auch eine Antwort auf die Frage von Rechtsanwältin Weyers, ob dies noch mehr Personen als den genannten Beschuldigten betreffe, verweigerte Geilhorn und verwies erneut auf die Verfügung.

Es folgte eine kurze Abwägung, wie viel Zeit potenziell für die Vernehmung Zahners eingeplant werden müsse. Der Vositzende betonte, dass es aus seiner Sicht keine Rolle spiele, wer alles bei dem Angriff in Wurzen dabei gewesen sei. Es gehe um eine Gruppenstraftat, da sei es gleichgültig, „ob fünf, sieben, oder zehn Personen dabei waren.“ Rechtsanwalt Werner betonte, von welcher Bedeutung die Vernehmung Zahners ist, da sich daraus neue Ermittlungserkenntnisse ergeben könnten.

Es folgte eine weitere Pause, für die Lina E. den Gerichtssaal verlassen und in den Keller musste, damit sie sich nicht mit den anderen Angeklagten unterhalten konnte, so die Anordnung des Gerichts. Nach der Unterbrechung gab der Vorsitzende bekannt, dass es immer noch keinerlei Anhaltspunkte für den Aufenthaltsort des Zeugen Zahner gebe. Mittlerweile sei nun auch die Mailbox des Vaters aus, der sonst zuvor immer erreichbar gewesen sei, ging es um die Vorladung seines Sohnes. So habe er bereits vor dem letzten Ladungstermin angerufen und das Fernbleiben seines Sohnes mit einer Corona-Quarantäne entschuldigt. Noch vor zwei Tagen hätte sich Zahner wegen eines Zeugenbeistandes beim Gericht gemeldet. Schlüter-Staats äußerte seine Sorge über das Nichterscheinen Zahners: Man könne nur hoffen, dass nichts passiert sei, Zahner keinen Unfall oder ähnliches gehabt habe.

Nach einer eineinhalbstündigen Mittagspause gab der Vorsitzende verärgert bekannt, dass Zahner laut Eigenaussage vor dem Gerichtsgebäude im Hammerweg abfotografiert worden und aus Angst wieder abgefahren sei. Auf Nachfrage von Rechtsanwalt Zünbül erklärte Schlüter-Staats, Zahner habe vor Ort Menschen, die er „der Antifa“ zuordne, identifiziert und sich nicht mehr sicher gefühlt. Rechtsanwalt Werner merkte an, dass es die hier Beschuldigten offensichtlich nicht gewesen sein könnten. Das Recht am eigenen Bild werde wohl unterschiedlich wichtig genommen – „manche scheinen zu denken, dass dies nur für manche gelte“ – monierte Schlüter-Staats, ohne dabei die Darstellung Zahners infrage zu stellen oder auf die Möglichkeit einzugehen, dass möglicherweise das anwesende Filmteam der Presse Bild- oder Videoaufnahmen vor dem Gerichtsgebäude angefertigt haben könnte. Unmut darüber machte sich auch im Zuschauer:innenraum breit.

Nach einer Pause beschloss der Senat, gegen Lucas Zahner ein Ordnungsgeld in Höhe von einhundert Euro für seine Abwesenheit zu verhängen, sowie die selbstständige Kostenübernahme seiner Auslagen für den heutigen Verhandlungstag. „Antifa-Fotografie“, wie der vorsitzende Richter es nannte, sei keine hinreichende Begründung für ein Nichterscheinen, er hätte ohne weiteres Kontakt mit dem Gericht aufnehmen können.

Da sich die Zeugenbefragung Zahners für diesen Verhandlungstag damit endgültig erledigt hatte und abgesehen von dieser Erkenntnis bis 13 Uhr keinerlei inhaltliches Vorankommen im Prozess vorgewiesen werden konnte, entschied sich das Gericht für ein „Alternativprogramm“. Dieses begann mit der Sichtung von Bildaufnahmen zweier Hausdurchsuchungen.

Zunächst wurden etwa hundert Fotos der Wohnungsdurchsuchung vom November 2020 bei einem der Angeklagten in Augenschein genommen. Detailliert wurden dabei auch jegliche in der Wohnung gefundene Plakate und Sticker mit antifaschistischen Botschaften dokumentiert. Hier sorgte vor allem das ausführliche Verlesen so mancher Bildunterschrift durch den Richter für Erheiterung des Publikums.

Rechtsanwalt Mucha kündigte eine Erklärung zu den gezeigten Bildern zum nächsten Prozesstag an.

Im Anschluss folgte die Inaugenscheinnahme von Bildern der Durchsuchung des Wohnraums eines weiteren Angeklagten. Die Wohnungsdurchsuchung am 10. Juni 2020 sei durch Beamt:innen der Bereitschaftspolizei erfolgt, die Lichtbildmappe umfasste einen nicht-maßstabsgetreuen Grundriss der Wohnung, eine Masse an Bildern aus der Wohnung inklusive eines, auf dem der Angeklagte mit einer Verletzung im Gesicht zu sehen sei, sowie eine Übersicht der beschlagnahmten Asservate.

Die Inaugenscheinnahme der Fotos wurde für die nächste Zeugenaussage unterbrochen: Dr. Stefan K., Facharzt für Chirurgie und Sachverständiger sollte zu Böhms Verletzungen nach dem Angriff auf ihn in Leipzig aussagen.

Er habe Böhm zwei Tage nach dessen Entlassung aus der Klinik im Oktober 2018 behandelt. Dr. K. sei jedoch nicht Böhms Hausarzt, wie dieser zuvor behauptet hatte. Böhm sei damals schlecht gehfähig gewesen, habe eine Knie-Orthese benötigt. Beide Knie seien unterblutet gewesen. Er habe Böhm zum MRT überwiesen, dort zeigten sich sogennante Mikrofrakturen im Knochengewebe. Stefan K. stellte klar, dass es sich dabei keineswegs um einen Bruch gehandelt habe, Mikrofrakturen seien ohne MRT gar nicht erkennbar und würden meist durch Ruhigstellen therapiert. Böhm hatte ausgesagt, mehere Brüche in der Kniescheibe erlitten zu haben. Dieser Aussage widersprach Stefan K. deutlich. Es habe sich dann ein guter Heilungsverlauf durch Entlastung des Beines eingestellt. Böhm hatte ebenfalls ausgesagt, dass sein Knie ein halbes Jahr hätte punktiert werden müssen. Auf Nachfrage des Senats erklärte K., dass Böhm bei ihm nur drei Mal in Behandlung gewesen sei. Im Januar 2019 sei die Behandlung abgeschlossen und keine Nachsorge von Nöten gewesen.

Nach Nachfragen von Bundesanwältin Geilhorn, die erneut auf die angebliche Schwere der Verletzungen hinauswollte, wurde der Zeuge nach einer knappen halben Stunde entlassen.

Im Anschluss legte Rechtsanwalt Werner Widerspruch gegen die Einführung eines Briefes in die Hauptverhandlung ein. Dieser wurde im Juni 2020 von Beamt:innen beschlagnahmt. Der Brief behandelt diverse Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen, betrifft damit die Intimsphäre des Empfängers und fällt in den Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung. Zudem war bereits die Beschlagnahmung des Briefes rechtswidrig, erklärte Verteidiger Werner. Im Durchsuchungsbeschluss wurde explizit die Beschlagnahmung von Schriftstücken, die zur Tatvorbereitung gedient haben könnten, angeordnet. Der Brief lieferte jedoch keinen Hinweis auf begangene oder mögliche Straftaten, sodass bereits die Beweiserhebung rechtswidrig erfolgte. Die gesamte Verteidigung schloss sich dem Verwertungswiderspruch an.

Bundesanwältin Geilhorn widersprach der Darstellung Werners vehement. Sie gehe davon aus, dass kein Beweisverwertungsverbot bestehe und die Beschlagnahmung des Briefes ihrer Meinung nach somit rechtskonform erfolgt sei. Zudem habe dieser ja auch offen in der Wohnung rumgelegen und sei nicht etwa „weggeschlossen, gesichert oder gekennzeichnet“ gewesen. Werner entgegnete daraufhin, dass man persönliche Gegenstände in der eigenen Wohnung nicht verstecken und Briefe nicht in einem Tresor aufbewahren muss.

Über den Widerspruch werde das Gericht bis zum nächsten Prozesstag entscheiden, kündigte der Vorsitzende an und drohte, dass man den Inhalt des Briefes sonst auch auf anderem Wege in die Verhandlung einführen und den:die Verfasser:in zeugenschaftlich vernehmen könnte – was für offensichtliche Zustimmung auf Seiten der Bundesanwaltschaft sorgte.

Anschließend wurde die Sichtung der Bilder der Hausdurchsuchung fortgesetzt, was sich insgesamt über zwei Stunden zog, da mehr als 300 Bilder gezeigt wurden.

Zum Schluss wurden noch „ein paar Filmchen gekuckt“ – in den Worten des Vorsitzenden und damit der letzte Teil des Alternativprogramms. Insgesamt zwölf Ausschnitte einer Zugüberwachungskamera wurden im Saal abgespielt. Darauf sollen angeblich eine derzeit angeklagte Person und eine gesondert Verfolgte am 15.02.2020 im Zug von Dresden nach Wurzen zu sehen sein. Was die Ermittler:innen der Soko LinX als „konspiratives Verhalten“ ansehen – zwar, dass eine Person ihren Sitzplatz verlässt und zur Zugtoilette läuft – kommentiert Rechtsanwalt Aufurth: Ein Toilettengang ist nicht besonders konspirativ, ebensowenig das Verhalten der Person, als der Zug in Wurzen einfährt und die Person sich bewegt. Von jener Position im Zug aus hat man den Bahnhof auch gar nicht im Blick, so Aufurth. Zudem kritisierte die Verteidigung die verfälschte Farbwiedergabe der Videos. So waren beispielsweise die Halte-Knöpfe, Notbremsen und Türen im Zug nicht rot, sondern auf der Aufnahme in strahlendem Pink zu sehen.

Rechtsanwalt Werner kündigte zum Schluss eine Erklärung nach §257 StPO zu den Videoaufnahmen für den nächsten Prozesstag an, sowie eine Gegendarstellung zum Beschluss der Beanstandung der Frage zum Modus Operandi. Der vorsitzende Richter bemühte sich, sein Interesse stark zu machen, dies aus der Hauptverhandlung auszulagern, während Werner dagegenhielt, dass er dies gerne in der Hauptverhandlung behandeln möchte.

Der Prozesstag endete gegen 16:45 Uhr mit Weihnachtsgrüßen an die Angeklagten aus dem Zuschauer:innenraum, die das Lied „In der Weihnachtsbäckerei“ anstimmten, während Bundesanwältin Geilhorn sich sichtlich darüber aufregte.

Der nächste Prozesstag ist der 05.01.2021 – 09:30 Uhr.

gefunden am 30.12.2021 auf https://www.soli-antifa-ost.org/bericht-vom-21-prozesstag-22-12-2021/