„Das sind Leute mit Gewalterfahrung“

Im Osten enden die Proteste gegen die Corona-Politik oft mit Gewalt. Das hat auch mit den Neonazis der Neunziger zu tun, sagt Rechtsextremismusforscher David Begrich.

Seit der Wiedervereinigung beobachtet David Begrich, geboren 1971, die Strategien und Taktiken der extremen Rechten in Ostdeutschland. Heute gilt der Sozialwissenschaftler und Theologe als einer der wichtigsten Experten für das Thema. Seit 1998 publiziert und forscht er in Magdeburg beim Verein Miteinander e.V. Zudem berät er Politikerinnen und zivilgesellschaftliche Akteure zum Umgang mit Neonazis und rechtsradikaler Ideologie. Unser Gespräch via Zoom findet kurz vor der nächsten Demonstration in Magdeburg statt, bei der Rechtsextreme eine Polizeikette überrennen werden.

ZEIT ONLINE: Herr Begrich, Sie beobachten die Demonstrationen in ostdeutschen Innenstädten schon seit Jahren. Können Sie beschreiben, was sich da in letzter Zeit entwickelt hat?

David Begrich: Es gibt seit 2013 immer wieder Mobilisierungen eines autoritär eingestellten politischen Milieus in Ostdeutschland. Dazu gehört ein sehr starkes Antiestablishment-Ressentiment, dem unterschiedliche ideologische Untertöne beigemischt sind. Mal geht es um Flüchtlinge und den Islam, mal um die Ukraine und Putin. Jetzt, im Kontext von Corona, erleben wir einen enormen Aufschwung an Aufzügen, zu denen im Wesentlichen die gleichen Leute mobilisieren. Natürlich sind die Demonstranten nicht komplett identisch, aber es gibt eine große Schnittmenge.

ZEIT ONLINE: Die Grundstimmung ist eine andere als bei den Protesten im Westen.

Begrich: Teils sehr deutlich. Wir wissen ja aus Untersuchungen, dass im Westen eher Leute demonstrieren, die früher durchaus in linksalternativen Milieus angesiedelt waren. Dieses Milieu spielt in Ostdeutschland keine tragende gesellschaftliche Rolle. Es existiert nur in Spurenelementen, in wenigen Städten.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt die Generation Bomberjacke der Neunzigerjahre?

Begrich: Es ist erstaunlich, zu sehen, dass die fast alle wieder da sind. Ich habe in Magdeburg, aber auch in anderen Städten, frühere Führungsleute der rechtsextremen Szene gesehen. Die sind jetzt Mitte vierzig, Anfang fünfzig – und merken, ihre Zeit ist da. Ein Momentum ist entstanden, ganz ähnlich wie in den Neunzigern. Das liegt auch daran, dass dem jedenfalls bisher keine Grenzen gesetzt werden. Und so treten sie auch gegenüber der Polizei auf. Etwa in Magdeburg, wo rechtsextreme Hooligans dieses Alters eine unangemeldete Demo von mehr als 3.000 Leuten angeführt haben. Das sind Leute mit Gewalterfahrung, die austesten, wie weit sie gehen können.

ZEIT ONLINE: Wie weit können sie denn gehen?

Begrich: Ihnen stand zumindest in den vergangenen Wochen eine Polizei gegenüber, die im Rückwärtsgang agierte. Es wiederholte sich mehrfach das Geschehen vom November 2020 in Leipzig, als rechtsextreme Hooligans die Polizei einfach zur Seite drückten. Inzwischen gibt es endlos viele Videoschnipsel im Netz, die zeigen, dass die Polizei nachgibt. Und das ist eine ermutigende Botschaft an diese Szene.

ZEIT ONLINE: Wie ist bei diesen Demos eigentlich die Aufteilung zwischen Neonazis und Normalbürgern?

Begrich: In Ostdeutschland spielt das Hörensagen noch eine wichtige Rolle. Es ist nicht nur Telegram, oft sagt auch einer tagsüber zu seinem Kollegen: „Ich hab gehört, heute Abend soll auf dem Domplatz was los sein. Lass uns da mal hingehen.“ Dieses Hörensagen führt dazu, dass der Platz sich füllt, mit diverser und heterogener Teilnehmerschaft – querbeet von Familien, Müttern mit Kindern, bis hin zu Leuten aus der mittleren Generation. Aber es führt noch nicht dazu, dass die Leute auch durch die Straßen ziehen und „Widerstand“ rufen. Dazu braucht es protesterfahrene Akteure, die wissen, wie man eine solche Demonstration anmeldet oder eben auch nicht anmeldet. Leute, die Flugblätter, Megafone, professionelle Transparente mitbringen, die politisches Bewusstsein und Zielstrebigkeit haben, und die auch wissen, wie man eine Polizeikette beiseiteschiebt. Diese Leute kommen aus der rechtsextremen Szene.

ZEIT ONLINE: Bei den Pegida-Protesten wurde die Polizei noch von den Rednern bei jeder Gelegenheit als Verbündete gefeiert. Ist das jetzt anders?

Begrich: Es gibt bei den Aufmärschen den permanenten Appell an die Polizei, sich auf die Seite der Demonstrierenden zu stellen – „solange dafür noch Zeit ist“. Das ist die gleiche Rhetorik, wie wir sie 1989 erlebt haben. Dieses „solange dafür noch Zeit ist“ ist ja im Grunde eine Drohung. Ihr Subtext: Wenn wir an die Macht kommen, werdet ihr zur Rechenschaft gezogen. Die Überzeugung derjenigen, die auf die Straße gehen, ist ja tatsächlich, dass der Zeitpunkt dieses Umsturzes nicht mehr fern ist. Das ist eine politische Endzeiterwartung, wie wir sie schon bei Pegida erlebt haben.

ZEIT ONLINE: Aber nutzt sich das nicht irgendwann ab?

Begrich: Jein. Wenn man sich die Telegramkanäle dieser Leute wirklich komplett durchliest, sieht man nicht nur einen politischen Radikalisierungsverlauf, sondern auch, dass die Teilnehmer sich gegenseitig auch auf einer politisch-emotionalen Ebene unterstützen. Das schafft eine Atmosphäre der politischen Selbstwirksamkeit, ein Gefühl, gemeinsam etwas bewegen zu können. Wenn dieses Gefühl nicht mehr aktiviert werden kann, wird weiter eskaliert.

ZEIT ONLINE: Was ist denn die nächste Eskalationsstufe?

Begrich: Unter anderem, dass Protestler die vermeintlich Verantwortlichen für die gegenwärtige Situation konkret und persönlich in ihrem Lebensumfeld adressieren, wie wir es jetzt mit dem Fackelmarsch vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin gesehen haben. Wobei man nicht verschweigen darf, dass diese Stufe nicht erst seit vorletzter Woche erreicht ist. Viele Bürgermeister, Kommunalpolitiker und Landtagsabgeordnete werden seit langem bedroht und auch konkret in ihrem privaten Umfeld angegriffen. Es erzeugt natürlich mehr Empörung, wenn das einer Ministerin geschieht und nicht nur einem Ortsbürgermeister.

ZEIT ONLINE: Reagieren die Behörden adäquat darauf?

Begrich: Die Polizei hat immer noch große Schwierigkeiten, Leute einzuordnen, die nicht ihrem klassischen Feindbildraster entsprechen. Wenn Mülltonnen auf die Straße geschoben und angezündet werden, ist die Sachlage klar. Bei den derzeitigen Protesten aber laufen vorn rechtsextreme Hooligans, in der Mitte die Mitte Vierzigjährigen in bürgerlicher Kleidung und dahinter kommen dann die Muttis mit den zehnjährigen Kindern. Polizeiführer sind es gewohnt, nach Delinquenz Ausschau zu halten, nach Extremisten und nach Straftätern. Das Ergebnis ist oft, dass die Demonstranten trotz Verbots oft einfach erstmal laufen dürfen.

ZEIT ONLINE: Wie sollte die Polizei denn richtigerweise vorgehen?

Begrich: Man braucht nicht unbedingt Wasserwerfer, Schlagstöcke oder Pfefferspray, um diesen Leuten deutlich zu machen, wo die Grenzen liegen. Wenn sich eine Kundgebung entwickelt, dann muss die Polizei nicht warten, bis 3.500 Leute auf dem Platz sind, sondern könnte bei 300 Leuten abriegeln und durchsagen: Jetzt anderthalb Stunden Kundgebung und danach ist Ende, Platzverweis. Und bei denen, die als Gewalttäter und Rechte bekannt sind, kann die Polizei auch mal vor der Tür stehen, auf den Klingelknopf drücken und sagen: Schönen guten Abend, wir haben Erkenntnisse über Sie und Ihr Umfeld, reißen Sie sich mal ein bisschen zusammen. Das sind übliche Vorgehensweisen.

ZEIT ONLINE: Warum passiert so was nicht öfter? Fehlt es an Personal oder an Überzeugung?

Begrich: Das ist die Frage. Es betrifft die politische Führung und deren Entscheidung über die Grundlinie der Polizei. Denn da demonstrieren auch Wähler. Deshalb gab und gibt es in den Innenministerien diese Zurückhaltung. Und nun haben wir leider einen Multiplikationseffekt, der sich daraus ergibt, dass ja jede dieser Demonstrationen durchgefilmt und anschließend ins Netz gestellt wird und sich überall Leute denken: Was in Ort X geht, machen wir bei uns in Y auch.

„Die Teilnehmerzahlen sind nicht mehr unendlich steigerungsfähig“

ZEIT ONLINE: Das erinnert auch wieder an die Neunzigerjahre, als der Staat mit seinem laxen Vorgehen Neonazis zu ihrer Gewalt geradezu ermuntert hat. Ist so ein Effekt gerade wieder zu beobachten?

Begrich: Für die letzten Wochen würde ich das bejahen. Allerdings ist die Situation derzeit sehr dynamisch. Gut denkbar, dass gerade so etwas wie eine Plateauphase erreicht ist, die Teilnehmerzahlen sind nicht mehr unendlich steigerungsfähig. Wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass noch mehr Veranstaltungsorte hinzukommen. Dass sich also noch in weiteren Kleinstädten jeweils 150 Leute einfinden.

ZEIT ONLINE: Und die Gewalt? Wird irgendwann das erste Rathaus oder die erste Polizeiwache gestürmt?

Begrich: Das kommt zweifellos in der Fantasie der handelnden Akteure vor. Aber es müssen sich dafür Leute finden, die das dann auch machen. Die Schwierigkeit besteht darin, das Maulheldentum zu unterscheiden von denen, die dann wirklich die große Fensterscheibe vom Rathaus einschmeißen oder ein Impfzentrum angreifen. Das ist ein Problem für die, die es auf Eskalation anlegen, aber auch für die Sicherheitsbehörden. Jemanden, der den Ministerpräsidenten ermorden will, vermutete die Polizei bisher eher im Konspirativen. Nun aber haben wir eine extrem gewaltbereite und ebenso selbstbewusste Szene, die sich in halböffentlichen Kommunikationsstrukturen verabredet.

ZEIT ONLINE: Rührt dieses Selbstbewusstsein auch daher, dass der Widerspruch so leise ist?

Begrich: Ja, und dafür gibt es viele pandemiebedingte Ursachen. Man sollte allerdings auch die historische Abwanderung nicht vernachlässigen. Wer hat seit 1990 und davor dieses Land verlassen und wer ist hiergeblieben? Viele Leute meiner Generation sind gegangen und kommen dann zu Weihnachten hierher, gucken sich um und sagen: Aber hier leben? Nein, danke.

ZEIT ONLINE: Andererseits gibt es ja auch in Orten wie Zittau oder Bautzen doch schon so was wie eine einheimische Zivilgesellschaft, die sich jetzt zur Wehr setzt.

Begrich: Ja, aber ich glaube, die sind erst mal damit beschäftigt, ihre Sprache wiederzufinden. Anders als jene, die seit fünf Jahren fast ununterbrochen rumbrüllen. Die zahlreichen Aufrufe und offenen Briefe sind ja ein Hinweis, da bewegt sich etwas.

ZEIT ONLINE: Sehen Sie einen Weg raus aus dieser Eskalationsspirale?

Begrich: Was die Demos selbst angeht: Ja. Ein unterschätzter Faktor ist das Wetter. Es ist kalt und regnerisch, vielen wird es irgendwann einfach keinen Spaß mehr machen, anderthalb Stunden durch die Stadt zu laufen. Eine Rolle wird auch spielen, wie der weitere Verlauf der Pandemie ist. Wiederholt sich all das noch mal, was wir im letzten Winter auch erlebt haben, inklusive Schulschließungen?

ZEIT ONLINE: Danach sieht es ja gerade leider aus.

Begrich: Ja. Aber vergessen wir nicht: Auch im Osten geht bei weitem nicht die Mehrheit der Leute auf die Straße. Einige Kolleginnen haben das zusammengezählt: In der dieser Woche sind in ganz Sachsen-Anhalt nie mehr als rund fünfzehntausend Menschen auf die Straße gegangen. Insgesamt! Zum Vergleich: Zum 1. FC Magdeburg gehen in normalen Zeiten im Durchschnitt jede Woche 20.000 Leute. Diese rechten Mobilisierungen leben auch davon, dass jede Demo reproduziert wird, als sei sie eine Massenveranstaltung. Dabei sind bei den meisten Märschen nur zwischen 80 und 350 Leute dabei. Die extreme Rechte hat eine Meisterschaft darin entwickelt, zu behaupten, sie repräsentiere die Mehrheit.