Angriff an Tankstelle in Leipzig: Lok-Fan wegen Mordversuchs an Chemie-Anhänger vor Gericht
Im März griffen etwa 30 Lok-Fans acht Chemie-Anhänger in Böhlitz-Ehrenberg an. Ein damals 19-Jähriger ging besonders brutal vor und muss sich nun am Landgericht verantworten. Genau erinnern kann oder will er sich nicht.
Der Angriff dauert nur einige Sekunden. Louis W. tritt auch noch auf Elias W. ein, als dieser schon regungslos am Boden liegt. Das zeigt ein Video der Überwachungskamera am Tatort – einer Tankstelle in der Leipziger Straße. Das Landgericht Leipzig, vor dem sich W. nun wegen versuchten Mordes verantworten muss, hat die Aufnahmen beim Prozessauftakt am Freitag im Saal gezeigt.
Louis W. ist Fan des Fußballvereins 1. FC Lokomotive Leipzig, Elias W. soll Anhänger des rivalisierenden Clubs BSG Chemie sein. Hundertprozentig sicher weiß Louis W. das aber nicht, als er kurz nach Mitternacht auf ihn zustürmt, gibt er vor Gericht zu: An dessen Kleidung sei das nicht zu erkennen gewesen.
Der zum Tatzeitpunkt 19-jährige Angeklagte ist einer von etwa dreißig jungen Männern, die am 22. März 2025 auf acht BSG-Anhänger losgingen. Die Angegriffenen tragen psychische und schwere körperliche Schäden davon – einer verliert Teile seiner Schneidezähne. Die Angreifer sind allesamt Lok-Hooligans, die sich an diesem Abend scheinbar zu dieser Tat verabredet hatten. Die Tankstelle im Stadtteil Böhlitz-Ehrenberg gelte als beliebter Treffpunkt von Chemie-Fans, erklärte die Polizei im Zuge der Ermittlungen.
W. beschreibt die Anreise dorthin eher wie eine Schnitzeljagd: Zunächst sei ein Hinweis in der Fanszene kursiert, dass BSG-Fans im Vorfeld des Viertelfinales des Sachsenpokals am 23. März 2025 eine Aktion planen könnten. „Vor Derbys ist immer ein bisschen Action in der Stadt“, umschreibt es der 20-Jährige. „Es gab einen Aufruf, sich zu treffen. Es wusste keiner so richtig, was geplant war.“
„Los jetzt!“: Lok-Fans rannten zur Tankstelle
Seine Version des Abends klingt rätselhaft: Ein Freund sammelt ihn mit dem Auto ein. Bei einem Zwischenstopp müssen sie in Erfahrung bringen, wohin sie weiterfahren sollen. An der Tankstelle angekommen, befinden sich dort schon einige andere Menschen, viele vermummt. Sie tragen blaue und gelbe Sturmhauben, die Farben von Lok. Dann klatscht jemand in die Hände und ruft „Los jetzt!“. „Da ist die ganze Masse losgerannt“, schildert der Angeklagte. Hinterher habe er sich nicht wirklich an etwas erinnern können.
Vorher habe er an so einer Aktion noch nie teilgenommen, sagt W. – auf dem Video sieht man ihn auf dem Vorplatz der Tankstelle zwischen einem Aufsteller und einer Kühltruhe zutreten, mit brachialer Kraft. Ziel: Der Kopf von Elias W. – 18 Tritte zählt die Staatsanwaltschaft. Er wirkt wie besessen. „Ich war in meinem Film“, sagt er. Er tritt immer noch, als der Körper seines Opfers keine Bewegung mehr zeigt.
Irgendwann lässt er von W. ab, läuft in Richtung des Eingangs zur Tankstelle. Plötzlich scheint er nicht mehr zu wissen, wohin mit sich, schaut sich um, tritt nach einem Aufstellschild und kehrt dann nochmal zum am Boden liegenden Elias W. zurück. Scheinbar auf ein Signal hin, läuft der Pulk der Angreifer geschlossen davon.
Die Staatsanwaltschaft wirft Louis W. vor: Er habe für möglich gehalten, dass Elias W. da bereits tot oder lebensgefährlich verletzt war.
Angeklagter gibt Angriff auf Chemie-Fans zu
Im Kern gibt W. alle Vorwürfe zu, streitet aber ab, in einer Tötungsabsicht gehandelt zu haben. Er habe sicherlich 18 Mal zugetreten, allerdings nicht nur auf den Kopf, sondern auch den sonstigen Oberkörper, was entsprechende Verletzungen belegen würden. Die Entgleisung erklärt er damit, dass er sich durch die Gruppendynamik habe hinreißen lassen, er sei getrieben von Adrenalin gewesen. Andere der Lok-Fans aber halten sich auf dem Video sichtbar im Hintergrund, schauen zu, weichen zurück und laufen schlussendlich gemeinsam mit den anderen Tätern weg. Sie wirken teilweise verunsichert.
Im Inneren der Tankstelle, in welche sich der Großteil der BSG-Fans zurückgezogen hatte, prügeln die Lok-Hooligans die Anhänger des rivalisierenden Vereins nieder. Süßigkeiten-Aufsteller und PET-Flaschen gehen zu Boden, die Angreifer werfen auch Bierflaschen auf ihre Opfer. Einen jungen Mann treten sie an einer Kühltruhe nieder. Die insgesamt fünf Geschädigten tragen Schnitt- und Schürfwunden sowie Hämatome davon. Einige berichten danach von Angstzuständen und Schlafproblemen.
Auch den Täter selbst habe das Geschehen nicht kaltgelassen, wie er im Gericht seinen Anwalt vortragen lässt: Es sei ihm schlecht gegangen, er habe das Geschehene nicht verarbeiten können. „Ich hatte keinen, mit dem ich darüber sprechen konnte“, ergänzt er. Als er das Video später gesehen habe, sei er erschrocken über sich selbst gewesen.
Brief an den Geschädigten: „Lieber Elias“
Seit Mai 2025 saß er in Untersuchungshaft. Er habe Zeit zum Nachdenken gehabt. Erst drei Wochen vor dem Angriff hatte er schonmal vor Gericht gestanden, die verhängte Jugendstrafe sei aber wenig abschreckend gewesen. „Ich habe das auf die leichte Schulter genommen“, erklärte W. im Gericht. Die Haft habe ein Umdenken ausgelöst. Im September war er gegen Auflagen entlassen worden. Eine der Auflagen: das Fortsetzen seiner Ausbildung im Straßenbau. Sein Arbeitgeber hat den Vertrag verlängert – nächsten Sommer will W. die Ausbildung abschließen. Außerdem besuchte er regelmäßig die Jugendhilfe für Gespräche.
Kurz vor Prozessbeginn schreibt er seinem Opfer Elias W., der sich dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen hat, einen Entschuldigungsbrief. „Lieber Elias, ich weiß, dass Worte niemals gut machen werden, was ich dir angetan habe“, schreibt er. „Ich habe dir etwas genommen, was ich dir nie wieder geben kann: Dein Sicherheitsgefühl und vielleicht ein Stück des inneren Friedens.“ Neben 10.000 Euro Schmerzensgeld bietet Louis W. ihm auch ein persönliches Gespräch an. Zum Prozessauftakt ist der Geschädigte ferngeblieben.
Die angegriffenen Fans sollen im nächsten Termin am 11. November gehört werden. Für Nebenkläger Elias W. hatte seine Rechtsanwältin allerdings bereits die Videovernehmung beantragt. Es sind noch insgesamt vier Termine angesetzt. Wegen des Geständnisses könnte das Verfahren jedoch etwas knapper ausfallen.
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Frank Döring
04.11.2025
Angriff auf Chemie-Fans in Leipzig: 20-Jähriger wegen versuchten Mordes vor Gericht
Im Frühjahr griffen etwa 30 Anhänger des 1. FC Lokomotive Leipzig rivalisierende Chemie-Fans an. Die Attacken waren derart brutal, dass einer von ihnen in dieser Woche sogar wegen versuchten Mordes vor Gericht steht.
Es war offenbar ein gezielter Angriff und eine Machtdemonstration: Am 22. März dieses Jahres sollen rund 30 Anhänger des 1. FC Lokomotive Leipzig etwa acht Fans der rivalisierenden BSG Chemie brutal attackiert haben. An diesem Freitag beginnt der Prozess gegen einen der mutmaßlichen Angreifer. Wie das Landgericht vorab mitteilte, legt die Staatsanwaltschaft dem 20-Jährigen mittlerweile sogar versuchten Mord zur Last.
Mindestens elf Angreifer skandierten „Lok“
Die Anklage offenbart weitere Details des Gewaltexzesses im Frühjahr in Böhlitz-Ehrenberg. Demnach versammelten sich die Lok-Fans kurz nach Mitternacht, um sich zu einer Tankstelle in der Leipziger Straße zu begeben. Hier treffen sich regelmäßig Chemie-Anhänger. Auch in jener Nacht war das der Fall. Die Lok-Gruppierung habe den Angriff geplant, um ihre Überlegenheit deutlich zu machen und Dominanz auszustrahlen, heißt es. Hintergrund war wahrscheinlich das bevorstehende Sachsenpokal-Spiel zwischen beiden Mannschaften am 23. März.
Mindestens elf Angreifer seien dann über ihre Kontrahenten hergefallen, erst vor der Tankstelle, später dann auch im Verkaufsraum, wohin die Opfer geflohen waren. Ihre Komplizen sollen die Attacken abgesichert und auch schon die Flucht vorbereitet haben, so die Anklagebehörde. Während der Tat sollen die Schläger immer wieder „Lok“ skandiert haben, berichtete damals die Polizei. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass mindestens fünf Chemie-Anhänger zu Boden gebracht und misshandelt wurden. Sie erlitten hauptsächlich Schnitt- und Schürfwunden, verloren auch mehrere Zähne. Der Anklage zufolge seien zudem psychische Folgen zu beklagen.
19 Tritte gegen den Kopf des liegenden Opfers
Besonders brutal soll der damals 19-jährige Louis W. vorgegangen sein, dessen Prozess am Freitag beginnt. Der Angeklagte habe einem der hilflos am Boden liegenden Opfer (18) unter anderem 19 Fußtritte gegen den Kopf versetzt, so die Staatsanwaltschaft. Auch wenn der Chemie-Fan nicht lebensbedrohlich verletzt wurde: Der Anklagevorwurf lautet versuchter Mord aus niedrigen Beweggründen sowie Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung.
Nach dem Angriff in Böhlitz-Ehrenberg hatte die Polizei fünf Tatverdächtige zwischen 19 und 22 Jahren gefasst, darunter eine junge Frau. Danach war aufgrund der Schwere des Vorfalls eine Ermittlungsgruppe gegründet worden, die sich auch um die Identifizierung der teilweise vermummten Täter kümmerte. Im Mai durchsuchte die Polizei dann die Wohnungen von 29 Tatverdächtigen. Die Razzia stand hauptsächlich mit dem Zwischenfall an der Tankstelle im Zusammenhang.
Der Hauptverdächtige kam in Untersuchungshaft, damals noch wegen versuchten Totschlags. Für den Prozess gegen ihn hat die 3. Strafkammer insgesamt fünf Verhandlungstage bis Mitte Dezember geplant.